Ein Nachruf auf die FAZ als konservatives Zentrum

Bei der Linken abgeguckt

Das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat die Kapitalismuskritik entdeckt. Dass die FAZ zum linken Kampfblatt wird, ist allerdings nicht zu befürchten.

Frankfurt, Hellerhofstraße, November 2012. Hinter riesigen zu Barrikaden zusammengeschobenen Zeitungspapierrollen verschanzen sich – unzureichend bewaffnet – die Feuilleton-Redakteure der FAZ. »Nein, wir geben das Blatt nicht her! Alle Macht dem Redaktionsstatut«, rufen sie.
Im Auftrag des Redaktionsratsvorsitzenden Frank Schirrmacher schreibt Subcomandante Nils Minkmar einen Text über die Verderbtheit der Banken. Währenddessen redigiert Sandra Kegel das Wort »national« aus einem Artikel von Lorenz Jäger heraus, in welchem Jäger die »Volksgenossen« zum »totalen Krieg gegen die herrschenden Systemzwänge« aufruft. Gerhard Stadelmaier berichtet begeistert über eine Aufführung von Brechts »Maßnahme« im Frankfurter Stadttheater, wobei er besonders die schauspielerischen Fähigkeiten einer »halbnackten Genossin« hervorhebt. Edo Reents murmelt umstürzlerische Texte der Goldenen Zitronen, Dieter Bartetzko singt revolutionäre Lieder von Franz Josef Degenhardt, Felicitas von Lovenberg überprüft den kommunistischen Gehalt von Enzensbergers Lyrik, Andreas Platthaus studiert den Kapitalismus in Entenhausen und Dietmar Dath sucht angesichts der revolutionären Unordnung nach Lenins Schrift »Wie man arbeiten muss!« im Internet. Nur Henning Ritter ist von seinem inneren Entsetzen so paralysiert, dass ihm nicht einmal mehr ein Aphorismus einfällt. Bei Sonnenuntergang dagegen schaut Schirrmacher aus dem bereits arg zusammenkartätschten Feuilletonstockwerk des Zeitungsgebäudes stolz heraus auf seine wackeren Mannen, sieht sie in gewaltiger Schönheit kämpfen für die Sache, die seit einem Jahr auch ganz die seine ist, in seiner Hand ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwimmen.
Doch die Kräfte der Reaktion, die sich im dem Wirtschaftsressort vorbehaltenen Teil des FAZ-Gebäudes gesammelt haben, lassen sich von dem Kriegsgeheul der Feuilletonisten nicht abschrecken. Jetzt kommt ihnen zugute, dass sie jahrzehntelang die Rüstungsindustrie gelobhudelt haben, an frischen Granaten jedenfalls besteht kein Mangel.
Wird auf diese Weise der Weltuntergang, der ja bekanntlich am 21. Dezember kommen muss (siehe Disko, Seite 18), eingeläutet werden? Glaubt man den Kolleginnen und Kollegen in den Medienredaktionen, so wäre es möglich.

