Francois Jacob im Gespräch über die Feierlichkeiten zum 300. Geburtstag von Jean-Jacques Rousseau

»Rousseau ist universell«

Ein Gespräch mit François Jacob, dem wissenschaftlichen und künstlerischen Leiter der Feierlichkeiten zum 300. Jahrestag von Jean-Jacques Rousseau in Genf.

Herr Jacob, vielen Dank für den freundlichen Empfang hier im Voltaire-Museum. Aber würde Rousseau sich nicht in seinem Grab im Panthéon umdrehen, wenn er hören würde, dass gerade der Direktor des Voltaire-Museums die Feierlichkeiten zu seinem 300. Geburtstag ausrichtet? Immerhin schien ihm vor 250 Jahren seine glorreiche Rückkehr in die Geburtsstadt unter anderem dadurch verwehrt, dass sein großer Widerpart innerhalb der Aufklärung, Voltaire, sich dort inzwischen festgesetzt hatte.
Ach, wissen Sie, so feindlich gesinnt waren sich die beiden eigentlich gar nicht. Denken Sie nur an ihre religionsphilosophischen Schriften, die beide vom Geist der Aufklärung und der Toleranz beseelt waren. Die Anwesenheit Voltaires war wohl auch nicht der Hauptgrund dafür, dass Rousseau die Rückkehr in seine Heimatstadt – 30 Jahre nach seiner Flucht als 16jähriger – letztlich versagt blieb. Das 40köpfige aristokratische Gremium, das damals die Republik Genf regierte, konnte sich nur schwer mit seiner zweiten »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« anfreunden, die Rousseau Genf 1755 ausdrücklich widmete. Dabei hatte er gehofft, dass man ihn dafür zum Ehrenbürger machen würde. Hinzu kamen die Auseinandersetzungen des Rates mit den Handwerkern Genfs, die sich mit Ihren Forderungen nach mehr demokratischer Teilnahme ausdrücklich auf Rousseau bezogen.
Als ich Jean-Jacques Rousseau hier in der Genfer Stadtbücherei suchte, fand ich ihn nicht unter den französischen Philosophen, sondern unter »Schweiz, Literatur«. Wohin gehört Rousseau – in die einstige Republik Genf, nach Frankreich oder in die Schweiz?
Nirgendwohin! Rousseau ist Deutscher, Engländer, Russe, Brasilianer, Japaner. Die meisten Projekte in diesem Jubiläumsjahr sind weltweite Übersetzungsvorhaben, bis ins Arabische und in afrikanische Dialekte. Rousseau ist universell! Daneben ist Rousseau dann noch ein Genfer, nicht nur wegen seiner sozialen Zugehörigkeit. Lesen Sie den »Gesellschaftsvertrag«, die »Abhandlung über die Ungleichheit«, die »Abhandlung zur politischen Ökonomie«! Sie werden sehen, dass die Grundsätze zur politischen The­orie ihren Ursprung meistens in der Geschichte Genfs oder in den Theorien seiner Genfer Vordenker wie Jean-Jacques Burlamaqui mit seinen »Principes du droit naturel et politique« hatte. Aber natürlich ist Rousseau zugleich auch Franzose. Immerhin hat Frankreich ihn zum Vater der Französischen Revolution gemacht. Er hatte entscheidenden Einfluss auf die Politik und Philosophie im Ausgang des 18. Jahrhunderts, inklusive der erbitterten Feindschaft, die er auf sich zog. Denken Sie an die Royalisten, an einen Joseph de Maistre, der Rousseau verabscheute. Und natürlich war er auch Schweizer, selbst wenn dies ein Anachronismus ist, denn die Schweiz gab es im 18. Jahrhundert höchstens auf der geographischen Landkarte. Für die Entfaltung seines Gesamtwerks aber bildet eben diese Schweiz gewissermaßen den Rahmen: Nehmen Sie nur »Julie oder die Neue Heloise«, das unter anderem in Clarens oder in Vevey spielt.
Bei der Lektüre des Jubiläumsprogramms »Rousseau für alle« findet man alles, was es für ein Jubiläumsjahr braucht: Kolloquien, Ausstellungen, Lesungen, Vorträge, studentische Kurzfilme. Eines aber habe ich noch nicht gefunden: einen neuen, einen anderen Blick auf Rousseau. Wo versteckt sich der Rousseau, für den Sie die Menschen heutzutage interessieren wollen?
