Der Roman »Deadwood« von Pete Dexter

Vergesst Bonanza

Von wegen Familienglück unterm Cowboyhut: In seinem Roman »Deadwood« schildert Pete Dexter die Brutalität des Wilden Westens.

Das letzte Kapitel von Pete Dexters Westernroman »Deadwood« trägt den Titel »Charley, Panamakanal«. Es ist das bewegendste und wohl auch pathetischste Kapitel. Nachdem Charley Utter die Stadt Deadwood verlassen hat, zieht es ihn, der »unter all den Americanos ein Fremder gewesen war«, weiter nach Süden, bis nach Panama. Dort eröffnet er einen Drugstore und macht, ohne es darauf abgesehen zu haben, ein Vermögen. Er bringt einem »kleinen Mädchen, das sich immer an seinem Finger festhielt«, das Lesen bei und erzählt dem Kind Geschichten von »den Amerikanern und den Orten, an denen sie lebten«. Anfangs sind die Geschichten lang und bunt, doch Charley wird älter und seine Augen werden trübe. Er reduziert seine Worte und fasst die Geschichten in wenige Augenblicke, weil ihm nichts anderes geblieben ist: »Eine Frau, die Kunststücke in der Luft vollbrachte (…), tote Kinder, die in seinen Knochen sprachen. Ein Mann, der Flaschen liebte.«
Neben den Wildwestgrößen Wild Bill Hickok und Calamity Jane ist Charley der eigentliche Held des Romans – ein kleingewachsener, eleganter, sanfter Mann, ein Sinnsucher und Melancholiker. Er passt tatsächlich nicht in den wilden, schmutzigen, stinkenden Westen, den der 1943 in Michigan geborene Pete Dexter nach allen Maßgaben literarischer Sinnlichkeit vor uns ausbreitet. Es ist eine Welt, in der alte Frauen einen Atem haben wie »Sumpfgas« und grobschlächtige Männer nach »toten Tieren« riechen, während sie leichenschwer auf einer Prostituierten liegen. Eine Welt, die selbst der schmuddeligste Italowestern nicht darstellen kann, weil sich Gerüche bis zu einem gewissen Grad zwar literarisch beschreiben, aber keinesfalls zeigen lassen.
Sämtliche Handlungsfäden laufen in Deadwood zusammen. Wer sich von dem Ort entfernt, kehrt früher oder später zurück. Deadwood übt eine magnetische Anziehungskraft auf die Romanfiguren aus. Man könnte sagen, dass die legendäre Goldgräberstadt in den Black Hills von South Dakota, die Dexter in ihrem Gründungszustand von 1876 beschreibt, die Hauptfigur des Buches ist.
Einerseits erscheint Deadwood als gewalttätige, korrupte, rassistische, gierige, ja, verkommene Wiege dessen, was man später einmal das »zivilisierte Amerika« nennen wird. Auf der anderen Seite ist diese an Saloons und Bordellen überreiche Stadt im Schlamm, in deren umliegenden Mienen Goldgräber ihr Glück für zwei bis drei Dollar am Tag suchen, während ihre Frauen und Kinder weit entfernt auf ihre Rückkehr warten, einfach nur, was sie ist: Die Zeiten sind rau, die Sitten roh, und genauso sind die Menschen in Deadwood, wo das Recht des Stärkeren gilt und ein Menschenleben wenig zählt.
Der ehemalige Journalist Dexter zeigt das gleich zu Beginn seines Romans prägnant und mit der ihm eigenen Lakonie, indem er uns den Kopf eines Indianers präsentiert, der von einem Mexikaner stolz von Saloon zu Saloon getragen wird. Dass der Mexikaner vom weißen Sheriff bald unter einem fadenscheinigen Vorwand und ohne sein verdientes Kopfgeld von 250 Dollar aus der Stadt gejagt wird, versteht sich in Deadwood von selbst. Man gewöhnt sich rasch an diese nach heutigen Maßstäben brutalen und brutal tiefen sozialen Abgründe. Ihr schieres Übermaß erzeugt Gewöhnung, vielleicht sogar eine gewisse Gleichgültigkeit, obwohl in und um Deadwood herum Männer, Frauen und Mädchen nicht bloß zusammengeschlagen, schwer angeschossen und erschossen, sondern auch vergewaltigt oder gar – wie die unglückliche chinesische Prostituierte China Doll – sadistisch ermordet werden.
