Über das Urteil gegen Iwan Demjanjuk

Beihilfe in der Mordmaschinerie

Vor dem Landgericht München endete der Prozess gegen Iwan Demjanjuk, den Wachmann im Vernichtungslager Sobibor.

Am 6. und 7. Juni 1943 ließen die Nationalsozialisten zwei Züge mit jüdischen Kindern aus dem niederländischen Lager Vught über das »Durchgangslager« Westerbork ins ostpolnische Sobibor fahren. 3 030 Jüdinnen und Juden, unter ihnen 1 269 Kinder, wurden dort am 11. Juni 1943 in den Gaskammern des Vernichtungslagers ermordet. In dem am vergangenen Freitag gesprochenen Urteil gegen Iwan Demjanjuk, den Wachmann in Sobibor, verhängte das Landgericht München für die Morde an den Deportierten des sogenannten Kindertransports eine Einzelstrafe von vier Jahren und drei Monaten. Am Ende wurde Demjanjuk zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die Gesamtstrafe beinhaltet auch die Beihilfe zum Mord an 28 060 von insgesamt 29 779 Deportierten, die während seiner Dienstzeit in 15 Transporten aus dem niederländischen Lager Westerbork und in einem Transport aus dem polnischen Izbica eingetroffen waren. Da angesichts der verhängten Strafe eine über die zwei Jahre hinausgehende Untersuchungshaft »nicht verhältnismäßig« sei, setzte das Landgericht Demjanjuk in Anschluss an die Urteilsverkündung auf freien Fuß. Marvin Hier vom Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles nannte diese Entscheidung »eine Beleidigung der Opfer und Überlebenden«. Beleidigungen der Opfer waren an den 93 Verhandlungstagen ohnehin nicht selten. Demjanjuks Verteidiger Ulrich Busch sah eine »Verschwörung« am Werk und versuchte seinen Mandanten in einer antisemitischen Umkehr der Rolle von Täter und Opfer als »Sündenbock« rachsüchtiger Überlebender darzustellen. Demonstrativ legte Busch das Buch »Der Fall Demjanjuk« des rechtsextremen Publizisten Hans-Peter Rullmann vor sich auf den Tisch, das im Verlag für ganzheitliche Forschung erschienen ist, der auch Werke des Holocaustleugners David Irving im Programm führt.

Einige Medien wiederholten trotz der eindeutigen Faktenlage die Behauptung, nach so langer Zeit seien die Geschehnisse in Sobibor nicht mehr aufzuklären. Im Münchner Verfahren ging es jedoch nicht um den Nachweis einzelner Morde oder um Demjanjuks individuelle Tatbeteiligung. Eine solche Rechtspraxis hatte in den vergangenen 30 Jahren die Strafverfolgung von KZ-Personal gerade verhindert. Erstmals nach Jahrzehnten wurde stattdessen nun wieder die Möglichkeit genutzt, einen Beteiligten der Mordmaschinerie mittels des Beihilfe-Paragraphen anzuklagen. Iwan Demjanjuk war nach Überzeugung des Gerichts von März bis September 1943 am Vernichtungsprozess in Sobibor beteiligt. Dieses Geschehen ist nicht zuletzt durch die Veröffentlichungen des Sobibor-Überlebenden Jules Schelvis dokumentiert, der im Münchner Prozess als Nebenkläger auftrat. Kam ein Transport deportierter Jüdinnen und Juden im Lager an, verhinderten die »Trawnikis« – oft aus der Ukraine rekrutierte Hilfswillige, zu denen auch Demjanjuk gehörte –, etwaige Fluchtversuche durch Misshandlungen. Sie trieben die Menschen mit Stöcken und Schusswaffen zu den Gaskammern und bewachten die jüdischen »Funktionshäftlinge«. Demjanjuk hat nicht zu fliehen versucht, obwohl er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Der Grund dafür könnte gewesen sein, dass er den eliminatorischen Antisemitismus der Nazis teilte. Inzwischen haben die Münchener Staatsanwaltschaft und die Verteidiger Demjanjuks gegen das Urteil Revision eingelegt.

In keinem Prozess wegen NS-Verbrechen ist in der Vergangenheit so vielen Überlebenden und Angehörigen von Opfern Platz eingeräumt worden. Die niederländische Stichting Sobibor, eine Stiftung, die sich der Erinnerung an das Vernichtungslager widmet, wurde in München durch den Rechtsanwalt Manuel Bloch vertreten. Er fasste die Bedeutung der Aussagen der Nebenkläger und Nebenklägerinnen mit einem Zitat Theodor W. Adornos zusammen: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet.« Das Verfahren gegen Demjanjuk hat insofern weniger die Grenzen der späten Strafverfolgung von NS-Verbrechern aufgezeigt als die Möglichkeit bewiesen, weitere Täter vor Gericht zu bringen. Der Nebenkläger Rob Fransman verlor in Sobibor beide Eltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Nach dem Urteil sagte er: »Die deutschen Gerichte haben noch eine große Aufgabe – in den Altersheimen gibt es noch Hunderte Demjanjuks«.