Der deutsche Konservatismus und die Wirtschaftsdemokratie

Die Wirtschaft ist nicht konservativ

Um die derzeitige Krise des deutschen Konservativismus zu verstehen, muss man auch die Geschichte der westdeutschen Wirtschaftsdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg betrachten. Dabei fällt auf: Beide haben sich noch nie vertragen.

Die Ausgangsbedingungen für die alte Bundesrepublik wurden 1948 mit der Verabschiedung des Marshall-Plans im Kongress der Vereinigten Staaten und durch die kurz darauf folgende Währungsreform in den drei westlichen Besatzungszonen geschaffen. Die Freiheit des neu zu schaffenden westdeutschen Staates sollte nach dem Willen der westlichen Siegermächte zuerst eine Freiheit der Wirtschaft sein. Für die Politik in den Westzonen erwuchs daraus das Problem, einen Staat zu schaffen, dessen Grundlage und Garantie die wirtschaftliche Freiheit war. Das ist die Ausgangslage der alten Bundesrepublik, und ihre in Amt und Macht eingesetzten bedeutendsten politischen Vollstrecker heißen – in dieser Reihenfolge – Ludwig Erhard, von 1949 bis 1963 erster Wirtschaftsminister, und Konrad Adenauer, im selben Zeitraum Bundeskanzler.
Wobei Adenauer als Chef Erhards formal zumindest das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft aufrechterhielt. Tatsächlich aber hatte Adenauer die Forderung der Alliierten nach der Etablierung einer Wirtschaftsdemokratie bestens verstanden und ganz im Sinne Erhards und seiner wissenschaftlichen Berater auch theoretisch den Vorrang der Wirtschaft vor der Politik akzeptiert. Man kann das in einem der konzentriertesten und deutlichsten Texte Adenauers nachlesen, in seinem Vorwort zu Wilhelm Röpkes 1950 erschienenem Buch »Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig?«. Um den bundesrepublikanischen Konservativismus, seine spezifischen Affekte und bis heute wirkenden Vorurteile überhaupt in den Blick zu bekommen, muss man erklären, wer dieser Wilhelm Röpke war und wofür er steht.

Röpke war einer der bedeutendsten Ökonomen der Weimarer Zeit und ein entschiedener Antikeynesianer, also ein radikaler Gegner jeder staatlichen Intervention in den Wirtschaftsprozess, um die unvermeidlichen Krisen des kapitalistischen Wirtschaftens durch Konjunkturprogramme abzumildern. Röpke beriet den Reichskanzler Kurt von Schleicher und wäre Wirtschaftsminister geworden, wenn nicht Hitler Schleicher abgelöst hätte. 1933 musste Röpke ins Exil gehen, landete schließlich in Genf, wo er 1966 als hochgeachteter Wirtschaftswissenschaftler starb.
Auch in Genf gehörte Röpke zum erweiterten Kreis der Freiburger Schule der politischen Ökonomie, aus der die einflussreichsten wirtschaftspolitischen Berater der Regierung Adenauer-Erhard kamen. Begründet hatte die Freiburger Schule Walter Eucken, der 1927 in Freiburg Professor geworden war und dort 1936 die Zeitschrift Ordo gründete. Der »Ordoliberalismus«, die deutsche Spielart des ökonomischen Neoliberalismus, hat daher seinen Namen. Eucken war wie Röpke Antikeynesianer, die Nazizeit hatte er in Freiburg überstanden, indem er zur Politik schwieg. Philosophisch und wissenschaftstheoretisch war Eucken stark von der Phänomenologie Edmund Husserls beeinflusst, Martin Heidegger hielt er dagegen für einen Irrationalisten. Die offene Gegnerschaft zu Heidegger und die Erfahrungen des Exils vieler Mitglieder der Freiburger Schule verband diese nicht nur äußerlich mit der Frankfurter Schule. Über die Gemeinsamkeiten und ihre teils auch im Exil aufrechterhaltenen Vernetzungen wurden die beiden Schulen zu den einflussreichsten über die Universitätspolitik agierenden Intellektuellenverbänden.
Es bestand eine persönliche Beziehung zwischen Max Horkheimer und Theodor Heuss, der von 1949 bis 1959 der erste Bundespräsident der Bundesrepublik war. Michel Foucault sprach daher in seinen im Februar 1979 in Paris gehaltenen Vorlesungen zur »Geburt der Biopolitik« von der »eigenartigen Nachbarschaft bzw. Parallelismus zwischen der Freiburger Schule oder den Ordoliberalen und ihren Nachbarn von der Frankfurter Schule«.

