Völkische Offensive in Ungarn

Orbáns Schlacht um die Scholle

Die ungarische Regierung will mit einem antiliberalen und antikommunistischen »Wirtschaftspatriotismus« die Krise bekämpfen.

Befindet sich Europa »auf dem Weg zu Ungarns Wirtschaftspolitik«? Nichts anderes behauptete der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán vergangenen Monat nach den Wahlen in Frankreich und Griechenland. Eine solche Aussage mag verwundern. Nicht nur, weil die Wahlergebnisse in beiden Ländern einen Linksruck signalisieren, den man kaum mit der Politik von Orbáns nationalkonservativer Partei Fidesz in Verbindung bringen kann. Sie ist auch erstaunlich, weil Ungarn noch vor kurzem von der EU-Kommission und von europäischen Medien scharf kritisiert wurde. Es sei Ungarn, das sich von Europa wegbewege, lautete bisher die allgemeine Annahme.
Vor allem zum Jahreswechsel kam der ungarischen Politik große Aufmerksamkeit zu. Seit die im Mai 2010 angetretene Regierung zahlreiche Reformen durchführte, die den politischen Autoritarismus in dem Land verstärkten, wurde immer kritischer über Ungarn berichtet. Der fragwürdige Umgang mit Minderheiten und Oppo­sitionellen trug ebenso zur Besorgnis bei wie das Erstarken von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Nationalismus in der Gesellschaft.
Doch erst mit dem Versuch, die ungarische Nationalbank unter staatliche Kontrolle zu bringen, geriet Ungarn auch in einen handfesten Konflikt mit der EU. In der Folge leitete die EU-Kommission nicht nur verschiedene Vertragsverletzungsverfahren ein, auch Hilfskredite für Ungarn vom Internationalen Währungsfonds (IWF) rückten in weite Ferne. Zugleich bekam das von der Krise betroffene Land den Druck der Märkte zu spüren. Der Kurs des Forint stürzte, die Zinssätze für Staatsanleihen schossen in die Höhe, zeitweise auf über elf Prozent. Ein Staatsbankrott Ungarns schien nah. Die Regierung sprach, in der für sie typischen Manier, von »Finanz- und Spekulationsangriffen« und wähnte sich in einer »Schlacht um Ungarn«. Während Orbán die EU mit vagen Willensbekundungen zu beschwichtigen versuchte, inszenierte er sich in Ungarn als Verteidiger der Nation gegenüber »Brüssel« – dem »neuen Moskau«. Die Massen dankten es ihm mit der größten Demonstration der ungarischen Geschichte, gerichtet gegen die EU.
Wenige Monate später ist es in der Berichterstattung still geworden um Ungarn. Und auch die Märkte haben sich beruhigt. Ende Mai erklärte sogar die EU-Kommission, dass sie von einem Defizitverfahren gegen Ungarn Abstand nehmen werde. Selbst der Weg für neue Kredite des IWF soll wieder frei gemacht werden. Dass die Kritik an Ungarn derart abflauen konnte, dürfte auch an der Unterstützung liegen, die die Partei Fidesz von Seiten ihrer konservativen Partnerparteien in Europa bekam (Jungle World 4/2012).

