Das Buch »Der Klang der Familie« und die Berliner Techno-Szene

Große Pupillen mit Menschen drumrum

Schwule und Ossis kamen zuerst. Wie die Techno-Szene in Berlin entstand und was von ihr geblieben ist. Timon Engelhardt war bei der Vorstellung des Buchs »Der Klang der Familie« von Felix Denk und Sven von Thülen.

Berlin, Anfang März. In den Räumen des Clubs Kater Holzig in Berlin-Mitte drängen sich knapp 200 Leute. Felix Denk und Sven von Thülen lesen aus ihrem gerade bei Suhrkamp erschienenen Buch »Der Klang der Familie. Berlin, Techno und die Wende«. Die Stimmung ist ausgelassen, es herrscht Klassenfahrt­atmosphäre. Das Durchschnittsalter liegt weit, vermutlich sogar sehr weit jenseits der 30. Es sind Raver der ersten Stunde, in die Jahre gekommene Hedonisten und Musikliebhaber, die sich hier getroffen haben, um den Cut-up-Geschichten über die Anfänge Berlins als Techno-Hauptstadt zu lauschen.
Haschischschwaden ziehen durch den Raum, es wird viel gelacht, zur Einstimmung läuft ein Video mit verstörenden Originalaufnahmen aus der Anfangszeit der Berliner Ravekultur, auf denen sich große Pupillen mit Mensch drumherum robotergleich zu einer recht harten, roughen Version der heute allseits bekannten Spielart elektronischer Musik bewegen.
Das anfängliche Gelächter verstummt, der eine oder andere zeigt einen schamhaften Gesichtsausdruck; man lässt die beiden Herren lieber lesen. »Der Klang der Familie« ist ein bemerkenswertes Buch, in dem den Autoren eine authentische Darstellung des popkulturellen Phänomens Techno gelingt. Das Konzept des Buches ähnelt Legs McNeils und Gillian McCains New Yorker Punk-Historie »Please Kill Me« sowie Jürgen Teipels »Verschwende deine Jugend«, die ihre Bücher aus Zitaten damaliger Protagonisten collagierten. Über den Zeitraum eines Jahres sprachen Denk und von Thülen mit mehr als 70 DJs, Clubmachern, Tänzern, Zeitschriftenmachern, Musikproduzenten, Türstehern und Szeneleuten. Ihre Geschichte des wohl bedeutendsten deutschen Musikexports nach Stockhausen und Kraftwerk beginnt in den achtziger Jahren in Berlin und bleibt auch dort, mal abgesehen von einem Exkurs zu den Vertretern des Detroiter Techno-Utopismus rund um Underground Resistance. Der Berliner Underground der späten achtziger Jahre bestand aus einer Vielzahl mehr oder weniger streng voneinander getrennter Welten. Die von allem außer von Drogen gelangweilte Kreuzberger Boheme, die schon länger im Niedergang begriffene Hausbesetzerbewegung, die Schöneberger Schwulenszene bildeten jeweils einen Mikrokosmos für sich. In der noch bestehenden DDR entfalteten sich Subkulturen, Breakdance wurde groß, in mancher Disco durfte nun von der 40/60-Regel abgewichen werden, die die Quote für das Abspielen von Musikstücken festlegte, die im Westen bzw. im Osten produziert worden waren. Im Umfeld des Berliner Fußballclubs BFC Dynamo trafen sich nonkonforme Jugendliche, Hoo­ligans darunter, aber auch extrovertierte Selbstdarsteller ohne jedes Interesse am Spiel. Man nannte sich »Anale Jungs«, provozierte in einer explizit nicht-schwulen Szene, nur um sich im Anschluss mit gegnerischen Fans und Zivilpolizisten zu prügeln.
Johnnie Stieler, damals ganz vorn mit dabei und heute Betreiber des Clubs Horst Krzbrg, schildert die damalige Zeit: »Aufs Maul kriegen war Standardprogramm. Irgendwelche Familienväter haben Jugendliche verprügelt, weil sie komische Frisuren hatten. Dagegen musste man sich zur Wehr setzen. Und man fängt an, sich von der Polizei nichts mehr sagen zu lassen, oder auch mal jemanden von der Stasi zu verhauen.«
