Bankenkrise und Bierverbot in Island

Wir treffen uns im Swingerclub

Nach der Bankenkrise ist vor der Bankenkrise. Die wahre Zäsur in der Kulturgeschichte Islands ist die Aufhebung des Bierverbots.

Dass Island sich besondere Mühe gäbe, sein Image als abgelegene, unbekannte Insel zu bewahren, und sich aus den Schlagzeilen der Weltpresse heraushielte, kann wirklich niemand behaupten. Erst geht das Land in der Finanzkrise 2008 bankrott, dann veranstaltet es einen Vulkanausbruch und legt tagelang den Flugverkehr in Europa lahm, und nun ist es auch noch Gastland der Frankfurter Buchmesse. Die Sache mit »abgelegen« und »unbekannt« ist aber ohnehin neueren Datums, in früheren Jahrhunderten wusste man genau, dass sich der Weg zur Hölle auf Island befindet. Bei Jules Verne wurde aus dem »Weg zur Hölle« dann der »Weg zum Mittelpunkt der Erde«, das war vielleicht nicht klug überlegt, der »Weg zur Hölle« macht marketingmäßig einfach mehr her. So bekannt war die Höllenpforte, dass der Hekla, der Vulkan, durch den der Weg nach unten geht, in Deutschland und Dänemark den viel anheimelnderen Namen »Heckenfeldt« bekam. Aber das nur nebenbei.
Fleißig aus dem Isländischen ins Deutsche übersetzt, wurde nun auch aus Anlass der Buchmesse. Nicht weniger als 55 isländische Bücher erscheinen dieser Tage auf Deutsch. Die kann selbstverständlich kein Mensch alle auf die Schnelle lesen, aber ein paar, auch ältere, die die Lektüre lohnen, werden hier vorgestellt. Dass sie Island »nach der Krise« beschreiben, wird immer wieder auf dem Klappentext behauptet. Aber tun sie das wirklich? Bei meinem ersten Besuch nach der Krise, Anfang 2009, hatte sich in Reykjavík gar nichts verändert. Dieselben schönen Reichen oder andere, die genauso aussahen, saßen in der Bar des Hotel Borg und warfen mit dem Geld um sich. Die Straßen waren verstopft von schweineteuren Geländewagen – schweineteuer sogar für isländische Verhältnisse! Natürlich brauchen die Leute solche Autos auf den Hochlandpisten, wenn sie Reykjavík einmal verlassen wollen, aber so wie die Wagen aussehen, tun sie das nie! In der Einkaufsstraße Laugarvegur, wo bis zu seinem Umzug nach Husavík das legendäre Penis-Museum beheimatet war, boten die Läden weiterhin teuren und komplett überflüssigen Designerkram an. Die einzige Veränderung war, dass der Postkartenladen, in dem es immer wunderbare Fundstücke aus den fünfziger Jahren gab, nicht mehr existierte. Der Besitzer war aber so steinalt gewesen, dass ich schon länger befürchtet hatte, ihn beim nächsten Besuch nicht mehr anzutreffen. Sein Verschwinden muss also nichts mit der Krise zu tun haben.
Meine Theorie: Die wahre Zäsur in der neueren isländischen Geschichte ist die Aufhebung des Bierverbots. Noch bis in die achtziger Jahre hinein war Bier ganz einfach verboten, Wein und Schnaps gab es immerhin in staatlichen Läden, auch durfte man beides aus dem Ausland mitbringen, Bier jedoch nicht. Warum Bier als besonders verwerflich galt, konnte nie geklärt werden. Einen wunderbaren Versuch in diese Richtung unternimmt Halldór Laxness in seinem Roman »Die Litanei von den Gottesgaben«.
Es war eine bizarre Erfahrung, als junge Studentin aus Deutschland nach Island zu kommen, von Gleichaltrigen mit leuchtenden Augen umringt zu werden und immer wieder dieselbe Frage beantworten zu müssen: Ob ich wirklich schon einmal Bier getrunken hätte? Und der Bericht, wie man zum Kiosk geht und einfach für wenig Geld ein Bier kauft, erregte größere Begeisterung, als es vermutlich alle 55 Bücher dieses Jahres zusammen tun werden. Wegen der hohen Alkoholpreise wurde und wird sehr viel Schnaps selbst gebrannt. Früher begegnete man dauernd jemandem, der zur Belohnung für eine schöne Biergeschichte den Flachmann hervorzog und kosten ließ. Und standen an der Bushaltestelle mehr als zwei Personen herum, griff immer eine zum Flachmann. Das war ungeheuer kommunikativ. Heutzutage haben die Leute ihre schweineteure Dose Bier in der Hand und lassen niemanden trinken. Die wahre Zäsur ist die Aufhebung des Bierverbots!
