Britische Gewerkschaften mobilisieren gegen die Sparpolitik

Noch nicht im Ruhestand

Bislang haben die britischen Gewerkschaften wenig gegen die Sparpolitik der konservativ-liberaldemokratischen Regierung unternommen. Das soll sich nun ändern.

Es könnte der größte Streiktag in Großbritannien seit dem letzten Generalstreik im Jahr 1926 werden. 14 Gewerkschaften, darunter die drei größten des Landes, haben eine koordinierte Streikkampagne angekündigt, um die geplante Rentenreform im öffentlichen Sektor abzuwenden. Sollte die Regierung ihre Pläne, die eine Heraufsetzung des Rentenalters, höhere Beiträge und niedrigere Renten beinhalten, nicht überdenken, blüht ihr die »größte Gewerkschaftsmobilisierung seit einer Generation«, sagte Brendan Barber, der Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbandes Trades Union Congress (TUC), auf der jährlichen Konferenz Mitte September.
Zwar geben sich Gewerkschaftsbosse auf Konferenzen gern kämpferisch, ohne dann konkrete Maßnahmen zu ergreifen. Doch diesmal scheinen sie es ernst zu meinen. Dave Prentis, der Generalsekretär von Unison, der Gewerkschaft für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, warnt etwa vor einer »Politik der Gesten« und »hohler Rhetorik«. So könnten am ersten angekündigten Streiktag, dem 30. November, mehrere Hunderttausend Angestellte ihre Arbeit niederlegen.
Heißt das, dass sich die britische Gewerkschaftsbewegung doch noch zu entschlossenem Widerstand gegen die Sparpolitik der Regierung durchringen kann? Die konservativ-liberaldemokratische Regierung unter Premierminister David Cameron hat das größte Sparprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg in die Wege geleitet. Bis 2016 sind Haushaltskürzungen von 95 Milliarden Pfund geplant, die nach den Berechnungen des Chartered Institute for Personnel and Development zum Verlust von 1,6 Millionen Arbeitsplätzen in der gesamten Wirtschaft führen werden.
Doch die Antwort der Gewerkschaften war bisher kläglich. Seit der Ankündigung des Sparprogramms im vergangenen Oktober hat der TUC zu einer einzigen Demonstration aufgerufen. Obwohl der Protest ein großer Erfolg war – rund eine halbe Million Menschen gingen Ende März in London auf die Straße –, hat der Gewerkschaftsdachverband keine weitere landesweite Demonstration angekündigt. Ende Juni hielten vier kleinere Gewerkschaften einen eintätigen Streik ab, um gegen die geplante Rentenkürzung im öffent­lichen Sektor zu protestieren. Mehr ist bislang nicht passiert.
Gregor Gall, Professor für Industrielle Beziehungen an der Universität Hertfordshire, warnt vor allzu hohen Erwartungen: »Zwar sind die Aussichten für eine breite Kampagne gegen die Rentenkürzung gut, aber die Regierung kann die Streiks noch immer abwenden, indem sie sich zu Konzessionen durchringt.« Es werde wohl im Herbst zu weiteren großen Demonstrationen kommen, aber das würden Einzelereignisse bleiben. An eine dauerhafte Mobilisierung glaubt Gall nicht. »Nach jahrelangem Zerfall ist die Linke in Großbritannien dafür einfach zu schwach.«

Die vergangenen 30 Jahre waren von einem dramatischem Niedergang gekennzeichnet. Er setzte Anfang der Achtziger ein, als die konservative Regierung unter Margaret Thatcher zu ihrem Schlag gegen die Gewerkschaften ausholte und das Arbeitsrecht verschärfte. Manager durften nun Streikende feuern, Entlassungsentschädigungen wurden gekürzt, im Fall von rechtswidrigen Streiks mussten die Gewerkschaften hohe Bußen zahlen. Zudem schaffte die Regierung die Devisenkontrollen ab, wodurch der Wert des Pfunds stieg und die Ausfuhren der britischen Industrie verteuert wurden. 1983 war bereits ein Drittel der Herstellungsindustrie aus Großbritannien verschwunden und die Arbeitslosigkeit hatte sich innerhalb von drei Jahren mehr als verdoppelt.
Die unvermeidlichen Arbeitskämpfe, die darauf folgten, verloren die Gewerkschaften allesamt. Am verheerendsten war die Niederlage der Bergarbeiter in den Jahren 1984 und 1985, die auch symbolische Wirkung hatte. Jahrzehntelang war die Gewerkschaft der Bergarbeiter die wichtigste Organisation der britischen Arbeiterbewegung gewesen. »Wenn die Tory-Regierung die Kohleindustrie pulverisieren konnte, dann würde sie das mit jedem machen können«, sagt Neil Kinnock, der damalige Vorsitzende der Labour Party, heute im Buch »Chavs: The Demonization of the Working Class« von Owen Jones.