Sie irren sich: Wir haben gar kein Programm für die Menschen entworfen! Die Genfer selbst haben sich das Programm für dieses Rousseau-Jahr gemacht. 2006 starteten wir unseren Aufruf zu einem Ideenwettbewerb. Es kamen 131 Vorschläge für Projekte, für deren Realisierung uns gut vier Millionen Schweizer Franken zur Verfügung stehen. Dabei kristallisierten sich deutliche Interessensschwerpunkte heraus: die Musik, die Botanik, merkwürdigerweise auch die exakten Wissenschaften. Wenn wir jetzt nicht einen lückenhaften Rousseau vor uns haben, so ist dies den Bedürfnissen der Genfer Bevölkerung geschuldet. Aber auch wenn sich Mängel zeigen, so bleibt doch klar, dass Genf 2012 den Mittelpunkt der weltweiten Rousseau-Feierlichkeiten bildet – so wie Frankreich vor hundert Jahren zum 200. Geburtstag. In diesem Jahr stellt sich Frankreich bezeichnenderweise tot. Nicht einmal an Rousseaus Geburtstag, am 28. Juni 2012, gibt es in Frankreich ein großes Fest zu seinen Ehren.
Es sind gerade die sogenannten Schwellenländer, vor allem Brasilien, die sich in diesem Jahr Rousseau widmen.
Ja, Rousseau ist in Brasilien sehr populär. Dort wird in diesem Jahr auch das größte Kolloquium abgehalten.
Woher dieses Engagement?
Die Brasilianer sind seit dem Ende des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach Grundlagen für eine künftige Verfassung. Der ehemalige Präsident Brasiliens, Lula da Silva, hat sich dabei stark auf Rousseau bezogen. Denn Rousseau hatte in Südamerika schon immer eine hohe Popularität, immerhin war er der Meisterdenker für Simón Bolívar! Und auch die aktuellen Schriftsteller und Philosophen Südamerikas wie der Venezolaner Luis Britto García stellen Rousseau in den Mittelpunkt ihrer politischen Reflexion.
»Rousseau für alle« und mit weltweiter Aufmerksamkeit: Hätte dies dem Promeneur solitaire, dem einsamen Spaziergänger, als der er sich inszenierte, wirklich gefallen?
Sie haben völlig Recht: Rousseau war ein Einzelgänger, der sich allen Seilschaften verweigerte. Er verteidigte jederzeit und mit aller Kraft sein Recht auf persönliche Freiheit, zum Teil auf eine fast grausame Art. Und wahrscheinlich würde er sich über unsere Versuche wundern, ihn zu universalisieren und für alle zugänglich zu machen. Dies ist vielleicht der größte Widerspruch, der unserem Gedenkjahr innewohnt. Andererseits aber ist etwas im Entstehen begriffen, was im Vergleich zu allen anderen Rousseau-Jubiläen eine neue Situation darstellt: Es gibt erstmals eine Art Konsens über Rousseau. Es ist, als hätten wir nun, nach 300 Jahren, mit den kommentierten Ausgaben, all den Forschungen und mit der kontinuierlichen Arbeit der Rousseau-Gesellschaft, ein Denken erreicht, das differenziert genug wäre, damit auch Rousseau es geteilt hätte.
Diese schöne Idee vom Fortschritt der Vernunft und der Wissenschaften entspricht nun wirklich Voltaires Geist der Aufklärung. Aber welche Botschaft hat Rousseau nun für die Menschen heute?
Vorsicht! Vor allem hat Rousseau immer darauf gedrängt, dass seine Vorstellungen als Fiktionen und nicht als Handlungsanweisungen genommen werden. Zum Beispiel der »Naturzustand«, von dem er in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache schreibt: Er hat seiner Meinung nach nie existiert, sondern ist eine rein theoretische Voraussetzung, aus der sich gewisse Argumenationen ableiten lassen, mehr nicht. Die Suche nach dem »guten Wilden« war und ist absurd. Nicht anders seine pädagogischen Schriften. Als »Emile oder über die Erziehung« erschien, machten sich die Leute sofort daran, ihr Kind genau so zu erziehen, wie Emile oder Sophie erzogen werden. Das führte zu Katastrophen!
Läßt sich mit Rousseau ein EU-Bildungsmodell stützen, das auf den Zentralbegriff der Inklusion setzt?
