Über die Gewalt des Militärs in Kolumbien

Zum Abschuss freigegeben

Kolumbianische Menschenrechtsanwälte dokumentierten in den vergangenen fünf Jahren über 3 000 Morde an Zivilisten, die von Angehörigen der Armee verübt wurden. Die Ermordeten wurden zu im Kampf erschossenen Guerilleros erklärt. In Wahrheit handelte es sich jedoch um Bauern und Jugendliche aus den Armenvierteln der großen Städte. An deren Tod verdienen die Soldaten, denn für jeden getöteten Rebellen gibt es Prämien.

»Ich kann mich noch genau erinnern. Es war am 23. Oktober 2006, als meine Mutter mich mittags bei der Arbeit anrief. Erst versuchte ich, sie auf später zu vertrösten. Dann begriff ich, dass etwas passiert war, und ließ sie reden«, sagt José Alexander Castro mit bitterer Miene. Dabei muss am Gesicht des 34jährigen gut ablesbar gewesen sein, was in ihm vorging, denn sein Chef, der im gleichen Raum arbeitete, gewährte ihm sofort Urlaub und den nötigen Vorschuss, damit Castro in sein Heimatdorf fahren zu konnte.
»Am späten Nachmittag, gegen 18 Uhr, kam ich dann in La Concha an und fuhr sofort mit meiner Mutter und meinem Cousin zur Polizei«, erzählt Castro mit fester Stimme. Dort erstattete er Anzeige: Sein Bruder und sein Onkel waren von Angehörigen der Armee entführt worden. Die beiden Männer waren am Morgen mit vorgehaltener Waffe von einem zwölfköpfigen Kommando vor Zeugen verschleppt worden. »Wenig später entdeckte ein Nachbar mehrere große Blutlachen auf der Straße. Daraufhin rief mich meine Mutter an.« Die Polizei nahm die Anzeige auf und rief daraufhin im Militärstützpunkt an. Wenig später hatte die Familie Gewissheit.
»Uns wurde bestellt, dass wir die beiden Leichen am nächsten Morgen gegen neun Uhr abholen könnten«, erinnert sich Castro und schüttelt den Kopf. Er klopfte am nächsten Morgen um neun Uhr ans Tor des Stützpunkts. »Da erklärte mir der wachhabende Offizier, Capitán Marcos Salva, dass mein Bruder Humberto und mein Onkel John im Gefecht erschossen worden seien. Das ist eine dreiste Lüge, die beiden waren einfache Bauern, und sie wurden kaltblütig ermordet.« Castro forderte die Staatsanwaltschaft auf, den Fall zu untersuchen, erstattete Anzeige bei der lokalen Verwaltung und protestierte gegen die Darstellung der Militärs.

Die Geschichte von José Alexander Castro ist in Kolumbien kein Einzelfall. Seit einigen Jahren steigt die Zahl der von Menschenrechtsorganisationen und Anwälten dokumentierten Morde, die von Angehörigen des Militärs verübt wurden, stetig an. »Derzeit sind rund 3 000 Fälle im ganzen Land dokumentiert. Doch die Dunkelziffer ist hoch«, sagt der Menschenrechtsanwalt Bayron Góngora Arango von der in Medellín ansässigen Corporación Jurídica Libertad. Die Kanzlei hat sich auf Menschenrechtsverletzungen spezialisiert und steht den Opfern und Angehörigen zur Seite. Góngora, der schon während des Studiums mit der Menschenrechtsarbeit begann, hat derzeit 80 Fälle von falsos positivos auf seinem Schreibtisch liegen. »So werden die Zivilisten genannt, die von der Armee entführt, ermordet und dann der Öffentlichkeit als vermeintliche Guerilleros präsentiert werden. Oft handelt es sich um einfache Bauern, oft aber auch um Jugendliche aus Armenvierteln, deren Verschwinden nicht unbedingt sofort auffällt«, sagt der 39jährige Anwalt. Im juristischen Fachjargon werden die Fälle als »extralegale Hinrichtungen« bezeichnet. Der Fall von Humberto León Pulgarín Castro, dem Halbbruder von José Alexander, und dessen Onkel John Navarro Martínez ist alles andere als untypisch. »Hier in Medellín sind wir bereits 2002 auf die ersten Fälle gestoßen, als Familien berichteten, dass Angehörige von der Armee mitgenommen wurden und ein paar Tage später irgendwo tot wieder auftauchten. Es waren zumeist Bauern.«
Medellín ist die größte Stadt im Verwaltungsdistrikt Antioquia, der nördlich von Bogotá liegt. Die meisten falsos positivos wurden im Distrikt Meta registriert. So geht es aus den Berichten von Menschenrechtsorganisationen hervor. »Diese Morde dienen allein dem Zweck, die Statistiken der Truppe besser aussehen zu lassen«, sagt Góngora, dessen Büro sich in einem alten Hochhaus im Zentrum von Medellín befindet.
Positivos nennen die Militärs die im Kampf getöteten Rebellen der beiden Guerillaorganisationen Farc und ELN. Als »falscher Positiver« wird hingegen ein Zivilist bezeichnet, der ermordet und als Rebell deklariert wird, um der Truppe zusätzliche Erfolgsmeldungen zu bringen. Die Toten bringen den Soldaten zudem Prämien. So legt die einst geheime Direktive 029 vom November 2005 fest, wie viel ein Gefallener wert ist: Für einen Comandante, einen Guerillaführer, gibt es bis zu zwei Millionen Euro, für einen einfachen Kämpfer etwa 1 500. Das machten sich mehrere Einheiten zunutze, und wie perfide die Strukturen in Antioquia waren, ist in einer detaillierten Darstellung von Edgar Iván Florez Maestre, dem ehemaligen Leutnant der XIV. Brigade, nachzulesen. »Er beschreibt das Vorgehen des Militärs in den Fällen von falsos positivos«, sagt Góngora. Etwa, was es die Soldaten kostet, wenn sie einen Toten mit einem Revolver, einer Granate oder einem Gewehr ausstatten und der Leiche eine Uniformjacke überstreifen. Die dazu nötigen Utensilien wurden als kit de legalización bezeichnet, als »Legalisierungspaket«. Auch wie das »Rekrutieren zukünftiger Toter« funktioniert, wird detailliert beschrieben. Maestre machte seine Aussage im Dezember 2009, damals hat man in der Truppe solche Fälle noch als »Legalisierungen« bezeichnet.

