Zum Tod des Kinderbuchautors Maurice Sendak

Spiel nicht mit den wilden Kerlen

Zum Tod des Illustrators und Autors Maurice Sendak.

Wenn mich im März/der Wind erschreckt/den Topf umwirft/die Türe zertrümmert/die Zunge streckt/und hungrig wimmert –/was erwartet er dann?/Dass er Hühnersuppe/Hühnersuppe/Hühnersuppe mit Reis/läppeln kann.« Phantasien über das Essen sind ein wiederkehrendes Motiv in den Bilderbüchern von Maurice Sendak. Der Autor, der 1928 in New York geboren wurde und als jüngstes von drei Kindern polnisch-jüdischer Immigranten in Brooklyn aufgewachsen ist, verlor durch die Shoa viele jener Familienmitglieder, die in Europa geblieben waren. Erinnerte »Hühnersuppe mit Reis« aus der vierbändigen »Minibibliothek« von 1962 liebevoll an das Allheilmittel der jüdischen Mame bei Beinbruch, Erkältung und Liebeskummer, geht es in in der Bilderzählung »Klaus, ein warnendes Beispiel« weniger fürsorglich zu. Hier wird der Protagonist von einem Löwen gefressen, weil er nicht handelt und ihm stets alles egal ist. In dem Band »Alligatoren allüberall« wird das Alphabet von einer dreiköpfigen Alligatorenfamilie präsentiert. In »1 war Hans« geht es ums Zählen.
Ist in diesen vier Bänden, die der Autor zur »Nutshell-Library« erklärte, noch ein pädagogischer Impetus spürbar, wenn auch die Kastrationsdrohung der bürgerlichen Familie schon von kindlicher Impertinenz herausgefordert wird, so bricht Sendak nur ein Jahr später mit dem Buch »Wo die wilden Kerle wohnen« (»Where the Wild Things Are«) mit den elterlichen Geboten. Jetzt spricht er dem jugendlichen Protagonisten das Recht zu, seine Sexualität eigenstänidg zu erkunden. Das Buchcover zeigt den Jungen Max, der in einer mondbeschienenen Nacht in einer Nussschale an einem schlafenden wilden Kerl vorbeisegelt. Auch in dieser Geschichte taucht das Motiv der Nahrung bzw. des Nahrungsentzugs auf. Als Max eines Tages mal wieder »nur Unfug im Kopf hatte/schalt seine Mutter ihn: ›Wilder Kerl!‹/›Ich fress dich auf‹ sagte Max/und da musste er ohne Essen ins Bett.« Nun beginnt die Reise zu den wilden Kerlen, die Max mit einem Zaubertrick zähmt: »Er starrte in ihre gelben Augen ohne ein einziges Mal zu zwinkern./Da bekamen sie Angst und nannten ihn den wildesten Kerl von allen/und machten ihn zum König der ganzen wilden Kerle.«
In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung der Caldecott-Medal, eines renommierten Kinderbuchpreises in den USA, erläuterte der Autor 1964 seinen Begriff von Kindheit. »Mit Hilfe der Phantasie«, so Sendak, »entlädt Max, der Held meines Buches, seine Wut auf seine Mutter und kehrt schläfrig, hungrig und mit sich selbst versöhnt in die wirkliche Welt zurück. Sicherlich möchten wir unsere Kinder vor neuen und schmerzlichen Erfahrungen beschützen, die jenseits ihres emotionalen Verständnisses liegen und die Angst verstärken, und bis zu einem gewissen Punkt können wir es verhindern, sie verfrüht solchen Erfahrungen auszusetzen. Das ist offensichtlich. Doch ebenso offensichtlich – und zu oft übersehen – ist die Tatsache, dass Kinder von ihren frühesten Lebensjahren an mit verstörenden Gefühlen vertraut sind, dass Furcht und Angst ein inniger Bestandteil ihres alltäglichen Lebens sind, dass sie fortwährend mit Frustration, so gut sie können, fertig werden. Und es ist die Phantasie, durch die sie Katharsis erreichen. Es ist das beste Mittel, das sie haben, um wilde Kerle zu zähmen. Es ist meine eigene Verstrickung mit dieser unausweichlichen Tatsache der Kindheit – der fürchterlichen Verletzlichkeit von Kindern und ihrem Kampf, sich zum König aller wilden Kerle zu machen – die meinem Werk jegliche Wahrheit und Leidenschaft, die es besitzen mag, verleiht.«
So kontrovers die Darstellung einer kindlichen Innenwelt, die nicht heil, harmlos und friedfertig war, Anfang der Sechziger aufgenommen wurde, so verstörend scheint diese Beschreibung auch heute noch zu wirken. Nur so lässt sich erklären, dass in den Nachrufen das literarische Werk des am 8. Mai im Alter von 83 Jahren verstorbenen Autors auf seine traumatischen biographischen Erfahrungen reduziert wird. Weil der Autor berichtet hat, dass das Vorbild für seine Kerle die polnisch-jüdischen Verwandten waren und »wild things« auf einen jiddischen Ausdruck zurück geht, wird das Universelle in seinen Kindergeschichten zudem geleugnet.
Als die »Wilden Kerle« erschienen, lebte Sendak bereits seit einigen Jahren mit dem Psychoanalytiker Eugene Glynn zusammen. Es scheint, dass es die psychoanalytischen Erkenntnisse über die Kindheit waren, die es dem Buchillustrator ermöglichten, sich zum Ausnahmekünstler zu entwickeln. Dazu war es notwendig, dass er sich von jedem pädagogischen Anspruch verabschiedete. Dass Sendak zu Lebzeiten Glynns nie über ihre Beziehung sprach, sondern sich erst nach dem Tod seines Partners im Jahr 2007 dazu bekannte, sollte wohl dem Schutz und der Intimität einer sehr altmodischen, fünfzig Jahre währenden Männerehe dienen. Auch wollten beide wohl verhindern, dass das Werk des einen aus der Arbeit des anderen erklärt wird.
Indem Sendak mehr und mehr darauf verzichtete, die Kindheit mittels der Pädagogik beherrschen zu wollen, um sich stattdessen der Kindheit ästhetisch hinzugeben, konnte er im Medium des Kinderbuchs Weltliteratur schaffen. Von »In der Nachtküche« über die beeindruckenden Illustrationen zu Grimms Märchen bis zu dem Alterswerk »Brundibar«, der Adaption der im KZ Theresienstadt komponierten und aufgeführten Kinderoper, und »Bumble Ardy«, seinem letzten Buch, entwickelt Sendak eine Bildsprache von großer Expressivität. Seine Bilder sind von schockierender Sinnlichkeit, obwohl oder gerade weil sie als Collage komponiert sind. Er lässt sich von keinem Streben nach Realismus davon abhalten, den Objekten zeichnerisch genau jene Größe zu geben, die sie in der inneren Welt beanspruchen.
Weil die Oper »Brundibar« bald als Erinnerungskitsch dienen musste – ganz so, als sei die Aussage, dass Lebensfreude auch im KZ möglich gewesen sei –, wandelte Sendak zusammen mit Tony Kushner das Ende ab: Der böse Brundibar wird in der neuen Version nicht besiegt, sondern kündigt an: »I’ll be back!« Sendak wollte keine Gutenachtgeschichten erzählen.