Sexualisierte Gewalt in Heimen für Behinderte

Übersehene Gewalt

Eine neue Studie der Universität Bielefeld beschäftigt sich mit der Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen.

Es geschieht auf dem Nachhauseweg von der Werkstatt, beim Waschen und Anziehen, im Duschraum oder in der Teeküche. Es ist der Mitbewohner, der nette Zivi, der Busfahrer oder der langjährige Betreuer. Sexualisierte Gewalt geschieht an Orten, an denen sie niemand erwartet, weitgehend unentdeckt und verschwiegen: in Heimen und Werkstätten für Behinderte. Die Opfer sind meist Frauen mit Behinderungen, denen oft nicht geglaubt wird oder die sich gar nicht erst trauen, ihre Geschichte zu erzählen. Das nun publik gewordene Ausmaß der Gewalt erschreckt Verantwortliche in Verbänden und Politik, obwohl schon seit langem bekannt ist: Frauen mit Behinderungen tragen ein weit größeres Risiko, Opfer von Gewalt und sexualisierter Gewalt zu werden, als Frauen ohne Behinderung.

Neu an der Studie »Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland« ist vor allem, dass nun erstmals repräsentative Zahlen vorliegen. Eine Forscherinnengruppe um Monika Schröttle hatte im Auftrag des Bundesfamilienministeriums 1 561 Frauen mit Behinderungen im Alter von 16 bis 65 Jahren befragt. Die Studie erscheint im April, erste Ergebnisse sind seit November 2011 bekannt. Vergangene Woche berichtete »Report Mainz« über die Untersuchung.
Die Wissenschaftlerinnen interviewten zufällig ausgewählte Frauen mit verschiedensten Behinderungen in einer Haushaltsbefragung und in Einrichtungen für behinderte Menschen. Sie fragten nach der Lebenssituation, nach Arbeit und Arbeitslosigkeit, Lebensunterhalt, Familie, Partnern, Kindern, Kinderwunsch, nach der Privatsphäre und sozialen Kontakten. Auffällig war bei allen Behinderungen und Lebenssituationen der hohe Anteil der Frauen, die von sexualisierter Gewalt erzählten: von unerwünschten Berührungen, sexuellen Übergriffen, Vergewaltigungen. Besonders oft trifft es gehörlose Frauen und Frauen mit psychischen Behinderungen – von ihnen ist jede Zweite bis Dritte betroffen. Zum Vergleich: 19 Prozent der Frauen ohne Behinderungen hatten 2004 bei einer repräsentativen Frauenstudie des Bundesfamilienministeriums angegeben Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt zu haben.

Jede fünfte Frau mit Lernschwierigkeiten, sogenannten geistigen Behinderungen, hat schon einmal einen Übergriff erlebt. Was die Öffentlichkeit besonders aufschreckt: Sechs Prozent dieser Frauen haben Übergriffe in Einrichtungen für behinderte Menschen erlebt, die ja eigentlich von sich behaupten, behinderte Menschen zu schützen. Die Mehrheit der Frauen, die in Einrichtungen befragt wurden, berichtete zudem von körperlicher Gewalt und psychischen Übergriffen in Form von Ausgrenzung, Beleidigungen, Demütigungen, Drohungen und Psychoterror. Da die Interviewerinnen nicht mit allen Frauen kommunizieren konnten und viele dazu keine Angaben gemacht haben, vermuten sie eine weit höhere Dunkelziffer.
Außerhalb von Einrichtungen sei das Ausmaß der Gewalt gegen behinderte Frauen nicht minder hoch. Die Wissenschaftlerinnen erklären sich das mit Abhängigkeitsverhältnissen. Viele kennen die Täter gut, werden im Alltag von ihnen unterstützt, sind zum Beispiel ihre Partnerinnen. Das »eingeimpfte Minderwertigkeitsgefühl – keine Ansprüche stellen zu dürfen, nehmen zu müssen, was man bekommt«, mache die Frauen »vulnerabel für Gewalt und Dominanz der Partner«, heißt es in der Studie. Abhängigkeit und fehlende Selbstbestimmung herrschten auch in Einrichtungen. Das Leben dort sei geprägt durch fehlende Privatsphäre und die Reglementierungen des Alltags. So hatte ein Fünftel aller dort lebenden Frauen kein eigenes Zimmer. Fast doppelt so viele Frauen können in ihren Einrichtungen Toiletten und Waschräume nicht abschließen.

Ein Großteil der Übergriffe geht von Mitbewohnern und Kollegen aus der Werkstatt aus. Die Studie nimmt jedoch auch das Personal in den Blick. In Pflegesituationen, zum Beispiel beim Waschen, komme es zu sexualisierter Gewalt. »Diese Einrichtungen schaffen Gelegenheitsstrukturen: Häufig sind die Frauen schwerer behindert und abhängiger, und durch die Pflegesituationen entstehen Zugriffsmöglichkeiten auf den Körper der Frauen«, so Schröttle. Viele Frauen mit Lernschwierigkeiten könnten zudem nicht genau unterscheiden, welcher Handgriff zur Pflege gehört und wo ein Übergriff beginnt.
Dass Dinge über ihren Kopf hinweg mit ihnen gemacht werden, seien viele behinderte Frauen gewohnt, sagt Martina Puschke von Weibernetz e. V. Als bundesweite Vereinigung von Frauen mit Behinderungen weist der Verein schon seit Jahren auf die Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen und besonders auf die Situation in Einrichtungen hin. »Frauen leben dort oft fremdbestimmt – tagsüber Arbeit in der Werkstatt, abends Freizeit in der Wohngruppe. Paarbeziehungen sind in vielen Einrichtungen nicht möglich, eigene Kinder nicht vorgesehen.« Puschke erzählt von Verhütungsmitteln, zu deren Verwendung viele Frauen mit Lernschwierigkeiten oder »geistigen Behinderungen« gedrängt würden: zum Beispiel die »3-Monats-Spritze«, ein hochdosiertes Hormonpräparat mit vielen Nebenwirkungen. Außerdem seien viele ältere Frauen mit Lernschwierigkeiten sterilisiert. »Einige Täter wissen, dass die Frauen nicht schwanger werden können, und nutzen das und ihr Machtverhältnis gezielt aus.«
Machten die Frauen die sexualisierte Gewalt öffentlich, würden sie häufig nicht ernst genommen. »Da ihre Sexualität ignoriert und tabuisiert wird, werden sie auch als Opfer von sexualisierter Gewalt nicht wahrgenommen«, sagt Puschke. Und weil sie sich oft an das Datum und den genauen Tathergang nicht erinnern könnten und ihre Erzählungen manchmal widersprüchlich wirkten, komme es nur selten zur Anzeige, geschweige denn zur Verurteilung der Täter. Die Autorinnen der Studie empfehlen, behinderte Frauen in ihrer Selbstbestimmung zu stärken sollen, zum Beispiel durch Selbstverteidigungskurse. Die Einrichtungen müssten die Gewalt aber auch in ihren Strukturen bekämpfen. Puschke ergänzt: »Die Einrichtungen müssten es in ihr Qualitätsmanagement aufnehmen und zum Beispiel Leit­linien für den Umgang mit Gewalt entwickeln. Sie müssten sich eine Art Anti-Gewalt-Kultur verschreiben.«