Wo aber waren außerhalb dieses Geflechts aus wirtschaftsliberalen Ökonomen und Sozialphilosophen – die zwar nach dem Krieg nie so links waren, wie sie selbst in ihren Geschichten aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung glauben machen wollten, aber bestimmt nicht konservativ oder rechts im Sinne des westdeutschen Konservativismus – die Konservativen? Sie waren, mit den Worten eines ihrer wichtigsten Intellektuellen, des Soziologen Helmut Schelsky, zerstreut über das zerstörte Reich und trafen sich in »lokal begrenzten Gesprächs- und Besinnungskreisen, um mit örtlich notwendig zufälliger Zusammensetzung eine ›Aufarbeitung‹ des Vergangenen zu versuchen«. Die Orte konnten dabei der 1948 in Düsseldorf gegründete »Rhein-Ruhr-Club«, ein Veranstaltungskreis, der das Gespräch zwischen Wirtschaft und Politik fördern wollte, das hessische Gut des Grafen Solms oder die »Academia Moralis e.V.« sein. In der »Academia Moralis« versammelten sich ab 1949 Freunde Carl Schmitts, die ihn in »seiner Arbeit und seinem Sein stärken« wollten.
Der zunächst im privaten Rahmen zusammentretende Kreis sollte sich mit der Zeit zu einem Verein entwickeln, der sich vornahm, »das Recht der Persönlichkeit im Massenzeitalter zu vertreten«. Dem Staatsrechtsprofessor Schmitt, der als »Kronjurist des Dritten Reichs« berüchtigt geworden war, war nach dem Krieg der Zugang zur bundesrepublikanischen Universität verstellt worden. Schmitt wirkte danach nur noch als Privatgelehrter von seinem Haus in Plettenberg im Sauerland aus, in dem er sich zu einem deutschen Machiavelli stilisierte, der aus dem aktiven politischen und wissenschaftlichen Leben verstoßen worden war. Allerdings war er alles andere als wirkungslos. Der Historiker Dirk van Laak hat die Wirkung Schmitts in der besten Studie zur Genese des westdeutschen Konservativismus unter dem Titel »Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik« minutiös nachgezeichnet und überhaupt erst der Allgemeinheit zugänglich gemacht.
Man kann aus all dem die wesentlichen Merkmale der westdeutschen Konservativen herauslesen. Sie hatten im Unterschied zu Freiburger und Frankfurter Schule kein Zentrum, weder räumlich noch intellektuell, und ihnen fehlte jede Exilerfahrung. Trotzdem lebten sie in dem dumpfen Gefühl des Verlustes. Man hatte ihnen ihr Reich genommen und – was genauso schwer wog – den treuesten und unbestechlichsten Menschentyp, den die Welt je hervorgebracht hat: den preußischen Beamten. Auf die Frage, wer ihnen das denn nun genommen hatte – die Juden? die Kommunisten? die Sozialdemokraten? – fanden sie aber nie eine Antwort, dafür redeten sie – und tun es immer noch – viel vom »Schicksal«, von der »Geworfenheit des Seins« und von »Vermassung«.
Daraus folgt ein weiteres Merkmal der Konservativen: Sie waren immer irgendwie leicht beleidigt. So gab zum Beispiel der Soziologe Helmut Schelsky seinen Erinnerungen den Titel »Rückblicke eines ›Anti-Soziologen‹«. Zur wirklichen Affirmation des Bestehenden konnten sie sich nach dem Untergang Preußens nicht mehr aufraffen. Dadurch hatten sie sich von Anfang an in der wirtschaftlich erstarkenden Bundesrepublik in ein selbstverantwortetes Dilemma gebracht, das sie heute komplett überflüssig gemacht hat, ohne dass sie damit freilich als handfeste Gefahr für Leib und Leben zahlreicher Menschen verschwunden wären. Es gilt nämlich für die Bundesrepublik die Regel, dass immer dann, wenn der national-rechte Flügel der Konservativen besonders laut wird, andere die Baseballschläger aus dem Schrank holen und ganz real Köpfe einschlagen. Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert hat angesichts der Sarrazin-Debatte daran erinnert, dass das laute Nationalgebrüll der konservativen Intellektuellen – also unter anderem von Günter Maschke, Gerd Bergfleth, Armin Mohler, Hans-Dietrich Sander und Hans-Jürgen Syberberg – nach der Wiedervereinigung von den größten Pogromen in der Geschichte der Bundesrepublik begleitet wurde.