Die frisch erschienenen Bücher geben meiner These recht. Selbst der Roman »Frauen« von Steinar Bragi, der laut Verlag »Island nach der Krise« zeigt, führt uns Leute vor, die mit Geländewagen durch Reykjavík fahren und Bier und Schnaps in Massen kaufen. Dass eine Wohnung leer steht, weil der Vormieter pleite gegangen ist, reicht einfach nicht zur Krisenbeschreibung aus. Was nichts gegen das Buch sagen soll, es ist eine aufregende Lektüre und eine feine Einführung ins Reykjavík der Gegenwart. Und hier begegnet uns ein Phänomen, das plötzlich in Islands Literatur wuchert: Eine Nebenperson geht in den Swingerclub. Weder Krise noch Bierlegalisierung können irgendetwas damit zu tun haben, isländische Romanfiguren zieht es derzeit in Massen in die Swingerclubs. Die einzige Erklärung dafür wäre ein Schriftstellertreffen vielleicht bei zu viel Bier in der Bar des Hotels Borg. Bestimmt haben sie gewettet: »Jungs, woll’n doch mal sehen, wer zuerst eine Romanperson in den Swingerclub schickt!« Autorinnen haben sich an der Wette offenbar nicht beteiligt.
Island stellte sich viele Jahre – noch ehe es Krise und Asche als Werbemittel entdeckte – als das Land dar, »wo noch nie ein Mord geschah«, während die Literaten sich mit Vorliebe niemals aufgeklärte Morde aus der isländischen Vergangenheit vornahmen. Wunderbare Beispiele sind »Die Islandglocke« von Halldór Laxness und »Die Obrigkeit« von Thorgeir Thorgeirsson. Warum ist Thorgeirssons Roman über die letzte Hinrichtung auf Island nicht endlich neu aufgelegt worden? Im Jahre 1995, als der skandinavische Krimiboom selbst die mit Island kulturell und sprachlich eng verwandten Färöer Inseln erreicht hatte, stellte die Tageszeitung Morgunbladid die These auf, dass die isländische Gesellschaft das Entstehen von Kriminalromanen einfach nicht erlaube. Falsch, denn schon bald danach wurde Arnaldur Indridassons Kriminalroman »Nordermoor« zum internationalen Bestseller. In Indridassons Romanen wohnen zwielichtige Personen immer in Kellerwohnungen, ansonsten haben seine Geschichten so wenig Lokalkolorit, dass es schon wieder eine Kunst ist. Wenn man sich in Reykjavík nicht ohnehin auskennt, kriegt man keinerlei Eindruck von der Stadt. Aber spannend sind seine Bücher. In seinem neuen Krimi »Abgründe« lauert das Verderben natürlich im Swingerclub. Seine Kollegin Yrsa Sigurdardóttir hat in ihrem Krimi »Geisterfjord« einen Börsenmakler zu bieten, der wegen der Krise seine schöne Villa verloren hat. Die Villa steht nicht leer, längst wohnen dort andere, die die Krise unbeschadet überstanden haben. Der unglückliche Börsenmakler möchte sich als Hotelier an einem abgelegenen Fjord eine neue Existenz aufbauen, aber Pech gehabt, dort spukt es. Yrsa Sigurdardóttir ist eine einmalige Kombination aus Krimi und Gespenstergeschichte gelungen.
Kristin Marja Baldursdóttir, die vom Verlag als »bedeutendste isländische Autorin« angepriesen wird (was ist mit Steinunn Sigurdardóttir oder mit Svava Jakobsdóttir, die ist zwar schon tot, aber das kann ihrer Bedeutung doch nichts anhaben?), schickt ihre beiden Heldinnen in dem Roman »Sterneneis« in ein einsames Haus auf dem Land; große Autos, teurer Alkohol und moderne Elektronik sind ganz selbstverständliche Requisiten, weit und breit nichts von Krise zu sehen. Erst als Fernsehen und Internet ausfallen, brechen die Probleme hervor und düstere Familiengeheimnisse kommen an die Oberfläche. »Sterneneis« ist kein Krimi, aber viel spannender als vieles, was sich derzeit Krimi nennt.
Eine ganz andere Krise schildert Thor Vilhjálmsson in seinem Roman »Morgengebet«, der auf Isländisch schon 1998 erschienen ist. Es geht um die Jahre im ausgehenden Mittelalter, als auf Island mehrere Sippen um die Vorherrschaft rangen. Keiner gelang es, ihren Machtanspruch durchzusetzen. Der wankelmütige Romanheld Sturla ging lieber auf Wallfahrt, Island geriet unter dänische Herrschaft. Der Roman endet allerdings vorher. Wie es unter den Dänen zuging, schildert Islands Nobelpreisträger Laxness in seinem genialen Roman »Die Islandglocke.« Der 2010 verstorbene Vilhjálmsson hatte Laxness’ Nachfolge auf dem Posten des großen alten Mannes der isländischen Literatur angetreten, sein fulminanter, apokalyptischer Roman beweist: zu Recht! Der Posten ist nach seinem Tod vakant.
