Domingo Tovar Arrieta im Gespräch über das gefährliche Leben von Gewerkschaftern in Kolumbien

»Über 3000 ermordete Gewerkschafter«

Wer sich in Kolumbien für die Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern einsetzt, lebt gefährlich. Das Land hat die höchste Mord­rate an Gewerkschaftsmitgliedern weltweit, Bedrohungen und Angriffe ereignen sich täglich. Auch Domingo Tovar Arrieta erhielt bereits mehrere Morddrohungen von Paramilitärs. Er ist Generalsekretär der Central Unitaria de Trabajadores (CUT), des größten Gewerkschaftsdachverbandes in Kolumbien. Im vergangenen Jahr wurde die CUT 25 Jahre alt. Die Jungle World sprach mit Arrieta über den Wandel der Wirtschaftsordnung, Arbeitskämpfe und die Repression in Kolumbien.

Wie hat sich die Gewerkschaftsarbeit in den 25 Jahren seit Gründung der CUT verändert?
Die CUT wurde 1986 als eine soziale und politische Organisation der Arbeiterklasse gegründet. Seitdem haben wir gegenüber allen Regierungen Kolumbiens politische Forderungen gestellt. Dass es zum Beispiel heute wieder ein eigenes Ministerium für Arbeit gibt (2002 war das Arbeitsministerium mit dem Gesundheitsministerium zusammengelegt worden, Anm. d. Red.), ist ein Erfolg des gewerkschaftlichen Kampfes der CUT. Seit ihrer Gründung hat es auf politischer, ökonomischer, sozialer, kultureller und ökologischer Ebene große Veränderungen gegeben, die selbstverständlich auch großen Einfluss – sei er positiv oder negativ – auf die Arbeiterklasse gehabt haben. Heute stehen wir vor einer Krise des kapitalistischen Gesellschaftsmodells, vor dem Verschwinden des beschützenden Wohlfahrtsstaats. Er wurde ersetzt durch eine transnationale Wirtschaft, die überall dort, wo sie hinkommt, die natürlichen Ressourcen ausplündert und zugleich die fundamentalen Rechte eines jeden Arbeiters abschafft.
Gewerkschaftsarbeit ist in Kolumbien sehr gefährlich, seit Gründung der CUT sind über 2 800 Gewerkschafter ermordet worden.
Leider ist in Kolumbien die gewerkschaftliche Betätigung die gefährlichste Aktivität, die man ausüben kann. Von allen Gewerkschaftern, die weltweit ermordet werden, stammen 69 Prozent aus Kolumbien. In den 25 Jahren des gewerkschaftlichen Kampfes haben wir einen sehr hohen Preis für unsere politische Überzeugung zahlen müssen. Die angesprochenen 2 800 Toten sind dabei ja nur diejenigen Gewerkschafter, deren Daten bereits komplett erfasst wurden. Aber es gibt viele weitere Tote, insgesamt sprechen wir von weit über 3 000. Derzeit arbeiten wir daran, auch deren Daten zusammenzutragen. Der Terror seitens der verschiedenen Regierungen und der Unternehmer war bisweilen so groß, das es Momente gab, in denen sich die Familien noch nicht einmal getraut haben, das Verschwinden oder den gewaltsamen Tod eines Gewerkschafters anzuzeigen. Um in Kolumbien weiterhin gewerkschaftlich aktiv zu sein, muss man sehr überzeugt sein.
Trotz schlechter Arbeitsbedingungen sind in Kolumbien nur sehr wenige Arbeiterinnen und Arbeiter gewerkschaftlich organisiert. Woran liegt das?
Die CUT hat derzeit etwa 550 000 Mitglieder. Aber grundsätzlich ist der Grad der gewerkschaftlichen Organisation in Kolumbien mit unter vier Prozent aller Beschäftigten äußerst niedrig. Dies hat unterschiedliche Gründe. Zum einen liegt das an der Gefahr, die mit gewerkschaftlicher Arbeit verbunden ist. Viele Unternehmen verweigern und verhindern aber auch den Aufbau gewerkschaftlicher Strukturen. Die Regierung ist per Verfassung zwar verpflichtet, das Recht auf freien Zusammenschluss zu schützen, aber sie tut es nicht.
In den vergangenen Jahren waren Arbeitskämpfe vor allem auf Kampagnen gegen Coca Cola oder zu Plantagen von Bananen und Ölpalmen konzentriert. Nun steht anscheinend die Ressourcenausbeutung thematisch an erster Stelle.
Vor einigen Jahren war die Landwirtschaft die Basis der kolumbianischen Ökonomie: Bananen, die afrikanische Ölpalme, Kaffee und Grundnahrungsmittel. Heute basiert die kolumbianische Wirtschaft auf der Förderung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Diese Entwicklung ist Teil des globalen ökonomischen Wandels. Denn die Förderung dieses Wirtschaftssektors hängt eng mit dem globalen Wettbewerb um die Energieproduktion zusammen. Heutzutage ist nicht mehr Erdöl das große Problem, sondern die Frage, wie elek­trische Energie produziert wird. Aus diesem Grund haben hier multinationale Firmen zum Beispiel Flussläufe geändert, um riesige Wasserkraftwerke zu errichten. Erdöl, Gas, Kohle, die ganzen mineralischen Rohstoffe sowie Wasserreserven, die zur Energieproduktion verwendet werden, also alles, was zum Energie- und Bergbausektor gehört, hat sich zum Rückgrat der kolumbianischen Ökonomie entwickelt. Das wäre keine schlechte Entwicklung, wenn dieser Sektor vom Staat gefördert und verwaltet würde. Aber all diese Ressourcen werden in Kolumbien von multinationalen Unternehmen ausgebeutet, derzeit sind es mehr als 150 Firmen. Und es sind die gleichen Unternehmen, die eine Verbindung zu den Morden an Gewerkschaftern haben, den Paramilitarismus unterstützen und Drogengeld waschen. Sie respektieren weder die souveräne politische Verfassung des Landes noch die hier geltenden Arbeitsrechte.
