Roman Polanskis Film »Der Gott des Gemetzels«

Einladung zum Kotzen

Roman Polanski verfilmt den Broadway-Klassiker »Der Gott des Gemetzels«. Aber wen interessieren heute noch die Befindlichkeiten des aussterbenden Bürgertums?

Dass unter der dünnen Decke der Zivilisation einer bürgerlichen Mittelschicht, wie man sie kannte, Terror und Gewalt lauern, ist eine Binsenweisheit, die auch die Popkultur kennt. Peinlich ist das Bürgertum darauf bedacht, die selbstgeschaffenen Codes einzuhalten, und sei es bis über den Tod hinaus. Wer hätte dies schöner zusammenfassen können als Kathleen Turner, die als psychopathische Hausfrau in John Waters’ »Serial Mom« ihre Nachbarin durch den Wolf dreht und sagt: »She doesn’t recycle« – sie trennt den Müll nicht.
Weder das Theater noch das Kino noch die Karikatur verschweigen uns, was die steuerzahlenden Stützen der Gesellschaft so treiben. Deshalb begegnen uns die Mütter vom Kollwitzplatz oder die Rechtsanwälte aus Freiburg-Vauban als Figuren in Komödien und Comedy so oft. Und diese Leute sind es auch, die dann selbst am lautesten über sich lachen. Ist die Humortherapie vorbei, fahren sie mit dem richtigen Auto davon.
Um diese Klientel geht es auch in Yasmina Rezas erfolgreichem Theaterstück »Der Gott des Gemetzels« aus dem Jahr 2006: Zwei mehr oder weniger junge, gut situierte Paare treffen sich, um über die Gewaltattacken des einen Kindes gegen das andere zu sprechen. Der elfjährige Sohn hat seinen gleichaltrigen Kameraden nach einem Streit auf dem Spielplatz derart verprügelt, dass dieser zwei Zähne verloren hat.
Nun riskieren die Elternpaare die dicke Lippe. Die Mutter des Schlägers – dies ist eine zentrale Szene des Stücks – geht gar so weit, in die fremde Bude zu kotzen. Irgendwas ist ihr wohl nicht bekommen.
Seit der Uraufführung gilt die Rolle der kotzenden Mutter als Paraderolle. Die deutsche Schauspielerin Sunnyi Melles soll sich bisher am besten in die französische Orginalfassung eingefühlt haben: Mutter erbricht unter dem Druck der bürgerlichen Verhältnisse. Damit diese Szene nun auch im Kino Weltgeltung erlangt, hat sich niemand Geringeres als Roman Polanski in Zusammenarbeit mit der Autorin daran gemacht, das Stück zu verfilmen. Er hat Jodie Foster, John C. Reilly, Kate Winslet und Christoph Waltz in ein aufgeräumtes Wohnzimmer gesteckt, damit sie ihren Emotionen mal so richtig freien Lauf lassen.
Wenn sie aus dem Fenster sehen, sehen sie New York. Aber die Stadt vor den Fenstern ist nur Fotokulisse, gedreht wurde in Paris, weil sich Polanski bis heute nicht in den USA sehen lassen kann. Dort droht ihm seit Jahrzehnten ein Verfahren wegen Sex mit einer Minderjährigen – das ist doch mal ein antibürgerlicher Subtext.
Nichts da. »Mir ist schlecht!« flüstert es, denn diesmal hat Kate Winslet das Falsche gegessen. In hohem Bogen über Tisch und Stühle hinweg erbricht die Anlageberaterin und Hooligan-Mutter Nancy Cowen. Mit ihrem Mann, dem Wirtschaftsjuristen Alan (Christoph Waltz), hat sie das Ehepaar Penelope (Jody Foster) und Michael Longstreet (John C. Reilly) aufgesucht. Man will zu einer Verständigung kommen: Die ausgeschlagenen Zähne zu ersetzen kostet viel Geld, und so dicke haben es die Longstreets nicht.
