Die Ausstellung »Reconsidering Roma« in Göttingen

Über Roma

Eine Ausstellung in Berlin zeigt Werke von Künstlern, die sich mit kulturellen Zuschreibungen und politischer Repräsentation von Roma in der Gegenwart und in der Vergangenheit beschäftigen.

Im Oktober dieses Jahres räumte die Polizei in Essex im Einzugsgebiet von London einen Wohnwagenplatz. Das Land gehörte zu diesem Zeitpunkt den Bewohnern, auch wenn sie noch nicht über eine offizielle Erlaubnis verfügten, sich auf dem Land niederzulassen oder es zu bebauen. Berichte über diese bürokratische Absurdität und die Bilder von der brutalen Räumung führten dazu, dass die Opfer dieser Polizeiaktion, die Irish Travellers, europaweit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückten.
Irish Travellers sind eine eigene soziokulturelle Gruppe mit nomadischem Lebensstil. Darin ähneln sie den aus Süd- und Südosteuropa stammenden Roma. Einige Roma wiederum hatten sich in einem Bidonville in der Nähe von Paris angesiedelt. Ihre Siedlungen waren bereits im September auf Weisung von Nicolas Sarkozy geräumt und sie selbst nach Rumänien abgeschoben worden.
Bidonville, das bedeutet Slum, Kanisterstadt oder Barackensiedlung. Eine Art Bidonville, ein Flüchtlingslager, auf mutmaßlich verseuchtem Boden, gibt es auch in Osterode im Kosovo, wo Roma leben, die aus der BRD abgeschoben wurden. Ein Bidonville entwickelte sich auch im Sommer dieses Jahres im Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg, nachdem zugewanderte Roma aus überbelegten Wohnungen vom Vermieter gekündigt und einfach auf die Straße gesetzt worden waren.
In Osterode wie in anderen Siedlungen können abenteuerlustige Touristen jetzt eine authentische Erfahrung machen: »Hotel Gelem – Embedded Tourism« heißt das Projekt der beiden Schweizer Künstler Christoph Wachter und Mathias Jud, die Touristen in Romasiedlungen unterbringen und derzeit an der Kunstausstellung teilnehmen, die am 11. November im Kunstquartier Bethanien eröffnet wurde.
»To consider« bedeutet »jemanden zur Kenntnis nehmen« oder »beachten«. Warum die Ausstellung und das gleichzeitig erschienene Buch den Titel »Reconsidering Roma« tragen, erschließt sich daher nicht unmittelbar, denn eigentlich wurden sie noch nie so richtig beachtet, zumindest nicht im positiven Sinne, die Roma, die Sinti, die schätzungsweise seit dem 17. Jahrhundert in Deutschland leben, oder die, endlich hat man von ihnen gehört, Irish Traveller. Immerhin gehören insgesamt mehr als zwölf Millionen Menschen dieser größten Minderheit Europas an.
»Wir wissen immer, was gut für sie ist und was schlecht, wir reden immer über sie«, sagt ein Besucher beim Schlendern durch die Ausstellung und macht damit selbst genau das, was er gerade kritisiert. In der Videoarbeit »Bolek« von Tamara Grcic gibt eine junge Romni Einblicke in ihre Lebens- und Gedankenwelt.
Der im 2003 verstorbene Maler Karl Stojka wurde als Sohn einer steiermärkischen Rom-Familie geboren und überlebte wie seine Schwester mehrere Konzentrations- und Vernichtungslager. Die Ausstellung präsentiert eine Auswahl seiner expressiven, naiven Malerei, mit der er seine Erfahrungen im KZ verarbeitete. Seine Schwester Ceija Stojka, die in ihrem 1988 veröffentlichten Buch »Wir leben im Verborgenen« als eine der ersten auf die Roma-Verfolgung im »Dritten Reich« aufmerksam gemacht hat, ist mit Tuschezeichnungen aus der Serie »Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz« und in einem Videofilm in der Ausstellung vertreten.