Während frühe, sowohl qualitativ als auch quantitativ bescheidene Acid-House-Parties bereits ein gutes Jahr vor der Wende eine kleine Schar Neugieriger in verlassene Kreuzberger Ladengeschäfte lockten, Radiosender die neue Musik spielten und die erste Loveparade mit knapp 150 Teilnehmern über den Ku’damm zog, gewann die bis dahin überschaubare Szene mit dem Mauerfall deutlich an Fahrt.
Vergnügungswillige Jugendliche aus dem Osten mischten sich in den wenigen Clubs mit den anfangs schockierten Westberliner Inselbewohnern; ein Zusammentreffen, das nicht immer konfliktfrei verlief, im Nachhinein jedoch als große Bereicherung empfunden wird. »Die Schwulen und die Ossis« seien es gewesen, die die anfangs noch spärlich gefüllten Clubs bevölkerten, und es war wohl genau diese spezielle Mischung, die Berlin zur Techno-Stadt Deutschlands werden ließ, obwohl in Frankfurt am Main oder Köln schon länger entsprechende Strukturen bestanden. Für viele war das Ende der Blockkonfrontation ein Signal des umfassenden gesellschaftlichen Wandels, der Lust auf Experimente. Andere machten hier ihre ersten Erfahrungen mit selbstbestimmter Ausgehkultur. Für die Schwulenszene gab es nach der durch die Aids-Krise ausgelösten Schockstarre ohnehin gute Gründe, das Hier und Jetzt zu feiern.
Es sind die vielen verschiedenen Blickwinkel, die das Zeitgefühl wiederauferstehen lassen und verständlich machen, welche Begeisterung es auslöste, an etwas Neuem teilzuhaben. Inga Humpe, die Anfang der Nullerjahre ein Comeback mit der Deutschpopband 2Raumwohnung hatte, betont vor allem die Erfahrung, sich als Frau in der Technoszene »anders« bewegen zu können, andere wiederum erleben im Zuge der ersten Ecstasy-Wellen ihr Coming-out. Es wird viel gebastelt und gekuschelt, und die Freiräume der Nachwendezeit werden genutzt. Illegale Clubs wie der Szenemittelpunkt Planet entstehen, Magazine und Modelabels werden gegründet, die ersten DJs können vom Auflegen leben. Immer wieder taucht der Begriff der »Familie« auf, es geht um »Zusammenhänge«, die zusammengebrochene »Strukturen« ersetzen.
Mit dem Erfolg kamen erste Streitigkeiten auf. Als ab Anfang der neunziger Jahre immer mehr Menschen auch aus dem restlichen Bundesgebiet auf dem Ku’damm ravten, entdeckten findige Szenemultiplikatoren wie Jürgen Laarmann das unternehmerische Potential der entstandenen Netzwerke und begannen mit dem, was das Buch den »Ausverkauf« nennt. Verträge mit der Musikindustrie wurden abgeschlossen, große Büros bezogen, und plötzlich mischte sich auch die organisierte Kriminalität zwischen die Bleeps und Klonks: Die Entzauberung hatte begonnen, statt Ecstasy gab es nun Kokain.
An diesem Punkt endet die Familiensaga. Von der Familie war Mitte der neunziger Jahre auch nicht mehr viel übriggeblieben. Die Erzählung, die in ihrer chaotischen Collage aus Interview-Versatzstücken einem DJ-Mix nicht unähnlich ist, läutet nach gemächlichem Aufbau und exzessiver Peak Time das Runterkommen ein. Die Szene differenziert sich aus, die ersten springen ab, andere sterben. Mit dem E-Werk etabliert sich erstmals ein großer Club, der auch Herbert Grönemeyer seinen Platz am Tresen bietet. Die Euphorie war vorbei, aber nach Hause gehen keine Option. So wundert es nicht, dass der größte Teil der Community heute noch auf die eine oder andere Weise in Sachen Techno unterwegs ist. So ganz scheint der Zauber noch immer nicht verflogen zu sein.
Im Kater Holzig jedenfalls stellte sich am Abend der Lesung durchaus ein familiäres Gefühl ein. Hier stand einst das Planet, hier fing es an, hier geht es jedes Wochenende weiter.

Felix Denk/Sven von Thülen: Der Klang der Familie. Berlin, Techno und die Wende. Suhrkamp, Berlin 2012, 423 Seiten, 14, 99 Euro