Selbstmorde türkischer Frauen in Deutschland

Horror vor dem Sommer

Die Rate an Selbstmorden und Selbstmordversuchen ist unter jungen Türkinnen in Deutschland überproportional hoch. Ein Forschungsprojekt versucht, den Ursachen auf den Grund zu gehen und präventiv ­tätig zu werden.

Alte deutsche Männer sind suizidgefährdet. Das legen zumindest Zahlen des Statistischen Bundesamtes zu den Todesursachen in Deutschland nahe. Demnach begeht der Durchschnittsdeutsche häufiger Selbstmord als etwa der Durchschnittsmigrant aus der Türkei, die Selbstmord­rate steigt mit zunehmendem Alter um ein Vielfaches an, der Anteil an Selbstmördern ist bei Männern in allen Altersklassen höher als bei Frauen.
Was der Statistik jedoch nicht zu entnehmen ist: Junge Frauen mit türkischem Migrationshintergrund nehmen sich doppelt so häufig das Leben wie ihre deutschen Altersgenossinnen. Darauf macht derzeit ein Forschungsprojekt der Charité Berlin aufmerksam. Bei den Selbstmordversuchen verzeichnet die Weltgesundheitsorganisation in Deutschland gar eine fünfmal höhere Fallzahl. Zudem sind türkische Frauen bei ihren Selbstmordversuchen im Schnitt deutlich jünger.

Das Wissen über die hohe Suizidgefährdung bei jungen Türkinnen besteht schon länger. So kam eine regionale Studie aus Frankfurt am Main bereits 2003 zu dem Ergebnis, dass 30 Prozent aller Patienten, die in der Stadt nach einem Suizidversuch in die Akutpsychiatrie aufgenommen wurden, junge türkische Frauen waren. Weniger bekannt waren bisher jedoch die Hintergründe und Motive. Deshalb begann die Psychiatrische Universitätsklinik der Charité in Berlin vor drei Jahren ein Forschungsprojekt, für das Frauen systematisch nach ihren Beweggründen für einen Selbstmordversuch befragt wurden. Teil des Projekts, das derzeit ausläuft und aus dem in dieser Woche erste Ergebnisse vorgestellt wurden, war auch eine Präventionsinitiative: »Beende dein Schweigen – nicht dein Leben«. Dazu gehörten ein deutsch-türkisches Krisentelefon, eine groß angelegte Medienkampagne und die Schulung von sogenannten Multiplikatoren für die psychosoziale Arbeit.
Das Projekt fand unter schwierigen Voraussetzungen statt. Denn Selbstmord wird in den meist islamisch geprägten Milieus der Betroffenen als schwere Sünde betrachtet. Das Problem wird daher häufig tabuisiert, nicht selten werden Betroffene und deren Familien stigmatisiert. Viele junge Frauen schildern, dass ihnen nach Suizidversuchen trotz ihrer enormen psychischen Belastung auch noch die Schuld für eine familiäre »Ehrverletzung« gegeben wurde. Unter diesen Umständen kann wohl auch von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden.

Die soziale Situation von Migranten geht nicht zwangsläufig mit einer höheren Suizidgefährdung einher. Migration bedeutet vielmehr dann eine besondere psychische Belastung, wenn schwierige Lebensverhältnisse mit sozialer Isolation oder einem Konflikt um Geschlechterrollen zusammenwirken. Dies ist besonders oft bei türkischen Frauen der Fall, die hier geboren sind, deren Eltern aber noch zugewandert waren. Diese Gruppe weist die höchste Rate an Selbstmordversuchen auf. Auffällig dabei ist, dass jedes Jahr die Zahl der Selbstmorde vor den Sommerferien deutlich ansteigt, also in jenem Zeitraum, in dem der ­Besuch im Herkunftsland der Eltern zur Vorbereitung einer Verheiratung genutzt werden kann.
Tatsächlich schildern viele junge Türkinnen eine reaktionäre Geschlechterordnung, in der die Familie der Tochter das Selbstbestimmungsrecht verwehrt. Die weitreichende Reglementierung aller Lebensbereiche – von der Kleidung bis hin zur Sexualität – zwingt viele von ihnen in ein Doppelleben zwischen traditionellen Rollenerwartungen und den modernen Lebensformen ihrer Umgebung. Dadurch stürzen sie nicht nur in Identitätsprobleme, viele zerbrechen am Widerspruch zwischen familiären Moralvorstellungen und dem eigenen Freiheitsdrang. Die Folge ist nicht selten die Herausbildung eines »präsuizidalen Syndroms«, wie es der Psychiater und Suizidforscher Erwin Ringel nennt: Die Betroffenen richten ihre Aggression gegen sich selbst und entwickeln Selbstmordgedanken, in denen die Beendigung des eigenen Lebens als letzter Ausweg ­erscheint.

Die häufig in diesem Zusammenhang anzutreffende Bezeichnung »Freitod« ist allerdings irreführend. Sie impliziert die Idee des freien Willens – Suizid als Ausdruck des individuellen Selbstbestimmungsrechts. »Der Freitod ist ein Privileg des Humanen«, stellte der Schriftsteller Jean Améry einst fest. Doch in den Fällen der jungen türkischen Frauen wird der Selbstmord wohl eher als letztes Refugium vor dem Inhumanen betrachtet.
Verstärkt wird das Problem dadurch, dass Migrantinnen der Zugang zum psychosozialen Versorgungssystem deutlich erschwert wird. Darauf weist die Studienleiterin des Forschungsprojekts, Meyram Schouler-Ocak, hin. Vor allem gibt es kaum türkischsprachige Angebote für Betroffene. So kommen auf mehr als 100 000 Berliner mit türkischem Pass gerade einmal drei türkischsprachige Psychiater, die eine Zulassung zur Psychotherapie besitzen. Schouler-Ocak zufolge wird häufig auch von schlechten Erfahrungen mit dem deutschen Gesundheitssystem berichtet, wie etwa der Angst vor staatlichen Sanktionen oder Abschiebungen nach Arztbesuchen. Zudem könnten viele deutschsprachige Ansprechpartner die Verhältnisse, in denen die jungen Frauen leben, nicht nachvollziehen und deren Entscheidungsmöglichkeiten nicht beurteilen.
Ohnehin wird in Deutschland Selbstmord meist als persönliche Tragödie wahrgenommen. Der gesellschaftliche Zusammenhang wird dabei oft ausgeblendet. So wurde etwa jüngst in einem Beitrag der »Tagesthemen« zu diesem Pro­blem wiederholt auf eine ins Türkische übersetzte Broschüre über Depressionserkrankungen verwiesen. Gerade mit der Fokussierung auf das Symptom der Depression werden die repressiven Verhältnisse verdeckt, die das Leid der jungen Frauen verursachen. Auch die Kampagne »Be­ende dein Schweigen« war nur ein kurzer Lichtblick für die Betroffenen. Denn wegen mangelnder Mittel musste der Betrieb der Hotline bereits im Frühjahr nach nur neun Monaten eingestellt werden.