Insbesondere die deutschen Unionsparteien unterstützten die ungarische Regierung. Kritik an dieser solle vermieden werden, um die antieu­ropäische Stimmung in Ungarn nicht zu schüren, hieß es etwa aus Unionskreisen (Jungle World 9/2012). Wichtiger dürften jedoch wohl handfestere Gründe gewesen sein, so wurde ­Österreich, dessen Banken sich stark in Ungarn engagieren, von den Rating-Agenturen herun­tergestuft. Auch die deutsche Wirtschaft ist als Hauptinvestor stark in Ungarn involviert. Eine Verschärfung der Krise in Ungarn hätte also, auch wenn das Land nicht in der Euro-Zone ist, die ­Euro-Krise enorm verschlimmert.
Vor diesem Hintergrund ist das Zurückweichen der EU-Kommission zu bewerten. Offiziell heißt es zwar, Ungarn habe »die notwendigen Maßnahmen ergriffen«, um das Defizit in diesem und im kommenden Jahr unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu drücken. Doch der im April vorgelegte »Széll-Plan 2.0«, mit dem die Regierung den Entzug finanzieller Unterstützung durch die EU abwenden wollte, enthält im Wesentlichen nur weitere Steuermaßnahmen und keinerlei Strukturreformen. Zugleich sagt die Kommission selbst, dass die haushalts- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen eigentlich unzureichend seien. Offensichtlich will man derzeit kein weiteres Krisenland haben, zumal Orbán – bei aller Taktiererei – durchaus Stärke demons­triert hat und die Bereitschaft signalisierte, Europa notfalls mit in den Abgrund zu reißen.
Nun frohlockt Orbán über seinen »Sieg« in Brüssel und taktiert munter weiter. Etwa in der Frage des Nationalbankgesetzes, dessen Revision als Bedingung für die Verhandlungen über IWF-Kredite gilt. Die Zusammenlegung der Nationalbank mit der Finanzaufsicht ist mittlerweile zwar vom Tisch, nicht aber die von der EZB bemängelte Zusammensetzung des Währungsrates und des Nationalbankpräsidiums, über die die Regierung die Unabhängigkeit der Nationalbank beschneiden möchte. Damit wurde die EU, die bereits ihre Zustimmung zu Verhandlungen über IWF-Kredite für Ungarn gegeben hat, wieder einmal brüskiert.
Orbán profitiert auch von der sich langsam ändernden politischen Strategie in der EU. Seit das Scheitern der Austeritätspolitik immer deutlicher wird, diskutiert man in Europa allmählich über Wachstumspolitik. Eben diese Entwicklung ist es, die Orbán als Hinwendung zum ungarischen Weg bezeichnete. Doch Fidesz der wachstumspolitischen Koalition zuzuordnen, wäre irreführend. Denn die Wirtschaftspolitik dieser Partei ist und bleibt einzigartig in der EU. Ihr spezieller Charakter ergibt sich daraus, dass die ungarische Rechte – sowohl Fidesz als auch die faschistische Partei Jobbik – die Ökonomie als zentrales Kampffeld in ihrer nationalistischen Strategie betrachtet. Nicht von ungefähr ist zuweilen vom »wirtschaftlichen Befreiungskampf« die Rede.
Nicht vergessen werden darf, dass Ungarn sich bereits 2006 in einer Haushaltskrise befand und deshalb die Finanzkrise ab 2007 das Land besonders hart traf. In dieser Situation begann der Aufstieg der nationalistischen Bewegung in Ungarn. Diese macht für die desolate Lage Ungarns zum einen die Verstaatlichungen durch die Kommunisten, zum anderen die Privatisierungen durch deren sozialistische Nachfolger verantwortlich. Auf diese Weise sei das Land doppelt »ausgeraubt« und in tiefe Abhängigkeit getrieben worden. Die »Befreiung« Ungarns wird daher primär als ökonomische Frage angesehen.
Entsprechend spiegelt sich in der ungarischen Wirtschaftspolitik eine sowohl antiliberale als auch antikommunistische Ideologie. Federführend ist hierbei György Matolcsy, der als »Superminister« dem eigens geschaffenen »Volkswirtschaftsministerium« vorsteht. Der Fidesz-Politiker, der einen unkonventionellen Wirtschaftsplan nach dem anderen aus dem Hut zaubert, ist umstritten, lassen die Erfolge seiner Politik doch auf sich warten. Mehrfach wurde bereits über seine Ablösung spekuliert, noch genießt er jedoch das Vertrauen Orbáns. Dieser hatte bereits Ende 2010 verkündet, dass man in der Wirtschafts­politik, auch mit dem Risiko eines Scheiterns, »experimentieren« werde – zum Teil mit »brutalen« Maßnahmen.
Doch was die Regierung durchsetzt, sind vor allem Ad-hoc-Maßnahmen, die zu einem Großteil widersprüchlich sind. So sollte die Einheitssteuer (flat tax) den ungarischen Standort attraktiver machen, gleichzeitig belegt die Regierung die Unternehmen jedoch mit Krisen- und Branchensondersteuern, die ausländische Investoren missmutig stimmen. Vor allem diese Sondersteuern sind es, mit denen man den Haushalt zu konsolidieren versucht.
Der Umgang mit der lohnabhängigen Bevölkerung wiederum folgt ganz der Devise von Zuckerbrot und Peitsche. Auf der einen Seite wird – unter der Maxime des »Wirtschaftspatriotismus« – ein neues Arbeitsregime errichtet: Flexibilisierung, Lockerung des Kündigungsschutzes, Aufhebung von Tarifstandards und Mindestlöhnen, eine weitgehende Einschränkung der Streik- und Gewerkschaftsrechte, ja sogar Formen von Zwangsarbeit (Jungle World 2/2012). Auf der anderen Seite ergreift die Regierung auch populäre Maßnahmen, etwa zum Abbau der Privatverschuldung, zur Subventionierung der Heizkosten oder zu Lohnkompensationen. Doch diese Maßnahmen sind nicht ausreichend, um zu verhindern, dass sich die soziale Lage verschlechtert.
Weniger widersprüchlich, dafür umso kurioser wirken die Maßnahmen, die sich die Regierung zum Schutz der heimischen Wirtschaft ausgedacht hat. Von der Förderung der heimischen Mittelschicht und einen Stopp von Privatisierungen, über Rückverstaatlichungen bis zum »Kampf gegen (ausländische) Banken« ist alles im Sortiment.

