Die Anti-Atom-Proteste

Aber der Wagen, der rollt

Mit der Suche nach einem atomaren Endlager möchte die Bundesregierung den Eindruck erwecken, das Atomzeitalter komme in Deutschland an ein Ende. Doch von einem wirklichen Ausstieg aus der Atomenergie ist man noch weit entfernt. Im Wendland setzen die Atomkraftgegner ihren Widerstand fort.

Von Medien und Politik wird leicht der Eindruck vermittelt, mit der nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima vollzogenen Wende in der deutschen Atompolitik – von der schwarz-gelben Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke zurück zum rot-grünen Atomgesetz – sei die Epoche der Atomenergie in der Bundesrepublik bald beendet. Bei genauerer Betrachtung erweist sich der »Atomausstieg« allerdings als aus strategischen Gründen inszeniertes Trugbild. Schließlich gibt es neben den neun verbleibenden Atomreaktoren, von denen sechs de facto eine Weiterbetriebsgarantie für mindestens zehn Jahre haben, zahlreiche Akteure in der bundesdeutschen Atomindustrie, die, im Schatten des sogenannten Ausstiegs, weiterhin unbehelligt ihre Geschäfte betreiben.
So ist ein Ausstieg der Bundesrepublik aus der seit 1957 bestehenden europäischen Atomgemeinschaft Euratom bisher nicht geplant. Ziel des Euratom-Vertrags ist »die schnelle Bildung und Entwicklung von Nuklearindustrien«. Dabei werden beispielsweise Kredite für den Bau und die Erneuerung von Atomkraftwerken gewährt. Ohne diese Kredite wäre die Modernisierung von Reaktoren in Osteuropa undenkbar. In der Forschung setzt die Atomgemeinschaft ihren Schwerpunkt auf die Weiterentwicklung der Kernfusion. In diesem Zusammenhang stehen auch der Bau und der Betrieb des Experimental-Fusionsreaktors Iter im südfranzösischen Cadarache.

Im westfälischen Gronau wiederum ist eine Urananreicherungsanlage in Betrieb, deren Kapazitäten in den vergangenen Jahren sehr stark erweitert wurden. Sie reichen nun aus, um 21 große Atomkraftwerke mit angereichertem Uran zu versorgen. Derzeit wird daran gearbeitet, die Kapazitäten weiter zu erhöhen, um letztlich die Versorgung von 31 Kraftwerken zu gewährleisten. Damit können etwa elf Prozent des Uranbedarfs auf dem nuklearen Weltmarkt gedeckt werden. Dabei fallen große Mengen abgereicherten Urans an. Allein zwischen 1996 und 2008 wurden aus Gronau rund 27 300 Tonnen dieses »strahlenden Mülls« nach Russland exportiert, wo er in rostenden Fässern unter freiem Himmel lagert. Auch im niedersächsischen Lingen wird weiter für den nationalen und internationalen Nuklearmarkt produziert. Dort befindet sich eine Brennelementefabrik des französischen Atomkonzerns Areva, in der atomare Brennstäbe für Druck- und Siedewasserreaktoren hergestellt werden.
Und bei den staatlichen Exportkreditgarantien, den sogenannten Hermesbürgschaften, ist im Hinblick auf Atomgeschäfte ebenfalls keine Wende abzusehen. Weiterhin werden diese Garantien für deutsche Unternehmen, mit denen sich der Staat verpflichtet, bei ausbleibenden Zahlungen ausländischer Geschäftspartner einzuspringen, auch für nukleare Exportgeschäfte vergeben. So hat die Bundesregierung Ende September ihre Grundsatzzusage über 1,3 Milliarden Euro für das Atomkraftwerk Angra 3 in Brasilien erneuert, an dessen Bau der deutsche Konzern Siemens beteiligt ist. Diese Zusage erfolgte, obwohl der Standort zwischen Rio de Janeiro und São Paulo in einer erdrutschgefährdeten Bucht an der Atlantikküste liegt und nach einem jahrelangem Baustopp erhebliche Zweifel an der Sicherheit des künftigen Reaktors bestehen.