Nein, weil er Freiheit radikal zu Ende dachte, war er wohl eher kein Denker der Inklusion. Freiheit hieß für ihn gerade nicht Rückkoppelung auf das Kollektiv, sondern auf sich selbst. Hier haben wir das gesamte Thema der Introspektion, also einer Autonomie, die aus dem Dialog mit sich selbst erwächst. So würde ich ihn eher als einen Philosophen der Exklusion bezeichnen, es sei denn, man sagt, dass es sein pädagogisches Ziel war, die gesamte Menschheit im eigenen Ich zu versammeln: Unter dieser Perspektive wäre er auch ein Philosoph der Inklusion.
Was also steht aus heutiger Sicht im Zentrum der Pädagogik Rousseaus?
Erst im 20. Jahrhundert hat man angefangen zu begreifen, dass Rousseau der erste war, für den die anthropologische Frage nach dem Kind im Zentrum seines Denkens stand. Vor Rousseau existierte das Kind als solches nicht – höchstens als eine Art Untermensch, als wachsendes Etwas, das essen und trinken kann, nicht aber als eine Person in seiner jeweiligen Individualität. In »Emile« aber steht das Kind nun im Zentrum des Systems, der Familie. Um es herum organisiert sich das gesamte Leben in Clarens. Das Kind wird hier zum ersten Mal ernst genommen. Und zwar sowohl als Persönlichkeit als auch als Kind in seiner ganzen Zerbrechlichkeit, seinen Entwicklungen, die es durchmacht. Und vergessen wir nicht: Für Rousseau ist dieses Kind auch im Erwachsenen noch nicht gestorben. Im Gegenteil: Es gilt, dieses Kind im Erwachsenen zu pflegen.
Als sich das frühe 20. Jahrhundert auf diesen Rousseau besann – nicht nur die Psychoanalyse, sondern eine ganze pädagogische Bewegung, die vorgab, das Kind ebenso in den Mittelpunkt ihres Systems zu stellen –, pflegten diese Strömungen Rousseau gegenüber gleichwohl eine sehr ambivalente Haltung. Ich nenne hier nur die Pfadfinderbewegung. Denn meistens ging es hier nicht darum, das Kind im Mittelpunkt des Systems zu platzieren, sondern ganz im Gegenteil darum, dem Kind das gesellschaftliche System quasi einzupflanzen. Rousseaus kategorische Befreiung des Kindes von allen gesellschaftlichen Bindungen war ihnen ein Dorn im Auge. Dies galt natürlich im Besonderen für das republikanische Erziehungsideal in Frankreich um 1900.
Also können Sie sich den Denker des Volkswillens, Rousseau, auch nicht inmitten der »Occupy«-Bewegung vorstellen.
Doch! Natürlich kann man ihn sich auch im Zeltdorf im Genfer Park des Bastions vorstellen. Aber nur so lange, wie man ihn dort in Frieden lässt. Denn die Revolte Rousseaus bleibt die eines Solitärs. Dem aber widerspricht nicht, dass er in seiner politischen Theorie, dem »Contrat social«, schreibt: Die Revolte ist richtig, ja, sie ist gar nicht zu verhindern, wenn die exekutive Macht usurpatorisch agiert und Macht um ihrer selbst willen wird.
Und wie steht es mit den großen Katastrophendiskursen der Neuzeit? In der Auseinandersetzung um das Erdbeben von Lissabon zwischen Voltaire und Rousseau können wir noch heute eine der großen Debatten um einen frühen Tsunami und Zigtausende von Toten sowie um eine – hier fast schon säkularisierte – Theodizee mitverfolgen.
Sie kennen Rousseaus Antwort an Voltaire in seinem Brief über die Vorsehung: Das Erdbeben in Lissabon hätte sehr viel weniger Todesopfer gefordert, wenn man die Häuser nicht alle in die Höhe und in einer derartigen Ballung errichtet hätte. Hinsichtlich der Katastrophe von Fukushima wurden ähnliche Überlegungen geäußert: Warum baute man hier ein Atomkraftwerk, wo man doch wusste, dass Erdbeben drohen und das Meer vor der Tür liegt? Schon bei Rousseau wird dieses gesamte instrumentelle Fortschrittsdenken in Frage gestellt, auch wenn ihm der Begriff des technischen Fortschritts noch völlig fremd war. Auf der anderen Seite steht für ihn der menschliche Fortschritt, die Suche nach dem Glück, sprich die Suche des Menschen nach dem bestmöglichen Platz in der Welt, in der er lebt. Diese beiden Welten stehen sich bei Rousseau in einer totalen Antinomie gegenüber und sicherlich würde er das, was er in seinem Brief an Voltaire damals schrieb, angesichts Fukushima noch einmal so sagen.
