Die Fotoausstellung »Shoot!« in Berlin

Schieß doch!

Es wird geschossen: auf dem Jahrmarkt, im Western oder per Mausklick. Auch die Kunstszene hat das Thema jetzt entdeckt.

Sie haben es alle getan. Sie haben sich alle Fotos geschossen, und das ganz sprichwörtlich: Federico Fellini, Gilles Deleuze, Jean Cocteau, Jean-Paul Sartre, François Truffaut und noch viele weitere Denker und Künstler, Leute, die man sich nicht unbedingt als begeisterte Rummelplatzbesucher vorgestellt hätte. Doch in der grandiosen Berliner Fotoausstellung »Shoot!« sieht man all diese Geistesgrößen des 20. Jahrhunderts, wie sie an einer Schießbude ein Luftgewehr anlegen. Keine Rose für das Knopfloch ihrer Begleiterin haben sie dabei geschossen, sondern ein Porträt von sich selbst. Ein Porträt von sich selbst, das zeigt, wie sie gerade dabei sind, ein Porträt von sich selbst zu schießen.
Nach dem Ersten Weltkrieg kamen auf europäischen Jahrmärkten die ersten Fotoschießstände auf. Heute spielen diese Buden kaum mehr eine Rolle, obwohl es sie vereinzelt immer noch gibt. In der Ausstellung »Shoot!« hat man praktischerweise einen Schießstand aufgebaut, an dem man sich selbst ein Foto schießen kann. Man hat drei Schuss, trifft man mitten in den kleinen Kreis der Zielscheibe, wird per Selbstauslöser ein Foto vom Schützen geschossen und sofort entwickelt. Diese Fotos ähneln Schnappschüssen, wie sie auf Partys entstehen: Der Fotografierte schaut komisch drein, und irgendein Unbeteiligter stapft gerade durchs Bild. Jeder Schütze, egal ob Cocteau oder man selbst, hat auf so einem Schießbuden-Foto einen seltsam verkniffenen Gesichtsausdruck, so einen John-Wayne-Blick. Man sieht nicht lächerlich aus, sondern wie ein Westernheld im Kino. Aber um den Schützen herum stehen immer irgendwelche Gaffer, die zufällig mit auf dem Bild gelandet sind und die die filmische Inszenierung seltsam brechen. Man sieht auf den Fotos Menschen, die gespannt glotzen, ob der Schütze nun trifft oder nicht, aber auch solche, die sich gerade in der Nase bohren.
Es ist kein Wunder, dass diese Form von Alltagsfotografie gerade im großen Stil von der Kunstwelt entdeckt wird. Eine vergessene Welt mit Bezügen zur Pop-Art wird da ausgegraben. Die Schießbudenfotografie erscheint retrospektiv wie eine Art Konzeptkunst. In Serie sieht man immer dasselbe Motiv, und doch ist der Bildaufbau immer wieder ein anderer. Manche dieser Bilder wirken wie von einer unsichtbaren Hand gestaltete Kompositionen und doch gleichzeitig immer auch zufällig. So lässt diese kuriose Technik des Fotografierens das Alltägliche als Spektakel erscheinen und nimmt damit einiges von der Stellung der Fotografie in der visuellen Kultur der Gegenwart vorweg, was ein weiterer spannender Aspekt der Schieß­budenfotografie ist.
Ein großer Glücksfall für die Ausstellung »Shoot!« ist die zu Recht gefeierte Serie von Ria van Dijk, die eindrucksvoll belegt, dass mitunter die beste Konzeptkunst von Leuten stammt, die beim Erschaffen ihres Werks nicht im entferntesten an Kunst gedacht haben. Ria van Dijk ist nicht einmal Fotografin, sie ist Jahrmarktschützin. Und Sammlerin ihrer Trophäen, der Fotos. Heute ist ihre Serie mit Selbstporträts trotzdem weltberühmt. Mit 16 Jahren hat die Holländerin ihr erstes Bild geschossen, im Jahr 1936. Seitdem ist jedes Jahr auf dem Rummel ein weiteres Foto dazugekommen. Heute ist die Dame über 90 Jahre alt, und immer noch legt sie auf den Jahrmärkten an. Auf den Bildern sieht man, wie Ria van Dijk mit den Jahren immer dicker und älter wurde, und an den ­herumstehenden Menschen erkennt man, wie sich über die Jahre hinweg die Mode und die Frisuren wandelten. Zweiter Weltkrieg, die Hippie-Ära, die Achtziger, alles kam und ging, aber Ria van Dijk hatte beim Fotoschießen all die Jahre immer ihren lässigen Schützenblick. Der Blick ist die einzige Konstante auf all diesen Bildern.
Mit welcher Leichtigkeit »Shoot!« einen Diskurs über die Bedeutung und die Funktionsweise des »Fotoschießens« führt und die Wechselwirkung von Subjekt und Objekt in der Fotografie thematisiert, ist bewundernswert. Im letzten Teil der Ausstellung wird auf das Schießen und seine Bedeutung in der Kunst eingegangen. Etwa am Beispiel Niki de Saint Phalles, die sich ihre Bilder ja teilweise tatsächlich »erschossen« hat. Aber vor allem in der bemerkenswerten Arbeit des Musikers und Mash-Up-Künstlers Christian Marclay. Bei dieser stellt man sich in die Mitte eines Raumes und wird von virtuos geschnittenen Schießszenen aus Spielfilmen auf vier Leinwänden gleichzeitig penetriert. Marclay hat zig Ausschnitte aus Ballerfilmen gesampelt und akustisch und visuell schlüssig collagiert. Er hat die Szenen aus Western und Hongkong-Filmen zu einer virtuosen Orgie der Gewalt kompiliert, die die eindrucksvollsten Schießballette in den Filmen von John Woo oder Sam Peckinpah übertrifft. Minutenlang kann man sich hier von allen Seiten beschießen lassen, was einen 3-D-Effekt hat, und zwar ohne dass man sich eine dieser idiotischen Brillen aufsetzen muss.
Die Bilder der Schießbudenschützen wirken im Vergleich zu der Massenschießerei bei Marclay plötzlich noch unschuldiger. Sie stammen aus einer Zeit, in der man fürs Foto noch den Sonntagsanzug aus dem Schrank geholt hat.

»Shoot!« C/O Berlin. Bis 27.März