Juan Manuel Santos hat 2010 den bisherigen Präsidenten Álvaro Uribe abgelöst. Während Uribe die Gewerkschaften in die Ecke der Guerilla gestellt hat, betont die neue Regierung ihre wichtige Rolle in der Demokratie. Hat sich tatsächlich etwas verändert?
Sicher gab es Veränderungen, vor allem hinsichtlich des Umgangs des Staates mit den Gewerkschaften. Aber das ist eine Fassade. Die Paramilitärs und der Drogenhandel sind ja nicht verschwunden, sie haben nur ihr Vorgehen geändert. Das Gleiche gilt für die Korruption. Zwar schickt Santos gerade einige korrupte Politiker aus Uribes Regierung ins Gefängnis, weil die Korruption zu offensichtlich war. Aber sie existiert weiterhin, nur auf andere Weise. Die Regierungspolitik folgt weiterhin der Linie von Uribe. Die Arbeitsbedingungen verschlechtern sich weiter, es gibt keine Stabilität, keine soziale Sicherheit, keinen Gesundheitsschutz. Die aktuelle Regierung treibt das Outsourcing auf die Spitze.
Welche Rolle spielt der Paramilitarismus ­heute?
Der Paramilitarismus hat eine lange Tradition in sehr vielen Ländern, nicht nur in Kolumbien. Hier in Amerika haben eigentlich alle Länder eine Zeit der Militärdiktatur hinter sich, die von vermeintlichen Demokratien abgelöst wurde. In all diesen Ländern gab und gibt es Paramilitärs. Der Unterschied zu Kolumbien besteht darin, dass die Regierung unter Uribe von allen die engsten Verbindungen zu den Paramilitärs hatte. Es reicht, sich die Statistiken und Zahlen anzuschauen, wie viele Bürgermeister, Gouverneure und Abgeordnete wegen der »Parapolítica« (Verbindung zwischen Politikern und Paramilitärs, Anm. d. Red.) im Gefängnis sitzen. Uribe hat vor drei Jahren als Präsident die ranghöchsten Paramilitärs ausweisen lassen, um zu verhindern, dass öffentlich bekannt wird, wie tief er selbst in die »Parapolítica« verstrickt ist. Durch die Demobilisierung der Paramilitärs hat er den Paramilitarismus faktisch legalisiert. Er hat einen großen Mantel der Straflosigkeit für die Mächtigen des Landes erschaffen, die Namen der Paramilitärs reingewaschen und ihnen neue Identitäten verschafft.
Heutzutage sind die Paramilitärs nicht mehr hauptsächlich in den ländlichen Gebieten aktiv, sondern auch in den großen Städten. Dort versuchen sie, an den Universitäten und in den Vierteln, wo sich junge Leute organisieren, Räume zu erkämpfen. Auf dem Land tritt der Paramilitarismus aber weiterhin dort auf, wo sich multinationale Firmen ansiedeln, wo es natürliche Ressourcen gibt. Die obersten Beschützer der multinationalen Firmen sind die Paramilitärs.
Welche Bedeutung hat die internationale Zusammenarbeit für die Gewerkschaften in Kolumbien?
Wir arbeiten mit Organisationen auf der ganzen Welt zusammen. Das Wichtigste ist die internationale Kooperation der Arbeiter. Auf 15 von 18 Treffen der Internationalen Arbeiterorganisation, an denen die CUT teilgenommen hat, wurde die kolumbianische Regierung wegen der anhaltenden Gewalt gegen Gewerkschafter und der Verletzung von Arbeiterrechten verurteilt.
Viele Gewerkschafter, die im Exil leben, können das nur wegen der großen Unterstützung durch die internationale Arbeiterbewegung. Sie half uns, Zufluchtsorte für die Gewerkschafter und ihre Familien zu finden, damit sie am Leben bleiben. Wir hoffen, dass die internationale Arbeiterbewegung uns weiterhin hilft und unterstützt, bis es einen grundlegenden Wandel in Kolumbien gibt und unsere Kollegen hierher zurückkehren können.
Wie müsste so ein grundlegender Wandel aussehen?
Wie gesagt, befinden wir uns in einer Krise des kapitalistischen Gesellschaftsmodells. Es ist notwendig, eine Alternative zu diesem Modell zu schaffen, die einen Ausweg bietet aus den großen Problemen, mit denen sich die Arbeiter und die Leute allgemein konfrontiert sehen. In Kolumbien sind dafür mehrere Dinge notwendig: Erstens muss der Krieg beendet werden, und zwar von allen beteiligten Parteien. Man muss an einer politischen Agenda arbeiten, die einen Ausweg aus dem Konflikt bietet. Dies ist nur möglich durch strukturelle Veränderungen, die die soziale Ungleichheit und die extreme Armut, in der in Kolumbien mehr als 20 Millionen Menschen leben, so weit wie möglich reduzieren. Zudem brauchen wir eine wirkliche, partizipative Demokratie. Die Menschenrechte müssen respektiert werden, sowohl im persönlichen als auch im sozialen, politischen und ökonomischen Bereich.