Gebrochen wird die durchgängige Brutalität des Romans durch den trockenen, pointensicheren Humor des Autors. »Er könnte am Ufer des Rio Grande stehen und würde Mexiko verfehlen«, schreibt Dexter über einen wütenden Betrunkenen, der im Begriff ist, eine idiotische Schießerei zu beginnen. Schon im nächsten Satz schickt der Autor ein paar wirklich bemerkenswerte Gedanken von Charley Utter hinterher: »Es war eine der Eigentümlichkeiten des Lebens, dass der Moment, an dem ein normaler Mann zu kämpfen begann, der Moment war, auf den er am wenigsten vorbereitet war.«
»Deadwood« erschien in den USA bereits 1986 und machte Pete Dexter berühmt. Für die gleichnamige HBO-Serie diente das Buch als maßgebliche Vorlage, was auch mit Dexters spezieller Erzählkunst zu tun haben mag, die darin besteht, Erfundenes und Historisches so geschickt miteinander zu verbinden, dass man beide Ebenen kaum mehr voneinander unterscheiden kann. Diese Verwischung läuft mitten durch den Hauptplot, betrifft also auch die historisch verbürgten Hauptakteure, die wenig wären ohne ihre Taten, aber noch sehr viel weniger, wenn sie nicht allerlei Erfundenes denken und reden würden. Dexter verwendet einige Mühe darauf, seine Akteure aus ihrer »wahren« Geschichte heraus zu entwickeln, ohne sie uns dabei zu nahe kommen zu lassen. Eine gewisse Distanz soll bleiben.
Wild Bill Hickok, der berühmte Revolverheld oder, nach anderer Lesart, der »berüchtigte Menschenkiller«, ist und bleibt eine rätselhafte Figur. Selbst für seinen besten Freund Charley, mit dem Bill nach Deadwood kommt, um eigentlich nicht mehr zu tun, als der berühmte Wild Bill Hickok zu sein. »Im Duell war er eiskalt, ohne nachzudenken tötete er das, was vor ihm stand. Danach ging er fort, als hätte er nichts damit zu tun.« In der nüchternen Beschreibung Bills durch Charley spiegelt sich ein frappantes Unverständnis, ein Gefühl starker Befremdung, was auch deshalb bitter ist, da dieses Gefühl schließlich zur Trennung der Freunde führt. Charley versteht Bills Gleichgültigkeit nicht. Als Bill nicht etwa bei einem heroischen Duell den standesgemäßen Heldentod findet, sondern denkbar banal stirbt, weil ihm ein Verrückter aus nächster Nähe von hinten in den Kopf schießt, ist Charley nicht in der Stadt.
Und so erzählt »Deadwood« auch von der Trauerarbeit, die Charley, aber auch eine in jeder Hinsicht auf den Hund gekommene Calamity Jane zu leisten hat, nachdem sie der fixen Idee erlegen ist, mit Bill verheiratet gewesen zu sein. Dann ist da noch Bills tatsächliche Witwe Agnes Lake, eine ebenso muskulöse wie lebenskluge Trapezkünstlerin, die nach Deadwood reist, um Bills Grab zu besuchen. Charley verliebt sich in sie, ohne es recht zu wissen.
Nein, man kann wirklich nicht sagen, dass »Deadwood« ein herzloser Roman ist. Pete Dexter hat sehr viel übrig für all die verlorenen, kaputten, zumeist alkoholkranken und zusehends Richtung Wahnsinn driftenden Figuren. Am meisten Sympathie hegt er freilich für Charley, den pragmatisch begabten, einsamen Humanisten. Unmittelbar vor seinem Tod, viele Jahre nach seiner Zeit in Deadwood, erhält Charley einen Brief von Agnes – einen späten Liebesbrief. Das kleine Mädchen liest ihn vor, so gut es geht. Charley ist sehr bewegt. Das Mädchen sagt: »Er war ein freundlicher Mann und hatte eine lange Zeit gelebt, ohne geliebt zu werden, so wie alle Fremden –, aber alle Dinge haben ihre Zeit.«

Pete Dexter: Deadwood. Liebeskind, München 2011, 448 Seiten, 22 Euro