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85 Treppenstufen sind es, ich habe sie gezählt. Jeden Morgen. Fahrstuhl für Praktikanten? Pustekuchen, nicht mal die Kollegen, die in Teilzeit arbeiten, bekommen einen Schlüssel.
Nicht mitgezählt habe ich hingegen, wie oft ich am Morgen völlig aus der Puste feststellen musste, dass der Kaffeebereiter für mich keinen Kaffee mehr bereithielt. Aber kein Problem, in den 15 Minuten, die mein Arbeitslaptop zum Hochfahren brauchte, war auch genügend Wasser aus der verkalkten Leitung getropft, damit ich die stereotypen Aufgaben eines Praktikanten erfüllen konnte.
Beworben hatte ich mich für das Thema-Ressort, gelandet bin ich bei den Kollegen des Inlands, die wiederum meistens im Ausland waren. Also im Urlaub. Apropos Urlaub. Das ewige Gezänk im Nebenraum kannte nur ein Thema: Island. Ja, liebe Leserinnen und Leser, nicht Libyen oder Iran sind Gegenstand des redaktionellen Dauerclinchs, sondern die beschauliche Insel im Nordatlantik. Also Islandkritik statt Islamkritik? Keineswegs. Das Feuilleton bereitete sich auf seine Recherchereise anlässlich der Buchmesse vor. Wochenlange Debatten: Zelten oder Hotel? Winterkleidung im Hochsommer? Das Penis-Museum und die Gletschermaus … Freiwillig sammelte ich diese Informationen nicht. Die Tür zum Nebenraum lässt sich nicht schließen, weil die Türklinke abgebrochen ist.
Auch in anderen Ressorts wurde das Bild einer intellektuellen Avantgarde, das in meinem Kopf über die Jahre entstanden war, innerhalb weniger Tage dekonstruiert. Debattiert wurde über den sächsischen Akzent von Jens Weißflog, das ausgebliebene Coming-out Philipp Lahms und die Eusozialität von Nacktmullen. Statt der erwarteten kulturpessimistischen Misanthropen eine muntere Klatschrunde. Hatten diese Menschen einst einen maßgeblichen Anteil an meiner politischen Sozialisation?
Der technische Fortschritt scheint seit der Gründung der Jungle World an der Redaktion vorbeigegangen zu sein: Die Redaktion starrt in eingetrübte Röhrenmonitore, Baujahr 1995. Staubsaugerroboter Guido, das bisschen technischer Luxus, dessen sich die Redaktion einst rühmte, befindet sich seit Monaten zur »Wartung« bei einem Redaktionskollegen.
Wird Zeit, dass ich verschwinde. Die Stille im Feuilleton ertrage ich nicht. Der bereits vorausgereiste Kollege hat sich heute gemeldet: Er habe einen netten Zeltplatz in Island gefunden, aber warme Kleidung sei zu empfehlen. Und so hauche ich ein letztes Mal wehmütig in den Telefonhörer: »Die Homestory auf der Zwei ist im Austausch und kann an Bernd«. Ade.