Da wir hier auch begrifflich fast schon in den philosophischen Auseinandersetzungen des späten 20. Jahrhunderts angelangt sind, würde ich dies gern noch einmal vertiefen. Kann man beispielsweise auch heute noch Claude Lévi-Strauss’ Behauptung von 1962 unterschreiben, dass Rousseau damals die Humanwissenschaften erfunden hat?
Wer sonst?! Rousseau ist einer der, wenn nicht sogar der Erfinder der modernen Anthropologie. Er hat den Menschen ins Zentrum der philosophischen Diskussion zurückgeholt – die Menschen in all ihrer Diversität, sei sie geographischer oder kultureller Natur. Er war sowohl der Denker der menschlichen Individualität als auch der kulturellen Individualitäten. Sein »Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars« ist nicht nur ein Zeugnis für religiöse Toleranz, sondern auch einer der Ursprungstexte der modernen Anthropologie: Am Ende bleiben wir nur auf uns selbst als die einzige Quelle von Wahrheit und Wahrhaftigkeit zurückgeworfen. Dahinter verbirgt sich zugleich die Aufforderung, den Einzelnen aus seiner kulturellen Umgebung – seinem Milieu – heraus zu verstehen und zu beurteilen. Diese Rückbindung des Menschen in sein kulturelles Umfeld war im universalistischen System der Enzyklopädisten so nicht vorgesehen. Für Rousseau aber steht im Vordergrund, was uns voneinander unterscheidet.
Wir wissen heute, dass diese Denkweise über den Umweg Herders nicht nur zum Kultur­relativismus, sondern auch zu einer Hierarchisierung der Kulturen im 19. Jahrhundert geführt hat – mit den bekannten politischen Auswirkungen.
Für Rousseau gab es keine Hierarchie der Kulturen. Im 20. Jahrhundert wollte man Rousseau damit zu einem der Vordenker des Totalitarismus machen, zu einem Vordenker der Nazis.
Von Bertrand Russell stammt der berühmte Auspruch, Hitler sei ein Nachfahre Rousseaus, Stalin und Roosevelt seien die Nachkommen John Lockes …
Man machte ihn aber genauso zu einem Vordenker des Bolschewismus, nicht zuletzt mit Hilfe dessen, was während der Französischen Revolution über ihn gedacht und geschrieben wurde.
Und was ist aus der Rousseau-Rezeption der Postmoderne geworden? Spielt das alles heute keine Rolle mehr?
Nein, man muss wohl zugestehen, dass diese ganze Tradition, Rousseau zu denken, zur Zeit wirklich keine Rolle spielt. Seit der Jahrtausendwende ist der Bruch deutlich spürbar. Ein Blanchot wird kaum noch gelesen, Paul de Man wird an den französischen Universitäten quasi totgeschwiegen. Die Studenten kennen ihn nicht mehr. Hier gab es eine Beerdigung erster Klasse, die man schon fast spektakulär nennen möchte. Vielleicht fehlt uns dafür im Moment die geistige Offenheit. Cassirers Denken hatte sich noch der Anstrengung zu einer hermeneutischen Totalität verschrieben, der wir uns heute nicht mehr unterwerfen wollen. Mit Rousseau ist es das Gleiche. Wer würde sich noch hinsetzen und ein Werk über Jean-Jacques Rousseau schreiben, das alle Perspektiven seines Werkes – die Musik, die Botanik, die Mathematik, die Philosophie – in einem großen Wurf erfasst? Die Tendenzen der heutigen Rousseau-Forschung liegen woanders.
Was geht damit verloren?
Eigentlich ist es eine absolute Katastrophe. Wir beschneiden uns unserer eigenen Wurzeln. Man könnte auch kurz und knapp von einer Enthirnung sprechen. Wir denken Rousseau nur noch in Fragmenten – unter dem Vorwand einer notwendigen Vertiefung des einen oder anderen Aspekts.