Besonders symbolträchtig ist für die Regierung der Bereich der Landwirtschaft. Hier soll der »Darányi-Plan«, der ökologische Ziele mit nationalen Interessen verbindet, das Land von »ausländischem Dreck« befreien und zur »nationalen Unabhängigkeit« beitragen. Landwirtschaftliche Nutzflächen sollen dabei, vor allem mit Hilfe eines »Landschutzgesetzes«, vor ausländischem Zugriff bewahrt und etwa ohne Gentechnik bearbeitet werden. »Nationen, die ihre Scholle auf­geben, geben sich selbst auf und werden konsequenterweise schwach«, sagte dazu Orbán.
An die ungarische Scholle möchte die Regierung auch die Studierenden binden. So soll ein Gesetz regeln, dass diese nach ihrem Abschluss die doppelte Dauer ihrer Studienzeit in Ungarn arbeiten müssen. Außerdem möchte die Regierung des Bevölkerungsrückgangs Herr werden. Und so nimmt die Förderung kinderreicher Fa­milien einen hohen Stellenwert in den Steuerplänen ein. Vorgesehen ist etwa, dass diese Familien mit höheren Renten belohnt werden, während Kinderlose mit Einbußen zu rechnen haben. Aber auch gesünder soll der »Volkskörper« werden. Dafür sorgen soll eine Strafsteuer auf vermeintlich ungesunde Lebensmittel.
Den Blick auf das Ausland hat die Regierung dabei nicht verloren. Allerdings ist hier eine strategische Neuorientierung festzustellen. Das Land sucht neue Partner, um sich aus der Abhängigkeit von der Euro-Zone zu lösen, und findet etwa Russland, China, Kasachstan, Iran. Erst vergangene Woche schloss die ungarische Regierung mit einer chinesischen Wirtschaftsdelegation meh­rere Abkommen, darunter eines über die Vergabe von günstigen Krediten an Ungarn, das bereits davon träumt, dadurch von IWF-Krediten unabhängig zu werden.
Auch die neue Außenwirtschaftspolitik, die Orbán als »Ostöffnung« bezeichnet, folgt ideologischen Vorgaben. In der extremen Rechten Ungarns verbreitet sich ein Ostmythos, sie halluziniert derzeit eine Blutsgemeinschaft der »Turk-Völker«, zu denen sie die Magyaren zählt.
Orbáns Hinwendung nach Osten schreibt sich indes Jobbik auf die Fahnen, ebenso wie die na­tionale Landwirtschaftsstrategie oder andere nationalistische Projekte, die die Regierung von den Faschisten übernommen hat. Derzeit rangiert Jobbik in Umfragen noch zwischen 20 und 25 Prozent, sieht sich aber schon bald in Regierungsverantwortung. Schließlich seien ohnehin »zwei Drittel der Ungarn Jobbik«, auch wenn sie es nicht wüssten, proklamierte jüngst der Vorsitzende Gábor Vorna, der seine Partei als wahren Motor der Regierungspolitik sieht.