In der Mitte des Ausstellungsraumes platziert ist die verstörende Installation der britischen Künstlerin Delaine le Bas, die in vielen ihrer Arbeiten ihre Identität als Roma reflektiert hat. In einem Stoffpavillon liegen kindsgroße, verschleierte Puppen. Ein Kind wird von einem Spielgefährten mit einer Guillotine enthauptet. »Witch Hunt«, also Hexenjagd, heißt die Arbeit. Die Puppen sind in wild gemusterte oder grell bunte Stoffe gewickelt, Hauben, die an die Mützen des Ku-Klux-Klan erinnern, verbergen ihre Gesichter. Die Puppen strahlen nichts von der Geborgenheit kindlicher Lebenswelten aus, sondern Grausamkeit und Angst. Die Bedrohung erwächst auch aus dem Inneren des Pavillons, der an einen orientalischen Hochzeitsbaldachin erinnert und somit an den Umstand, dass viele Romakinder von ihren Familien dazu angehalten werden, sehr früh zu heiraten, bisweilen sogar vor dem Eintritt der Pubertät.
»Bei uns ist ein Mann König«, sagt Bolek in dem gleichnamigen Video von Tamara Grcic. Mit ihren kurzen Haaren, ihrem Namen und ihrem Auftreten versucht sie, möglichst männlich zu wirken. »Er darf alles machen, aber eine Frau nicht.«
Aber um einen kritischen Blick auf Traditionen und kulturelle Praktiken soll es in der Ausstellung nicht gehen, sondern um Fremdzuschreibungen, Repräsentationen und Klischees. Aber auch um die schlechten Lebensbedingungen, unter denen die meisten Roma nach wie vor zu leben gezwungen sind. Die Fotos von Christoph Wachter, Matthias Jud und Nihad Nino Pušija sprechen in dieser Hinsicht eine beredte Sprache. Und über all dem Elend schwebt die blaue Europaflagge mit dem Schriftzug »Safe European Home?«
Nein, keinesfalls ist Europa eine sichere Heimstatt. Für Roma nicht, für andere Bevölkerungsgruppen auch nicht. »Rom bedeutet Mensch«, sagte ein Redner während der Vernissage, »wenn wir von Nicht-Roma sprechen, wovon reden wir dann eigentlich?« Roma gehören zu den am häufigsten von Diskriminierung und Übergriffen bedrohten Menschen, sowohl in Bulgarien als auch in Ungarn und Tschechien. Die Lebensbedingungen der Irish Travellers sind so schlecht, dass nur ein Prozent von ihnen ein Alter von 65 Jahren erreicht.
Die Ausstellung hat den Anspruch, stereotype Sichtweisen auf Sinti und Roma zu entlarven und Bezug zu nehmen auf ihre gegenwärtige Situation in Europa. Die in der Schau vertretenen Roma-Künstler zumindest entsprechen keinem Klischee. Der Fotograf und Journalist Nihad Nino Pušija aus Sarajewo, der aus der BRD ausgewiesene Roma im Kosovo fotografiert hat, lebt seit fast 20 Jahren in Berlin. Daniel Baker, ein in den letzten Jahren bekannt gewordener Künstler aus Großbritannien, der »Verfasser« einer Installation, die sich »Mirrored Books« nennt, ist nicht nur Kind einer English-Gypsie-Familie, sondern auch promovierter Soziologe und Teilnehmer der Biennale. So erfreulich es ist, wenn Menschen erfolgreich sind, so sind sie im Augenblick des künstlerischen Erfolgs nicht mehr nur Teil ihrer Gruppe, sondern auch Teil des Blickes, der sich auf diese richtet.
Das einzige, was einen mit einem wirklich unangenehmen Gefühl nach Hause gehen lässt, ist die Tatsache, dass die Ausstellung und dazugehörige Symposium durch die Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung und die Allianz-Versicherung möglich wurden. Ausgerechnet die Allianz: Der Versicherer, der sich noch immer mit den Vorwürfen jüdischer Überlebender konfrontieren lassen muss, vom Holocaust profitiert zu haben.

Reconsidering Roma. Kunstquartier Bethanien, Berlin.
Bis 11. Dezember

Lith Bahlmann/Matthias Reichelt: Reconsidering Roma.Aspects of Roma and Sinti-Life in Contemporary Art. Wallstein, Göttingen 2011, 192 Seiten, 19,90 Euro