Antiziganismus aus der Mitte der Gesellschaft

Extreme Mehrheit

Antiziganismus ist in Ungarn kein Monopol der Rechtsextremen.

Mit Hakenkreuzen und Naziparolen kündigen Rechtsextreme in der ungarischen Provinz ein Pogrom gegen Roma an und kennzeichnen die ausgewählten Häuser mit einem X. Andernorts wird ein jüdischer Friedhof geschändet, neue Schmierereien werden am Holocaust-Denkmal entdeckt sowie Schweinefüße auf der Statue von Raoul Wallenberg, der während der Nazizeit viele Jüdinnen und Juden vor der Deportation bewahrte. Antiziganismus und Antisemitismus sind in der ungarischen Gesellschaft längst alltäglich. Das liegt nicht nur am aggressiven Auftreten von paramilitärischen Gruppen, Hooligans und Motorradrockern. Inzwischen stellt die rechtsextreme Partei Jobbik Bürgermeister in mehreren Dörfern. Selbsternannte Sheriffs gehen gegen die vermeintliche »Zigeunerkriminalität« vor, wie die europäische Öffentlichkeit in den vergangenen zwei Jahren mehrfach erfahren konnte. Die Rechtsextremen schikanieren die Opfer ihres Hasses und provozieren zugleich, offensichtlich vergnügt, den ungarischen Staat.
Die Regierung hat nach diesen Gewalttaten zwar die Versammlungsgesetze verschärft und während der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft einen »EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020« initiiert. Dass Roma bei antiziganistischer Gewalt durch die Polizei auch tatsächlich geschützt werden, ist jedoch offenbar zu viel verlangt.
Diese Tatenlosigkeit schafft Spielraum für antisemitische und antiziganistische Einstellungen in der Mehrheitsgesellschaft. Mit ihnen wird in Ungarn der Mob rekrutiert, und zwar immer wieder. Die Regierung von Viktor Orbán hat den Ombudsmann für Minderheiten abgeschafft. Dessen kritische Stimme fehlt, gerade jetzt, da die nationalistische Rhetorik neue Schärfe gewinnt. Aber die Pogromstimmung war bereits unter der sozialistischen Vorgängerregierung da: Eine Mordserie, der insgesamt sechs Menschen zum Opfer fielen, fand in den Jahren 2008 und 2009 statt.
Der auf der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten Spielfilm »Csak a szél« (»Nur der Wind«) des ungarischen Regisseurs Benedek Fliegauf zeichnet diese Gewalttaten nach und zeigt, dass die Täter nicht nur die Rechtsextremen sind. Etwa in der Szene, in der ein Schulleiter zu der Putzfrau, die ihm direkt gegenübersteht, sagt: »Es stinkt nach totem Tier.« Die Frau ist Romni, der Mann nicht.
Auf der Pressekonferenz zum Film betonten Vertreter der ungarischen Regierung immer wieder den fiktionalen Charakter des Films. Fiktion? Der Film zeigt, wie Roma im Alltag diskriminiert werden, ob in der Schule oder bei der Arbeit; wie sie auf sich gestellt sind, wenn sie Opfer von rechsextremer Gewalt werden, und wie sie aus den Siedlungen ausgeschlossen werden, in denen »echte Ungarn« wohnen. Sie verlassen aus Angst ihr Herkunftsland und sie sterben nachts im Kugelhagel. Fiktional ist das leider nicht.
Unterdessen inszenieren regierungsnahe Medien gefälschte Bilder, etwa zur Schulsegregation in Gyöngyöspata, und bezichtigen Roma, NGOs und ausländische Medien der Lüge. Die Kritik der europäischen Institutionen ist ein halbes Jahr nach Inkrafttreten der neuen Verfassung fast verflogen. Nachdem 2009 Róbert Csorba und sein Sohn bei der Flucht aus ihrem brennenden Haus in Tatárszentgyörgy erschossen worden waren, kam es erst auf Initiative der liberalen ehemaligen EU-Parlamentarierin Viktória Mohácsi zu Mordermittlungen. Die Politikerin, selbst Romni, wurde in Ungarn mehrfach bedroht und musste unter Polizeischutz leben. Vor einigen Monaten ist sie nach Kanada ausgewandert. Wen kümmert der nächste Anschlag?