Die Lage in Libyen

Bruder Führer auf der Flucht

In 20 Monaten soll in Libyen gewählt werden. Noch aber suchen die Vertreter der Übergangsregierung nach Muammar al-Gaddafi und bekämpfen die Reste seiner Truppen.

Seinen persönlichen Feiertag konnte Muammar al-Gaddafi in diesem Jahr nicht begehen. Der 1. September war der 42. Jahrestag des von ihm angeführten Offiziersputsches. Üblicherweise hätte es aus diesem Anlass eine Kundgebung mehr oder minder freiwillig jubelnder Massen auf dem Grünen Platz in Tripolis gegeben. Doch der diesjährige 1. September verlief anders, als es sich der langjährige Staatschef und »Revolutionsführer« hätte träumen lassen.
Der nach der 1977 vom Gaddafi-Regime eingeführten grünen Landesfahne benannte Platz heißt jetzt »Platz der Märtyrer«, eine in muslimisch geprägten Ländern übliche Bezeichnung oft auch für jene, die für eine politische »Sache« gefallen sind. Gemeint sind hier die Toten des Aufstands gegen das alte Regime und des seit dem 16. Februar dieses Jahres andauernden Bürgerkriegs. Ihre Zahl dürfte 10 000 übersteigen, die neuen provisorischen Machthaber und bisherigen Rebellenführer vom Transitional National Council (TNC) sprechen von 20 000 Todesopfern. Dennoch wurde der Donnerstag der vergangenen Woche für viele Menschen zum Tag der Freudenfeier. Sie strömten auf den Platz, um den Machtverlust des alten Regimes in der libyschen Hauptstadt zu begrüßen.
Doch die Anhänger des Gaddafi-Regimes sind noch nicht vollständig besiegt. Muammar al-Gaddafi und sein politisch einflussreichster Sohn Saif al-Islam wurden in der vergangenen Woche im Tal von Bani Walid südöstlich von Tripolis vermutet. Die Rebellen, die die Stadt belagern, befürchten, dass Zivilisten als »menschliche Schutzschilde« dienen könnten und zögern mit einem Angriff. Es ist jedoch unklar, ob der »Bruder Führer« sich tatsächlich in Bani Walid aufhält.
Am Montagabend wurde das Eintreffen eines Militärkonvois aus Libyen in Agadez, einer Stadt im Norden der Republik Niger, gemeldet. Gerüchte, auch Muammar al-Gaddafi sei dorthin geflohen, bestätigten sich jedoch bislang nicht. Bestätigt wurde allerdings am Dienstag die Anwesenheit von Mansour Daw, des früheren Gaddafi-Beraters und Chefs seiner berüchtigten »Sicherheitsbrigaden«. Daw bestritt, diese Brigaden kommandiert zu haben, und bezeichnete sich als vormaligen »persönlichen Referenten« Gaddafis mit zivilen Funktionen.