Sie wären durchaus gern dort, wo die Cowens schon sind. Michael ist Eisenwarenhändler, seine Frau findet Geld zwar wichtig, schreibt aber doch lieber an einem Buch über die Darfur-Katastrophe. Michaels Zugang zum Problem ist eher handfester Natur, er hat sich früher selbst in den Straßen von Brooklyn geprügelt. Penelope ist die rigide Spaßlosigkeit der weltrettenden Entwicklungshelferin nicht fremd. Jodie Foster spielt immer diesen Typus Frau mit starrem Gesichtsausdruck und Denken, ein knallharter Gutmensch in eigener Sache. Leicht angestaubt wirkt diese Vorstellung schon. Das Berückendste ist noch, dass man bezweifelt, dass es sich um eine Inszenierung handelt.
Das gegnerische Paar besteht aus großspurigen Besserverdienern. Die neurotische Nancy pudert sich die Nase und kaut sich den Lippenstift ab. Das teuerste Rennpferd der kleinen Nachmittagsgesellschaft ist ihr Mann Alan, dessen Smartphone ständig bimmelt. Offensichtlich hat er Sorgen mit jenem Pharma-Konzern, dem er seine Seele verschrieben hat. Die Long­streets nehmen es genervt zur Kenntnis. Sie wollen eine Entschuldigung, eine Einigung – irgendwas, mit dem auch Jodie Foster weiterleben kann, ohne das Gesicht zu verlieren und die Stadt in Schutt und Asche zu verwandeln.
Mehrmals verabschiedet man sich, erklärt die Verhandlungen mal für gescheitert, mal für vertagt. »Sind wir nicht alle erwachsene Menschen?« ist so ein Satz, der dann zur Beschwichtigung fällt. Alan, der alte Business-Hai, kommentiert die Eskalation: Die Menschheit sei nun mal schlecht, sie bete den »Gott des Gemetzels« an.
Das kaum geschnittene Kammerspiel inszeniert Grenzüberschreitungen. Man telefoniert nicht mit den Geschäftskumpeln, wenn der Sohn Scherereien macht. Man wird nicht laut oder unverschämt oder missversteht den anderen. All dies passiert hier ständig.
Zur Steigerung der Dynamik kommt nun – wenig originell – die wichtigste Actrice ins Spiel: eine Flasche Schnaps. Im angetrunkenen Zustand nimmt man es mit der Lagerzugehörigkeit nicht mehr so genau. Penelope und Alan gegen Michael. Nancy mit Michael gegen Penelope. Schreien, heulen, würgen. Vorwürfe, Attacken, Geschimpf. Vor einiger Zeit noch wären sie vielleicht alle miteinander ins Bett gegangen.
Der Film verabschiedet eine obere und untere Mittelklasse, von der fraglich ist, ob sie nicht auch zu den Leidtragenden dieser neuen Welt gehört, ist doch ihr Innenleben stark aus den Fugen geraten. Mit sich selbst konfrontiert, enthüllt sie ihren gewalttätigen Charakter, ihre Mechanismen der Gefühlsunterdrückung. Hat nicht Michael neulich einen Hamster ausgesetzt?
»Oh, ich hasse diese Viecher!«
»Wie können Sie nur, Sie Schuft!«
Nach außen mal öko, mal leistungsbereit, protestantisch, ebenso überschwenglich wie bipolar – aber immer uneigentlich: Da macht sich doch Mitleid mit den Figuren breit. Hier werden entfremdete Menschen gezeigt. Das sieht eher traurig denn lustig aus. Eine zeitgemäße Inventur zum Zweck des Erkenntnisgewinns müsste wohl anders beschaffen sein. Was würde Charlotte Roche aus diesem Stoff machen?
Den Rest kennt man von Freunden. Die Situationskomik wird immer öder und vorhersehbarer: Die Betrunkenen stolpern über Zeitungsständer, man lockert die Krawatte, die Schminke verschmiert. Man schauspielert hölzern und berechenbar, bis zum Ende. Ein Feuerwerk an Gags, die nicht zünden.
Hier soll der Bürger über den Bürger lachen. Was so seit fünf Jahren frenetisch bejubelt wird, ist hier ein antiquiert wirkendes Stückchen Boulevard im Zeichen vermeintlicher Hochkultur. Die ist ja oft etwas überreizt.

Der Gott des Gemetzels (D/F/SP/P 2011). Regie: Roman Polanski. Darsteller: Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz, John C. Reilly. Start: 24. November