»Legalisiert« wurden auch die Verwandten von José Alexander Castro, allerdings ausgesprochen liederlich. »An der Leiche meines Bruders wurden ein paar Granaten gefunden, meinem Onkel wurde ein Revolver in den Gürtel geschoben. Beide waren jedoch in Zivil und hatten keine Uhren, keine Mobiltelefone und keine Portemonnaies mehr bei sich, als die Leichen gefunden wurden.« Auch die Tatsache, dass Castros Onkel der Schädel eingeschlagen wurde und dass beide Leichen Zeichen von Folter aufwiesen, spricht gegen die Angaben des Armeekommandos, die beiden Männer seien im Gefecht erschossen worden. Ein weiterer Widerspruch ist die Tatsache, dass mehrere Zeugen in La Concha bestätigen, die beiden Bauern seien von dem Armeekommando lebend abgeführt worden. Fakten, die sich in der Akte von Bayron Góngora wiederfinden. Der ist nicht wie sonst durch einen Zufall oder eine Menschenrechtsorganisation auf den Fall aufmerksam geworden, sondern bekam vor einem guten Jahr eine E-Mail von José Castro. »Nachdem ich insgesamt drei Anwälte mit der Aufklärung der beiden Morde betraut hatte und trotzdem wie von einer Gummiwand zurückprallte und nicht weiter kam, habe ich die Dokumente gesammelt und bin in dieses Büro gekommen«, sagt Castro lächelnd. Er ist zufrieden mit seiner Entscheidung, denn von Góngora fühlt er sich ernst genommen und unterstützt in seinem Kampf für Gerechtigkeit. Dieser Kampf hat ihn längst zur Opferorganisation Movice geführt, die jedes Jahr am 6. März der Opfer politischer Gewalt in Kolumbien gedenkt. Bei der Veranstaltung in Medellín stand er auf der Bühne, er hielt eine Rede, und anschließend, so wie viele andere auch, hielt er die Fotos seiner ermordeten Angehörigen in die Kameras.
Dieses Engagement ist für Castro nicht ungefährlich. Er ist bereits bedroht worden. Eine Freundin hat ein Foto von ihm mit der Unterschrift »Guerillero« auf einer Polizeiwache in der kleinen Stadt Santo Domingo, unweit seines Heimatdorfes, gesehen. Auch seine Mutter hat längst die Region verlassen, sie lebt nun in Medellín und gehört nun zu den mindestens vier Millionen Vertriebenen in Kolumbien.

