Der Krieg in Libyen und die antiimperialistische Linke

Linke Neusortierung

Der Krieg in Libyen hat die linken Koor­dinaten durcheinandergebracht. Die antiimperialistische Bewegung kann ihre ­Widersprüche nicht mehr negieren.

Die Friedensbewegung und die Partei »Die Linke« scheinen an einem Strang mit dem isolationistischen Außenminister Deutschlands, Guido Westerwelle, zu ziehen, und der israelische Friedensaktivist Uri Avnery, dessen Texte bislang gerne in der antiimperialistischen Jungen Welt publiziert wurden, argumentiert nun in der Taz fast wie Daniel Cohn-Bendit. Man müsse unmittelbar den libyschen Rebellen zu Hilfe kommen, auch 1936 hätte die Welt die anti-franquistischen Kräfte unterstützen müssen. Zögerliche völkerrechtliche Erwägungen und das Diktum der Nichteinmischung seien unverantwortliches Beiseitestehen. Es prasseln mal wieder »Lehren aus der Vergangenheit« und Faschismusvergleiche. Die Welt steht Kopf, die Linke sortiert sich im Kriegsfall mal wieder neu.

Die antiimperialistische Linke hat ein großes Problem: Spätestens seit Anfang des 21. Jahrhunderts kann Muammar al-Gaddafi mit seiner Rolle des Wächters über die Flüchtlingsbewegungen, seiner wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Kooperation mit Italien und Frankreich und seinen Erdölgeschäften mit westlichen Staaten wohl kaum als »objektiver Antiimperialist« verkauft werden. Das glaubt auch der verblendetste Antiimperialist nicht mehr, der vielleicht generationenbedingt noch die von US-Präsident Ronald Reagan angeordnete Bombardierung von Tripolis 1986 vor Augen hat.
Doch was der antiimperialistischen Position offenkundig fehlt, sind nach dem Wegfall der Koordinaten des Kalten Kriegs und der Dritte-Welt- oder Dreiwelten-Ideologie die Bezugspunkte und Kriterien. Die stalinistische Junge Welt schnitzt sich die arabische Revolte einfach so hin, wie sie will. Autor Werner Pirker etwa spricht einfühlsam von einer antiwestlichen »Gefühlslage der Dritte-Welt-Menschen«, was jedoch vermutlich vielmehr der eigenen entspricht. Wo diese »Gefühlslage« augenscheinlich nicht vorhanden ist, will man die Revolten gerade auf das verpflichten, was ihnen sympathischerweise mehrheitlich fehlt: eben die antiimperialistische Ideologie.
Aber das Ende der antiimperialistischen Ideologie bedeutet noch nicht, dass auch das Ende des notorischen Hasses auf Israel gekommen ist. Zuweilen wurde der säkulare Antiimperialismus schlicht durch eine religiöse Ideologie ersetzt. Und diese ist mit einem islamisierten Antisemitismus verbunden, dessen »Israel-Kritik« sich längst vom Konflikt um Palästina gelöst und verselbständigt hat. In zu großes Triumphgeheul über das Ende des säkularen Antiimperialismus sollten an Fortschritt und Emanzipation Interessierte also nicht ausbrechen.

Der marxistische Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein spricht von einer tiefen Spaltung der Weltlinken angesichts der Situation in Libyen. Tatsächlich kann man über die Unterstützung, die Gaddafi durch Venezuelas Westentaschendiktator Hugo Chávez erfährt, nur den Kopf schütteln. Auf der anderen Seite stehen Aussagen wie diejenige des Abgeordneten der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas, Adel El Zabayar, dass Gaddafi schon lange kein Antiimperialist mehr sei und praktisch die gesamte Erdölproduktion in die Hände transnationaler Unternehmen gelegt habe. Er führte weiter aus, dass der libysche Diktator auf Proteste mit einem »Massaker« antworte. Und die dem linken Flügel der Bolivarischen Bewegung zuzurechnende »Marea Socialista« (Sozialistische Strömung) erklärte ihre »kategorische Solidarität mit der libyschen Bevölkerung«. Gaddafi habe sich von einem Unabhängigkeitshelden zu einem »kapitalistischen Diktator und Partner der EU« entwickelt. Dies sei als Gegenbeweis angeführt zu Stimmen, die meinen, die globale Linke sei restlos verblödet und nehme durch die Bank eine Pro-Gaddafi-Position ein. Auch global sortiert sich die Linke angesichts der arabischen Aufstände neu. Auf der einen Seite stehen die Souveränisten und auf der anderen Seite diejenigen, die an dem Recht zum Aufbegehren und zur Rebellion in herrschaftlichen Verhältnissen festhalten.