Mit ihrem Affekt gegen die »Massen« brachten sich die Konservativen nicht nur gegen den Kommunismus in Stellung, sondern auch gegen den Kapitalismus. Dass der Kapitalismus, der heute nicht mehr nur potentiell global agiert, Vermassung bewirkt, steht außer Frage. Die Konservativen konnten aber nie etwas anderes als ihre Fetische entgegensetzen: von den Eliten, die führen müssen, von der Politik, die vor der Wirtschaft herrschen, von der Bildung, die im kleinen Zirkel den wenigen Auserwählten vermittelt werden muss, und von der Kultur, die aus der Nation hervorgeht und die Nation bildet. Der an die Nation gebundene Politikbegriff der Konservativen war es auch, der sie skeptisch auf die CDU blicken ließ, wenn sie regierte. Adenauers einseitige zuerst ökonomisch vollzogene Westintegration widersprach dem Reichsbegriff der Konservativen, Helmut Kohls Einführung des Euro nahm ihnen den Stolz auf die Deutsche Mark, die als Symbol nationaler Souveränität verstanden wurde. Und Angela Merkel fügt sich nun in die Reihe der Enttäuschungen ein, indem sie den Konservativen mit der Wehrpflicht einen der letzten klassischen nationalen Fetische genommen hat, den fürs Vaterland dienenden und sterbenden Soldaten, und aus ihm einen vor allem dem Geld dienenden und gehorchenden Söldner gemacht hat.
Dabei sind die konservativen Begriffe von Nation, Bildung und Institutionen durch und durch ahistorisch und inkohärent. Aus keinem dieser Begriffe folgt nämlich notwendig ein bestimmter Inhalt oder gar ein Wert. Man kann sie mit allem Möglichen füllen, so wie manche die konservative Aufforderung des Historikers Michael Stürmer, »wieder Charakter zu zeigen« und sich »tapfer« der Vergangenheit zu stellen, auch als Aufforderung verstanden, den Baseballschläger aus dem Schrank zu holen. Eine Perspektive, die den »feineren« unter den Konservativen wie dem Philosophen Arnold Gehlen oder dem langjährigen Geschäftsführer der Carl-von-Siemens-Stiftung, Armin Mohler, nie so richtig behagte. Als »Tat-Menschen« wollten sie nicht verstanden werden und als Denker braucht man sie heutzutage noch weniger.
Karl Jaspers hat, als er 1949 Armin Mohlers affirmative Dissertation über die faschistische »Konservative Revolution in Deutschland von 1918 – 1932« annahm, das gültige Urteil über den westdeutschen Konservativismus gesprochen, als er zu Mohler meinte: »Eigentlich dürfte ich Ihre Dissertation nicht annehmen. Aber es kommt ja nicht mehr auf Deutschland an, es kommt nur noch auf Amerika und Russland an.« Eine Diagnose, die man heute um einige Staaten erweitern müsste und mit dem Zusatz versehen, dass im heutigen Deutschland der Konservativismus – der nie eine Beziehung zur Wirtschaftsdemokratie und überhaupt zur Ökonomie aufgebaut hatte, sondern in erster Linie eine Gesinnung von Beamtencharakteren war – sich vor allen Dingen geschäftsschädigend auswirkt. Kein Wunder also, dass aus dem Verein austritt, wer bis drei zählen kann.