Von diesem Schlag haben sich die Gewerkschaften nie erholt. Zwischen 1984 und 2009 ist der Anteil der gwerkschaftlich organisierten Erwerbstätigen von 45 Prozent auf rund ein Viertel gefallen. Gab es vor 30 Jahren noch zwölf Millionen Gewerkschaftsmitglieder, sind es mittlerweile nur noch sieben Millionen. Die Anzahl der Streiktage britischer Beschäftigter lag im Zeitraum von März 2009 bis März 2010 bei 145 000 – so wenige gab es noch nie seit Beginn der Aufzeichungen, während 1926, den Generalstreik nicht einberechnet, 146 Millionen Streiktage registriert wurden. Überdies gibt es eine große Diskrepanz: Während im öffentlichen Sektor rund 57 Prozent der Beschäftigten Mitglied einer Gewerkschaft sind, sind es im Privatsektor lediglich 15 Prozent.
Alex Kenny von der Lehrergewerkschaft National Union of Teachers (NUT) hofft zwar auf eine große Mobilisierung in diesem Winter, aber auch er ist sich der Schwäche der britischen Arbeiterbewegung bewusst. Er will die bislang zögerliche Kampagne gegen den Angriff auf den Sozialstaat und den öffentlichen Sektor nicht entschuldigen, aber angesichts der jahrzehntelangen Schwächung der Arbeiterbewegung war er nicht überrascht. Viele größere Gewerkschaften hätten Zweifel gehabt, ob sie ihre Mitglieder überhaupt in ausreichender Zahl für den Arbeitskampf gewinnen können: »In Großbritannien ist es viel schwieriger als beispielsweise in Frankreich, einen Streik zu organisieren. Das kostet Zeit, und die rechtlichen Hürden sind hoch.«
Doch die Lethargie der Gewerkschaftsbewegung hat auch mit strategischen Fehlern zu tun. »Die meisten Gewerkschaften konzentrieren sich noch immer zu stark auf den Arbeitsplatz und innere Angelegenheiten«, sagt Gall. Deshalb seien sie nicht Teil der breiteren Bewegung gegen die Sparpolitik der Regierung. Anstatt die gemeinsamen Interessen aller Erwerbstätigen zu vertreten, kümmerten sie sich nur um ihre eigenen Mitglieder. Zudem erschwere die Fragmentierung und Dezentralisierung von Tarifverhandlungen im Privatsektor eine gemeinsame Kampagne.

Auch beim Streit um die Renten sei das Problem, dass die Gewerkschaften keine direkte Verbindung zum breiteren Angriff auf den öffentlichen Sektor herstellten, sagt Gall. »Wenn sie nur beim Rentendisput einen koordinierten Widerstand organisieren können, dann werden sie der Herausforderung von Lohnstopps und Arbeitsplatzverlusten im öffentlichen Sektor nicht gewachsen sein.« Alex Kenny ist sich dieser Herausforderung bewusst: »Die Renten sind das Thema, das alle verbindet. Doch wir müssen es in den breiteren Zusammenhang von Sparprogramen und Kürzungen im öffentlichen Sektor stellen.« Die Streiks müssten also politisch werden. Andererseits meint Kenny, dass eine Kampagne gegen die Sparpolitik aussichtslos sei, wenn sie nicht von der Gewerkschaftsbewegung mitgetragen werde.
Gall hat keine hohen Erwartungen: »Die Aussichten sind gerade deswegen nicht rosig, weil die Gewerkschaften so schwach und schüchtern sind. Obwohl es wegen der Regierungspolitik genügend Potential gibt, neue Mitglieder anzuwerben, glauben die Leute, dass die Gewerkschaften nicht stark genug sind, um ihnen zu helfen.« Kenny ist optimistischer. »Wir bereiten uns auf eine lange Kampagne vor, und der Streik vom 30. November wird so viele Gewerkschaften umfassen wie schon lange nicht mehr. Das ist ein Kampf, den wir nicht verlieren dürfen.«