Nach Meinung vieler hat sich das Feuilleton der FAZ in den vergangenen Monaten nach links gewandt. Anzeichen dafür gibt es viele. Der Herausgeber des Feuilletons, Frank Schirrmacher, fragte sich selbst, ob die Linke nicht doch richtig liege in ihrer Interpretation der Welt; Lorenz Jäger, der bis dato eher rechts von der CDU stand, wollte plötzlich nicht mehr als Konservativer gelten; die Theoretiker Jens Becker, Wolfgang Streeck, Michael Hudson und David Graeber wurden zustimmend zitiert oder schrieben selbst über die Tücken des Kapitalismus. Dietmar Dath durfte an prominenter Stelle des Blattes den Sozialismus propagieren, Sahra Wagenknecht den Kapitalismus bekämpfen und Nils Minkmar, der seit diesem Monat der neue Feuilletonchef ist, griff den Verfassungsschutz angesichts seines Umgangs mit dem rechten Terror äußerst scharf an. Über die »Occupy«-Bewegung oder die Piratenpartei wird schließlich auffallend freundlich und ganz ohne die übliche Häme berichtet. Früher hätte die FAZ das alles für einen Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung gehalten.
Ist die FAZ also plötzlich zu einem linken Kampfblatt geworden? Hat das Blatt, das bislang zuverlässig den Willen des Kapitals verkündete, die Fronten gewechselt? Nein, das alles steht nicht zu befürchten. Der so genannte Linksschwenk des Feuilletons hat andere Gründe. Einer ist sicher, dass sich das Feuilleton der FAZ aus vielen Personen zusammensetzt. In dem jüngst erschienenen Interviewband »Alles fragen, nichts fürchten« berichtet Dietmar Dath, an dessen ernsthaftem Bemühen um den Sozialismus kein Zweifel bestehen kann, von der Schreibsituation in der FAZ. Die dort tätigen Feuilletonisten hätten – da sie verglichen mit anderen Zeitungen sehr viele sind – viel Zeit, um sich über ihre Spezialisierung hinaus zu bilden, so dass es vorkomme, dass ein eher konservativer Redakteur einen Artikel von Dath redigiere, und ihn darauf hinweise, dass er an einer Stelle nicht konsequent genug sei. Heißt: obschon es dem Weltbild des Kollegen widerspricht, versucht er, aus dem Text eines Linken einen guten linken Text zu machen. Dies selbstredend nur, um das denkbar beste Feuilleton zu haben. Diese Arbeitssituation aber erlaubt es Leuten wie Dath, in der FAZ kommunistische Theoretiker zu loben, ohne dass man ihm den Stuhl vor die Tür setzt.
So entsteht ein Feuilleton, in dem große Debatten stattfinden, zumindest auf den ersten Blick. De facto ist es allerdings oft so, dass Artikel, in denen konträre ästhetische oder politische Auffassungen vertreten werden, einfach nur nacheinander gedruckt werden. So kann sich eine jede und ein jeder die eigene Meinung bestätigen lassen und sich über andere Meinungen aufregen, ohne dass er dem Kulturteil vorwerfen kann, nur diese eine zu vertreten. Das sieht in den Ressorts Politik, Finanzmarkt und Wirtschaft allerdings grundsätzlich anders aus.

Im Wissen darum, dass man mit dem Feuilleton die größte Aufmerksamkeit erregen kann, wirft der zuständige Herausgeber Schirrmacher Jahr um Jahr neue Themen auf, seien es nun die Erwartungen der Demoskopen oder die Thesen über die Verblödung durch das Internet. Schirrmacher ist ein Blattmacher, er lebt von »Scoops«. Ein solcher »Scoop« ist es eben auch, wenn sich gleichzeitig den »Herrenreitern« des Feuilletons gezählt wurden, über linke Thesen streiten und den Kapitalismus grundsätzlich in Frage stellen. Doch dies allein reicht nicht hin, um zu erklären, warum im Feuilleton mal sozialdemokratisch, mal kommunistisch zum Sturm auf die freien Märkte geblasen wird.
Das Problem der Konservativen ist es, dass auch ihre Ansichten von dem Kapitalismus, in dem Meinungen und Moralvorstellungen nichts weiter als Handelsware sind, keinen Bestand haben. Jahrzehntelang glaubten die Konservativen, dass die kapitalistische Ökonomie die ihre ist, doch je mehr die Marktradikalen die Idee vom »guten Patriarchen«, der eine Firma zu leiten habe, preisgaben und nicht nur dem Proletarier und der Boheme, sondern auch der sogenannten Elite auf den Pelz rückten, desto mehr erschreckten sich jene, die noch an irgendwelche »Werte« glauben wollten. Dem Kapitalismus sind aber Glaubensfragen gleich welcher Art nicht dienlich. Wer sich für die Umwelt einsetzen will, dem kann man, solange es en vogue ist, alles als neu und ökologisch verkaufen, wenn derjenige jedoch auch dann auf seine Ansichten beharrt, wenn sie aus der Mode sind, wird er zum Störfaktor, indem er sich den Verkaufstrends verschließt und anderen die Kauflaune nimmt.
Da der Kapitalismus nun, nachdem er Millionen von Menschen um ihre Nahrung gebracht hat, auch den Mitgliedern der Elite den Rest von Geist rauben will, mögen einige ihre Augen nicht mehr vor dem Wesen des Kapitalismus verschließen. Sie merken, dass dieser kein natürlicher Verbündeter derer ist, die die »bürgerlichen Werte« hochhalten. Daher beginnen sie an ihm zu zweifeln. Ja, sie schauen sich an, was die Linke an Kritik vorzubringen hat. Sie wollen jedoch keine Linken sein – sie wollen ihren Konservatismus retten, notfalls unter Zuhilfenahme von linken Ideen. Ihr Problem ist: Sie haben die Fragen der Ökonomie seit ihrem Sieg über den Realsozialismus sträflich vernachlässigt. Nun schauen sie allerorten, wo sie möglichst schnell ihre Kritik schärfen können. Eben auch bei den Linken.