Somit ist auf Bundesebene zwar derzeit die Einstellung des Betriebs der Atomkraftwerke geplant, aber gleichzeitig wird weiter an einer Entwicklung von Atomtechnologie gearbeitet, werden Reaktoren mit atomaren Brennstoffen versorgt und der Bau von Atommeilern im Ausland wird mit Staatshilfen finanziert. Von einem Ausstieg aus der Atomkraft kann daher nicht die Rede sein. Vor diesem Hintergrund eines medial simulierten Ausstiegs lud Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) vergangene Woche die Landesregierungen ein, mit ihm über ein Verfahren zur Suche nach einem nationalen Atom­endlager zu sprechen und ein Endlagersuchgesetz vorzubereiten. Bis zum Sommer 2012 wollen Bund und Länder gemeinsam eine juristische Grundlage für die Bestimmung des zukünftigen Standorts vorlegen. Eine Arbeitsgruppe mit Vertretern aus acht Bundesländern wurde zu diesem Zweck eingerichtet. Das Gesetz soll Kriterien für die Auswahl enthalten – etwa, welche Gesteinsschichten geeignet sind – und klären, in welchem Fall die Lagerung rückholbar geplant werden muss.

Bei der Suche nach einem Standort für das atomare Endlager ist die Regierung nicht weniger inkonsequent als beim Atomausstieg. Bei der Pressekonferenz sprach Röttgen von einer »weißen Landkarte«, als ob es keine Vorentscheidungen gäbe, doch scheint man sich ein dickes rotes Kreuz über dem wendländischen Gorleben hinzuzudenken. Dort wurden in dem seit 35 Jahren untersuchten Salzstock bereits rund 1,6 Milliarden Euro verbaut. Unter dem Deckmantel der Forschung wurden auch Arbeiten zur Vorbereitung eines Endlagers vorgenommen. Und während der Beratungen über Kriterien für die Standortbestimmung wird im Salzstock weiter gebuddelt. Erst ein Baustopp in Gorleben würde auf eine ernsthafte Prüfung von Alternativen schließen lassen. Zwar sagte Röttgen: »Es muss klar sein, dass über keinen Standort, und auch nicht über Gorleben, entschieden wird, wenn es nicht zuvor einen Vergleich mit einem anderen Standort gegeben hat.« Gleichzeitig hat er jedoch einen Auftrag für eine »Vorläufige Sicherheitsanalyse Gorleben« an Wissenschaftler vergeben, die als Befürworter dieses Standorts gelten.
Als Gorleben einst als möglicher Endlager­stand­ort ausgewählt wurde, geschah dies primär aus politischer Opportunität und weniger nach geologischen Gesichtspunkten. Im strukturschwachen Wendland in Grenzlage zur damaligen DDR wurde mit wenig Widerstand gerechnet. Dies geht eindeutig aus den einst vom ehemaligen Umweltminister Siegmar Gabriel (SPD) veröffentlichten Unterlagen zum Auswahlverfahren hervor. Ein ernsthafter Neubeginn der Endlagersuche hätte zur Vorraussetzung, dass Gorleben, dessen Salzstock offensichtlich ungeeignet ist, als möglicher Standort aufgegeben wird. Doch so wie die schwarz-gelbe Bundesregierung keinen Ausstieg aus der Atomenergie organisiert hat, will sie sich auch nicht von Gorleben verabschieden. Mit dem nächsten Castor-Transport, der in dieser Woche aus La Hague in das Wendland rollt, werden weitere Fakten geschaffen, indem erneut zusätzlicher Atommüll ins Zwischenlager gebracht wird.
Für diejenigen, die nicht an die Mär vom deutschen Atomausstieg glauben und auf einen Rückzug von allen Geschäften mit der Atomtechno­logie drängen, sind die Proteste gegen den Castor-Transport ein wichtiger Bezugspunkt ihres Widerstands. Seit Mittwoch rollt der Zug mit dem Atommüll aus der Wiederaufarbeitung Richtung Dannenberg. Nach der Umladung des Mülls am Verladekran führt die Schlussetappe über die Straße zum atomaren Zwischenlager nach Gorleben. Sowohl entlang der Bahnstrecke als auch auf dem Straßenabschnitt werden wieder verschiedene Gruppen versuchen, den Transport auf verschiedene Arten zu stoppen. Davon zeugen die zahlreichen Camps entlang der Route im Wendland, die im Internet angekündigt wurden.