Der Konvoi wurde von ehemaligen Tuareg-Rebellen im Niger, die in früheren Jahren von Libyen unterstützt worden waren, in die Hauptstadt Niamey geleitet. Auch aus dem Nachbarstaat Burkina Faso waren Gerüchte zu hören, denen zufolge mit Gaddafis Eintreffen gerechnet werde. Djibrill Bassolé, der Außenminister Burkina Fasos, hatte Ende August die Bereitschaft seiner Regierung bekundet, Gaddafi aufzunehmen. Wie andere arme afrikanische Staaten, an die das libysche Regime bisweilen Geld aus seinen Petrodollarfonds verteilt hatte, unterstützte Burkina Faso das alte Regime. Doch am 24. August erkannte die Regierung den TNC als legitime Vertretung Libyens an.
Die provisorischen Machthaber Libyens haben ngekündigt, innerhalb eines Zeitraums von 20 Monaten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abzuhalten. Die Libyer nicht schon in wenigen Monaten wählen zu lassen, erscheint einerseits vernünftig, da zunächst Institutionen wie eine Wahlkommission aufgebaut werden müssen und auch die Gründung politischer Parteien Zeit braucht. In Tunesien und Ägypten gab es trotz der Repression organisierte Oppositionsgruppen und NGO. Unter dem alten Regime Libyens hingegen waren Parteien ebenso verboten wie Gewerkschaften, es gab keine politischen Ausdrucksformen der Gesellschaft, die immer nur aufgerufen war, den wechselnden ideologischen Vorgaben der Führungsspitze unter Muammar al-Gaddafi zu folgen.
Andererseits sind 20 Monate eine lange Zeit, in der sich neue Machtverhältnisse bilden können. Überdies ist unklar, wer die bis zu den Wahlen fälligen politischen Entscheidungen treffen wird. Derzeit ist dafür der TNC zuständig, der im Februar als 31köpfiges politisches Führungsgremium der bewaffneten Rebellen und der Opposition in Bengasi entstand. Seine Zusammensetzung ist sehr heterogen, in seinen Reihen befinden sich sowohl ehemalige hohe Funktionäre des alten Regimes – sein vorläufiger Präsident Mustafa Abd al-Jalil etwa war Gaddafis Justizminister – als auch Angehörige des reichen, aber bislang politisch marginalisierten Bürgertums der ostlibyschen Metropole Bengasi. Auch Frauen wie die unverhüllt auftretende Iman Boughaghis sind im TNC vertreten. Es gibt jedoch auch Islamisten und Jihadisten unter den Rebellen, sie unterstützten den TNC, sind dort jedoch kaum repräsentiert. Viele der bewaffnet an der Front kämpfenden jungen Männern waren Islamisten, die sich, wohl weil sie sich eine Belohnung im Jenseits erhofften, besonders risikobereit zeigten.

Ein früherer Jihadist hat nun Berühmtheit erlangt. Abd al-Hakim Belhaj, einer der Gründer der in den neunziger Jahren aktiven Libyschen Islamischen Kampfgruppen, wurde vergangene Woche zum militärischen Befehlshaber in Tripolis ernannt. Er hatte seit 1988 im antisowjetischen Jihad in Afghanistan gekämpft. Belhaj behauptet, er habe seine politischen Auffassungen geändert, er sagte in einem am Samstag publizierten Interview mit der Pariser Zeitung Le Monde: »Wir wollen einen zivilen Staat in Libyen, und wir sind nicht von al-Qaida.«
Sicherlich werden die Islamisten diverser Fraktionen im zukünftigen Libyen politischen Einfluss haben, ebenso wie nationalistische, regionalistische und bürgerlich-liberale Gruppierungen. Die reaktionäre Sozialutopie der Islamisten wird zweifellos einen Teil der Bevölkerung ansprechen, zumal es in Libyen, anders als in Tunesien oder Ägypten, keinerlei Ansätze für eine organisierte Arbeiterbewegung gibt. Dies liegt nicht allein an der Repression, eine Arbeiterklasse im engeren Sinne gibt es in Libyen kaum. Der Rohstoffreichtum in dem dünn besiedelten Land ermöglichte es dem Staat bislang, den meisten Einwohnern ein Auskommen ohne körperliche Arbeit zu garantieren. In den Genuss staatlicher Versorgungsleistungen kamen allerdings nur Libyer, die als loyal galten.
Die Arbeit im Ölsektor wurde überwiegend Migranten aufgebürdet. Viele der etwa zwei Millionen Migranten, die meist aus dem subsaharischen Afrika kamen, wurden zu Opfern des Umbruchs in Libyen. Zuvor hatte das Regime in den vergangenen Monaten mitunter mehrere Hundert oder Tausend von ihnen auf Schiffe gesetzt und zur Ausreise gezwungen, um Europa vorzuführen, dass es ohne Gaddafi als Grenzwächter mit Migranten »überflutet« werde. Während des Aufstands wurden schwarze Afrikaner misshandelt oder gelyncht, da man sie oft pauschal verdächtigte, »Söldner Gaddafis« gewesen zu sein. Dessen Regime hatte tatsächlich auch auf Söldner aus dem Tschad, dem Niger und anderen afrikanischen Staaten zurückgegriffen.
Am Wochenende berichtete der seit mehreren Monaten in Libyen arbeitende französische Journalist Christophe Ayad, viele Schwarze seien von Anhängern der Rebellen misshandelt worden. Neben der Angst vor den Söldnern dürften auch rassistische Ressentiments eine Rolle spielen, die das alte Regime geschürt hat. Gaddafi doziert in seinem »Grünen Buch« über »die Schwarzen, die in einem immer heißen Klima träge sind«. Um eine planmäßige rassistische Politik der Rebellenführung oder des TNC handelt es sich jedoch offenbar nicht. Die Bilder aus den noch umkämpften Orten in Libyen zeigen, dass auch in den Reihen der Aufständischen schwarze Soldaten kämpfen.
Unklar ist derzeit nicht nur, wie die zukünftigen politischen Strukturen aussehen werden. Wird der TNC den Ölreichtum neu verteilen? Ein führender chinesischer Ölkonzern hat Ende August seinen Rückzug aus Libyen, aber auch aus Syrien und Algerien »aufgrund der politischen Unsicherheit« angekündigt. Vergangene Woche wurde gemeldet, es gebe ein Abkommen, demzufolge der französischen Erdölindustrie ein Anteil von 35 Prozent an der gesamten Ölproduktion des Landes zu einem Vorzugspreis garantiert werde. Inzwischen hat der TNC allerdings die Existenz eines solchen Abkommens dementiert. Ob die Information nie zutraf, nicht publik werden sollte oder die zukünftige Wirtschaftspolitik unter den neuen Machthabern umstritten ist, ist derzeit unklar.