Bei den pro-westlichen Interventionsbefürwortern hat sich der Hinweis auf den Spanischen Bürgerkrieg verselbständigt, so auch in einem Aufruf von Bernard-Henry Lévy, Jane Birkin, André Glucksmann und Claude Lanzmann zur Intervention in Libyen: »Wir sind weder Militärexperten noch Berufsdiplomaten. In wessen Namen rufen wir SOS? Im Namen der Erinnerung. Als die Naziflugzeuge und die spanischen Faschisten am 26. April 1937 die Einwohner von Guernica bombardierten, hat die zivilisierte Welt es geschehen lassen. Picasso hat den Horror gemalt, er wurde erst acht Jahre später verstanden. Noch heute haben die Meuchelmörder stets einen Schritt Vorsprung vor der Weltöffentlichkeit.«
Und weil sie so argumentieren, haben sie auch kein Problem damit, wenn diesmal das kriegführende Frankreich oder die Nato einen Schritt Vorsprung hat. Sie führen die Verhinderung zukünftiger Massaker als Argument der militärischen Intervention an. Andere, wie der linksliberale Publizist Rudolf Walther, halten genauso kategorisch dagegen, dass Gaddafis Herrschaft sich nicht in erster Linie auf Staatsterror, sondern auf erkaufte Erduldung und Zustimmung gründet. Demnach, so Walthers Argument, drohte auch zu keiner Zeit ein Völkermord in Libyen. Stattdessen bedeute der Krieg der Nato mal wieder einen Völkerrechtsbruch.
Ob Walther oder Glucksmann, bei ihnen wundert man sich über das scheinbar profunde und abgesicherte Wissen, das ihren kategorischen Urteilen zu Grunde liegt. Denn eigentlich können sie beide nicht wissen, ob ein Völkermord im Osten Libyens gedroht hat. Die Anrufung des drohenden Völkermords ist genauso wie das Festhalten am Völkerrecht immer davon bedroht, ent­weder extrem moralisch oder extrem formell vorgetragen zu werden. Das scheinbar gesicherte Wissen besteht in der Behauptung eines drohenden Völkermords, den man dem jeweilig pathologisierten Diktator zutraut, wie bei dem »Irren von Bagdad« (Saddam Hussein), dem »neuen Hitler« (Slobodan Milosevic) oder nun eben Gaddafi.
Oder das Wissen wird zum Rechtsdogma, zu einem prinzipiellen Souveränismus, der staatsverliebt jegliche innere Einmischung ablehnt. Beide Haltungen eint jedoch, dass die Protagonisten als Staatsintellektuelle auftreten und eine dementsprechende Perspektive einnehmen. Eine Linke, die doch in Kategorien von materiellen Interessen denken und argumentieren sollte, müsste stattdessen als universeller Kritiker des kapitalistischen Weltsystems und seiner politischen Ordnung erhellen, warum beispielsweise eine Intervention in Ruanda eben nicht erfolgte, warum sie nun in Libyen – interessanterweise gerade mit der Zustimmung und auf Druck der Arabischen Liga – erfolgt, aber die Herrschaft beispielsweise in Bahrain oder Saudi-Arabien von westlicher Seite unangetastet bleiben wird.

