Der Untergang der Titanic als Stoff der Popkultur

Wer ist der König der Welt?

Pop und Propaganda: Wie der Untergang der Titanic die Filmgeschichte beeinflusst hat.

Schiffsunglücke gehören zur Seefahrt dazu und sind nichts Besonderes. Sie waren es vor 100 Jahren nicht und auch heute kommen sie häufiger vor, als man vielleicht denkt. Allerdings sind ein Großteil der Schiffe, die verunglücken, Flüchtlingsboote. Allein auf dem Mittelmeer sterben Jahr für Jahr Hunderte Menschen bei dem Versuch, der Armut des globalen Südens zu entkommen. Ihr Schicksal erregt jedoch weit weniger Aufsehen als etwa die Havarie des Kreuzfahrtschiffs Costa Concordia vor der italienischen Küste. Offensichtlich kommt es immer auch darauf an, wer die Opfer des Unglücks sind.
Kein Schiffsunglück machte jedoch jemals größere Schlagzeilen als der Untergang der Titanic am 14. April 1912. Kein anderes hat sich so in das kollektive Gedächtnis gebrannt. Bei dem Begriff »Schiffsunglück« denken fast alle automatisch an die Titanic. Dabei war ihr Untergang, wenn man die nüchternen Zahlen betrachtet, in keiner Weise herausragend – weder zur damaligen Zeit, noch auf lange Sicht betrachtet. Als größtes Schiffsunglück in Friedenszeiten gilt für gewöhnlich der Untergang der Doña Paz, einer Fähre, die zwischen Weihnachten und Silvester 1987 in den Hoheitsgewässern der Philippinen sank und offiziellen Zahlen zufolge 4 317 Menschen mit in den Tod riss – fast dreimal so viel wie die Titanic. In Kriegszeiten gab es noch weit verheerendere Katastrophen. Beim Untergang der Wilhelm Gustloff im Januar 1945 beispielsweise starben Schätzungen zufolge mehr als 9 000 Menschen. Außer einigen am eigenen Opfermythos feilenden Deutschen interessiert sich jedoch kaum jemand dafür.
Auch zu Zeiten der Titanic waren verheerende Schiffskatastrophen keine Seltenheit. Allein von 1900 bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs ereigneten sich vier weitere Unglücke, die sich mit 1 000 oder mehr Toten in der selben Größenordnung bewegten wie der Untergang der Titanic. Noch im selben Jahr beispielsweise geriet der japanische Dampfer Kiche Maru in einen Taifun und ging unter. Etwa 1 000 Menschen starben damals, doch den Namen »Kiche Maru« kennt heute niemand mehr.
Es sind nicht Zahlen oder Statistiken, an denen die Dimension der Katastrophe ablesbar wäre. Schon für die Zeitgenossen hatte das Geschehen eine beinahe mythische Bedeutung. Die Geschichte des als unsinkbar geltenden Schiffs, das bei seiner Jungfernfahrt und mit allerlei Prominenz an Bord mit einem Eisberg kollidiert und sinkt, wobei sich herausstellt, dass es zu wenig Rettungsboote für alle Passagiere gibt, klang schon damals eher nach der Handlung eines spannenden Dramas als nach einer Zeitungsmeldung. Zunächst herrschte Entsetzen, doch spätestens als der erste Schock überwunden war, begannen die Spekualtionen darüber, was wie und vor allem warum geschehen war. Für die einen war der Untergang ein mahnendes Zeichen, der Mensch dürfe sich nicht über Gott und die Naturgewalten erheben und behaupten, er habe sie mit Hilfe von Technik bezwungen. Für andere lag die Unglücksursache in dem gnadenlosen Wettbewerb einiger Großreedereien, die im Kampf um Marktanteile jede Vorsicht und Vernunft missachteten. Und für einige war da eine ganz üble Verschwörung im Gange.
Doch auch die Filmwelt witterte schnell, dass der Untergang der Titanic hervorragendes Material für die Kinoleinwand bot. Schon im Jahr der Katastrophe selbst entstanden zwei Stummfilme, die vom Schicksal der Titanic inspiriert waren. In »Saved from the Titanic« von Étienne Arnaud spielte mit Dorothy Gibson sogar eine Überlebende des Unglücks mit. Der erste Film in Spielfilmlänge war 1929 Ewald André Duponts »Atlantic«. Der Film, der nur aus rechtlichen Gründen nicht den Titel »Titanic« trug, war jedoch historisch wenig exakt und auch filmisch ziemlich schwach. Dennoch liefert er mit der Grundidee, die Katastrophe als Szenerie zu benutzen, um eigentlich eine Liebesgeschichte zu erzählen, so etwas wie die Blaupause für fast alle Titanic-Filme, die noch kommen sollten. Wir finden dieses Muster bei Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in James Camerons Blockbuster »Titanic« von 1997 genauso wie bei Jean Negulescos Kitsch­epos »Der Untergang der Titanic« von 1953.
Auch der deutsche Propagandafilm »Titanic« von 1943, bei dem sich auch Cameron gleich mehrere Szenen und Handlungsstränge ausgeborgt hat, kommt nicht ohne Liebesgeschichten aus. Interessanter ist jedoch, wie der Film versucht, gegen England Stimmung zu machen, und wie wenig subtil er dabei vorgeht. Dem Film zufolge ist die Titanic gesunken, weil ihr Eigner Bruce Ismay sich an der Börse – unsagbar klischeehaft dargestellt als ein Haufen Männer mit Frack und Zylinder – verspekuliert hat und jetzt den großen Mediencoup einer Atlantiküberquerung in Rekordzeit braucht, um nicht selbst finanziell unterzugehen. Ismay wird dabei genauso unsympathisch dargestellt wie sein großer Gegenspieler John Jacob Astor. Doch eigentlich gibt es ohnehin nur drei Figuren, die als durch und durch integer gezeigt werden – und das sind natürlich die einzigen drei Deutschen an Bord. Da wären einmal die Kosmetikerin Hedi und der Geiger Franz, deren Liebesgeschichte als niedliche Nebenhandlung immer wieder mal auftaucht. Vor allem aber ist da der Erste Offizier Petersen, der alles Menschenmögliche versucht, den gierigen Ismay zu Vernunft zu bringen – ohne Erfolg. Anscheinend sollten seine Pflichtversessenheit und sein Gerede von Ehre und Disziplin auf das Publikum schneidig bis sympathisch wirken. Heute erscheint dieses Gebaren allerdings eher widerlich bis furchterregend. Aber Charaktere, die wie Petersen auch gegen besseres Wissen und Gewissen jeden Befehl ausführen und sich hinterher darauf berufen, nur ihre Pflicht getan zu haben, entsprachen der Ideologie.
Wem all das nicht genügt, der bekommt im Abspann direkt mitgeteilt, auf wen er seinen Hass und seine Wut zu richten hat: »Der Tod von 1 500 Menschen blieb ungesühnt, eine ewige Anklage gegen Englands Gewinnsucht.« Markige Worte. Der Film lief bis Kriegsende niemals in Deutschland, sondern nur in von den Deutschen besetzten oder mit ihnen befreundenten Ländern. Erst 1950 wurde er in der Bundesrepublik in einer gekürzten Version gezeigt. Denn als die Ostfront schwächelte und in Italien alliierte Truppen gelandet waren, hatte Propagandaminister Goebbels die Befürchtung, der Untergang der Titanic könne vom Publikum als Metapher für den Untergang des unsinkbaren »Tausendjährigen Reichs« verstanden werden. Und diesen Untergang könnte er dann nicht mehr so leicht »Englands Gewinnsucht« in die Schuhe schieben.