Wer aber schreibt denn über die derzeitige Krise, wenn die Romanautoren es nicht tun? Es sind offenbar die Jugendbuchautorinnen und -autoren. Das entnehme ich einem Artikel der isländischen Literaturwissenschaftlerin Helga Birgisdóttir. Das allerdings können wir so schnell nicht überprüfen, weil unter den 55 isländischen Titeln, die zur Buchmesse erscheinen, die Jugendliteratur kaum vertreten ist. Nicht einmal den Nonni-Büchern, die für viele von uns wohl die erste Begegnung mit der isländischen Literatur waren, wurde eine Neuauflage spendiert. In der zwölf Titel umfassenden Reihe schildert der Geistliche Jon Sveinsson (1857-1944) ausführlich seine Jugend auf Island und seine Reisen in die USA, Kanada und Japan. Auch die Werke älterer Autoren und vor allem Autorinnen vermisst man. Warum hatte niemand den verlegerischen Mut, Torfhildur Holm (1845-1918) zu übersetzen, die die ersten modernen Romane auf Isländisch überhaupt schrieb, und von der Laxness nach eigener Aussage stark beeinflusst wurde? Oder die bereits erwähnte Svava Jakobsdòttir (1930-2004), Islands erste modernistische Autorin, deren Werk als »surrealistischer Feminismus« beschrieben wird und die auf Deutsch bisher nur in Anthologien vertreten ist? Immerhin können wir nun Gedichte lesen. In der von Dirk Gerdes herausgegebenen Sammlung »Neue Lyrik aus Island« sind einige Gedichte sogar zweisprachig abgedruckt. Wunderbar für die unter uns, die sich über jedes isländische Wort freuen. Und wie sehr die Dichterinnen uns doch aus der Seele sprechen, zum Beispiel Ingunn Snædal, die sich jünger trinkt, um sich bei Liebeskummer nicht altersgemäß in vornehme Resignation fassen zu müssen: »Deshalb trinke ich manchmal, bis ich siebzehn geworden bin und begonnen habe, auf fremdes Parkett zu kotzen.« Unbedingt dazu gehören natürlich noch die Sagas aus dem Mittelalter, Edda & Co. Saga-Unkundige sollten sich vielleicht vorab die Zusammenfassung ansehen, die der deutsch-isländische Kristof Magnusson in seinem wunderbaren Roman »Zuhause« gibt, dann wissen sie, worauf sie sich einlassen, nämlich auf dies hier: »Bauer A beschuldigt Bauer B, Bäuerin A geschwängert zu haben. Bäuerin B gibt Bauer A in der Öffentlichkeit eine Ohrfeige wegen der verletzten Ehre ihres Mannes. Da Bauer A sich nicht traut, Bäuerin B in aller Öffentlichkeit den Schädel zu spalten, sammelt er eine kleine Mannschaft und bringt den besten Knecht von Bauer B um. Daraufhin sammelt Bauer B eine kleine Mannschaft und zündet die Scheune von Bauer A an. Ganz nebenbei vergewaltigt er Bäuerin A …«. Eins fällt auf: Die isländische Grammatik ist der deutschen eng verwandt, es gibt nur noch ein paar Fälle mehr, und es gibt indirekte Rede und Konjunktive und all diese schönen Dinge. Aber so ungefähr die Hälfte der Leute, die heutzutage aus dem Isländischen übersetzen, handelt nach der Devise »Nieder mit der Diktatur des Konjunktivs!« und kennt offenbar keine andere Verbform als »würde«. Ein Blick ins Original zeigt, dass dort grammatisch korrekt verfahren wird. Wörter, die nicht so ganz leicht zu übersetzen sind, behalten die Übersetzenden derzeit oft lieber bei. »Wir backen Kleinur«, heißt es in einem Buch. Kleinur ist eine Art Schmalzgebäck, das steht da aber nicht. Und den Unterschied zwischen Psalm und Choral haben sie auch nicht kapiert. Das ist im Isländischen dasselbe Wort, aber die Psalmen stehen im Alten Testament und werden von Kirchenchören eher selten gesungen. Das soll jedoch niemanden vom Lesen abhalten. Die hier erwähnten Bücher sind einfach viel zu gut, ihnen kann auch die bisweilen schlampige Übersetzung nichts anhaben. Es sollte nur einmal gesagt werden, damit nachher niemand behaupten kann, nicht gewarnt worden zu sein, und einige Verlagslektorate vielleicht in einen Duden investieren.