Rebellion ist gerechtfertigt! In Hinblick auf Libyen ist das die Mainstream-Haltung. So recht will kaum jemand wissen, was die Ost-Rebellen genau wollen, welche Perspektive sie mit ihrem Aufstand gegen Gaddafi verbinden. Einer ähnlich positiven Berichterstattung konnte sich fast nur die kosovarische UCK 1999 erfreuen. Richtig ist sicherlich, dass eine Niederschlagung der Bewegung der Rebellen des Ostens durch Gaddafi insgesamt negative Auswirkungen auf die gesamte Aufstandsbewegung in der arabischen Welt hätte. Trotzkisten halten es als treue Leninisten mit dem »Selbstbestimmungsrecht der Völker« – einige Vertreter des Trotzkismus waren so Mitte der neunziger Jahre für eine Waffenlieferung an Milizen in von serbischen Einheiten bedrängten bosnischen Städten; der Vorschlag wurde nun von einigen dieser Gruppen und Parteien in Hinblick auf die libyschen Rebellen erhoben. Doch mulmig müsste es dabei jedem halbwegs informierten Zeitgenossen trotzdem werden, nicht nur, weil exakt dies zwischenzeitlich auch von der Nato erwogen wurde, sondern aufgrund der schlichten Frage, in welche Hände diese Waffen eigentlich geraten.
Militärische Unerfahrenheit verbindet die Rebellen in Libyen mit den anti-franquistischen Milizen von 1936, auch dass der Herrscher auf schwarze, marokkanische Soldaten zurückgreift, erweckt Assoziationen zum spanischen Bürgerkrieg. Aber die Rebellenhaufen in Libyen ähneln bloß oberflächlich den spanischen Milizkämpfern. Nicht »Land and Freedom« ist die Parole, sondern »Gott ist groß«. Eine internationalistisch-marxistische Poum oder anarchistischen Milizen gleichende Gruppierungen wird man in Libyen vergeblich suchen. Da ist die Staatsstiftung Wissenschaft und Politik in der Expertise zu »Libyen nach Gaddafi« wohl schon besser informiert: Die Handelnden haben überhaupt keine konkreten politischen Vorstellungen für das künftige politische System, es geht schlicht um die Neuverteilung der Ressourcen, um Positionen im Staatsapparat und in der Regierung, um die Staatseinnahmen aus dem Erdölsektor.
Am Anfang des Aufbegehrens in Libyen stand zwar wie in Ägypten, Tunesien und Syrien auch die Jugend. Doch die Revolte in Libyen hat sich schnell militarisiert, dies wurde ihr sicherlich aufgezwungen – durch die Unerbittlichkeit Gaddafis, durch die schnelle Okkupation der Revolte durch Ex-Gaddafi-Getreue und tribale Bandenführer, aber auch durch die Schwäche einer Opposition, die eben die soziale Waffe der Streiks etc. aufgrund fehlender Proletarisierung durch das bloße Geballere ersetzt. In den Revolten in Tunesien konnte sich eine Gewerkschaftsbewegung neu formieren, in Ägypten erhoben sich unmittelbar vor dem Abdanken Mubaraks die Textilarbeiter und andere Arbeiter und Arbeiterinnen. Es ist gerade das Fehlen von sozialen Auseinandersetzungen entlang von Klassenfragen, das Fehlen von Streiks und von gewerkschaftlicher Selbstorganisation, das in Libyen auffällt. Unter Gaddafis Herrschaft konnten sich solche Strukturen nicht bilden. Die Nato-Koalition, die nun gegen Gaddafis Truppen kämpft, hat lange Zeit diese Herrschaft gestützt und wird auch in Zukunft kein Interesse an aufmüpfigen und ihre Interessen verfolgenden Libyern haben. Und in der libyschen Revolte droht das Neue, das Aufbegehren und die Selbstorganisation, vom Militarismus und den Stammesstrukturen erdrückt zu werden.