Dass es Uneinigkeit im TNC gibt, ist hingegen sicher. So wurde Ende Juli der Exekutivrat, das Führungsgremium der Rebellen, entmachtet, nachdem Abd al-Fattah Younis, Militärkommandant der Rebellen – und frühere langjährige Innenminister Gaddafis –, ermordet worden war. Nach wie vor führt der Exekutivrat jedoch die Amtsgeschäfte und fällt die alltäglichen Entscheidungen.
Das Verhältnis der neuen Machthaber zu den westlichen Staaten, auch solchen, die an der Intervention teilnahmen, könnte auch von neuen Enthüllungen beeinflusst werden, die belegen, dass die Zusammenarbeit von Unternehmen und Regierungen mit dem alten Regime noch enger war als bislang angenommen. So wurde der französische Informatikkonzern Bull überführt, über seine Filiale Amnesys Gaddafi bei der Kontrolle von Internetnutzern unterstützt zu haben. »Ich habe geholfen, acht Millionen Menschen in Libyen zu überwachen«, bekannte ein leitender Angestellter der Firma in der Presse. Die Gewerkschaft CFDT forderte daraufhin die Einführung eines Ethik-Kodexes bei Bull, der es Lohnabhängigen erlauben soll, die Mitarbeit an bestimmten Aufträgen zu verweigern.
Bekannt wurde auch, dass US-amerikanische und britische Nachrichtendienste seit 2004 mit dem libyschen Regime zusammenarbeiteten. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden im Rahmen der rendition, der Übergabe von Verdächtigen an Folterregimes unter anderem in Ägypten und Syrien, Gefangene auch an Gaddafi ausgeliefert. Einer dieser Gefangenen war Abd al-Hakim Belhaj, der sechs Jahre in Tripolis inhaftiert war. Zumindest er dürfte wenig Anlass sehen, westliche Unternehmen nun zu bevorzugen.