Das ist nichts Ungewöhnliches, wie auch das Beispiel von Blanca Lydia Siguientes zeigt. Die Frau von Mitte 40 erinnert sich noch genau daran, wie das Kommando morgens um sechs Uhr in ihr Haus in dem kleinen Weiler La Iguana eindrang: »Sie suchten nach meinem Mann, Roque Bolaños. Doch er war schon unterwegs, denn ein Pferd war entlaufen und er musste hinterher«, erinnert sich die Mutter dreier Kinder. Daraufhin schwärmten einige der Soldaten aus, andere durchsuchten das Haus des Kaffeebauern, schossen in die Wände und simulierten einen Kampf, der nie stattgefunden hatte. Blanca Lydia Siguientes wusste, dass von den Soldaten nichts Gutes zu erwarten war. »Ein paar hundert Meter entfernt, am Haus meines Vaters, stellten die Soldaten schließlich Roque und nahmen ihn fest. 15 Minuten später hörten wir die Schüsse«, erzählt sie mit brüchiger Stimme. Am 23. Januar 2007 wurde ihr Mann durch mehrere Schüsse in den Rücken getötet. Noch am gleichen Tag erstattete sie Anzeige und bat die Ombudsstelle für Menschenrechte um Hilfe. Seitdem fühlt sie sich in dem kleinen Dorf, das rund 300 Kilometer von Medellín entfernt liegt, nicht mehr sicher. »Ich habe Angst zurückzugehen, gerade weil ich Anzeige erstattet habe«, sagt Siguientes. Deshalb wohnt sie nun in einem der Armenviertel Medellíns, in der Comuna 13. Das kann Góngora gut verstehen: »Es hat immer wieder Drohungen, aber auch Anschläge und Attentate auf Angehörige gegeben, die für Aufklärung gekämpft haben.«
Der bekannteste Fall sind die Mütter von Soacha. So heißt der im Süden von Bogotá gelegene Vorort, in dem rund 1,2 Millionen Menschen wohnen, die zumeist auf der Suche nach Sicherheit oder Arbeit dorthin gekommen sind. Hier rekrutiert die Armee nahezu täglich Jugendliche für den Militärdienst, aber zumindest zwischen dem März 2007 und dem August 2008 waren auch Militärangehörige in Zivil unterwegs, um Jugendliche und junge Männer anzuwerben. Sie versprachen Arbeit und Geld. Etliche Dutzend Männer gingen den Soldaten gutgläubig in die Falle. Sie wurden mit Militärmaschinen ausgeflogen oder mit Autos weggeschafft, unter anderem nach Ocaña. Einer der Fälle wurde publik, als ein Gerichtsmediziner bei einem jugendlichen Toten ein Mobiltelefon vorfand und die zuletzt gerufene Nummer wählte. Es meldete sich die Mutter in Soacha. Der Fall machte im September 2008 Schlagzeilen, und alsbald stellte sich heraus, dass noch mehr Jugendliche aus Soacha ermordet worden waren. Seitdem ist die Zahl der falsos positivos auf rund 3 000 gestiegen, der Skandal wurde international bekannt und der UN-Berichterstatter Philip Alston kritisierte 2009 die kolumbianische Regierung scharf für ihren Umgang mit der Aufklärung der Morde. Als »Spitze eines Eisbergs« bezeichnet er die Toten von Soacha, er kritisierte die »systematischen Versuche, die Prozesse gegen Täter und ihre Hintermänner zu erschweren«. In 98,5 Prozent dieser Mordfälle habe es keine Strafverfolgung gegeben.

Für die kolumbianische Regierung war das ein PR-Desaster, in dessen Folge der Chef der Armee, Mario Montoya, und auch eine Reihe hochrangiger Offiziere ihren Abschied nehmen mussten. Montoya erhielt vom damaligen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez allerdings schnell einen Job im diplomatischen Dienst. Die Hintermänner, die für die Direktiven, für die kriminellen Strukturen innerhalb der Armee und für das systematische Übersehen des mörderischen Treibens verantwortlich sind, wurden bisher nicht belangt. Bis heute habe sich kaum etwas getan, kritisiert Góngora. »Zwar gibt es einige Staatsanwälte, die auf diese Morde spezialisiert sind, aber sie haben mehr als 100 Fälle gleichzeitig zu bearbeiten, und das oft noch in verschiedenen Landesteilen«, sagt der Jurist. Daran hat sich in den vergangenen Jahren trotz aller Versprechen aus der Politik nichts geändert. Das kritisiert auch die renommierte kolumbianische Juristenkommission, die einen Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen hat. Gustavo Gallón, der Direktor der Kommission, weist dabei auf die strukturellen Probleme innerhalb des Justizsystems hin, aber auch auf den fehlenden politischen Willen. »Die neue Regierung hat zwar einen anderen Ton angeschlagen, sie greift Menschenrechtsorganisationen nicht mehr verbal an und scheint auch den Opfern mehr Gehör schenken zu wollen, aber bei der Aufklärung der zahllosen Menschenrechtsverbrechen tritt die Justiz auf der Stelle«, sagt Gallón. Eine Einschätzung, die viele der Angehörigen teilen. Auch José Castro, für ihn ist es nur logisch, dass nicht mit Hochdruck ermittelt wird. »Juan Manuel Santos trägt als ehemaliger Verteidigungsminister politisch die Verantwortung für viele dieser Morde. Heute ist er Präsident. Warum sollte sich etwas ändern?«, fragt er sarkastisch. Längst hat er das Vertrauen in Kolumbiens Justiz verloren, aber aufzugeben kommt für ihn nicht in Frage. »Ich will Aufklärung und ich will, dass die Verantwortlichen bestraft werden. Derzeit kassieren sie ihren Sold und machen sich ein gutes Leben«, sagt er und zieht die Stirn in Falten. Dann betritt Anwalt Góngora das Büro und reicht ihm ein paar Zettel. Es ist ein neuer Antrag an die Staatsanwaltschaft, um die Untersuchungsbeamten zur Eile anzutreiben. Er könnte helfen auf dem schwierigen Weg zur Gerechtigkeit.