Porträts von russischen Kriegsveteranen, die in Deutschland leben

Sie waren Helden

In Russland zeigen die ehemaligen Kriegsteilnehmer stolz ihre Orden vor. In Deutschland führen sie ein zurückgezogenes Leben. Alexandre Sladkevich (Text und Fotos) porträtiert Menschen, die in der Roten Armee gegen den deutschen Faschismus gekämpft haben und heute irgendwo in Frankfurt oder Berlin wohnen.

Wenn er nicht gerade wie für unser Foto seine vielen Orden ans Revers geheftet hat, dann sieht Boris Gelfand aus wie einer von vielen Rentnern in Deutschland. Seine Biographie unterscheidet ihn jedoch von den Deutschen seiner Generation. Boris Gelfand ist in Shlobin in Weißrussland geboren und kämpfte zwischen 1941 und 1944 im Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland. Als Kommandeur einer Schützeneinheit erzwang er 1943 den Übergang über die Newa und war dabei, als die von der Wehrmacht besetzte Festung Schlüsselburg zurückerobert wurde. Dabei habe er keinen einzigen Soldaten verloren, erzählt er.
Nach einer Schussverletzung musste er bis 1944 in verschiedenen Hospitälern behandelt werden. Ausgezeichnet wurde er mit dem Ruhmesorden für Mut und Heldentum, der höchsten Kriegsauszeichnung, die ein sowjetischer Soldat bekommen konnte. Für seinen Einsatz in Leningrad bekam er den Orden des Großen Vaterländischen Krieges 1. Klasse und 16 weitere Auszeichnungen für andere Verdienste. Nach dem Krieg arbeitete er am »Gedenkbuch des Kreises Shlobin« und an dem mehrbändigen »Erinnerungsbuch für die im Kampf gegen den Nazismus gefallenen jüdischen Soldaten«.
In seiner Wohnung in Frankfurt am Main blättert Gelfand in den Gedenkbüchern, an denen er viele Jahre gearbeitet hat. Er empfand es als seine Pflicht, die Namen jener zu sammeln und zu dokumentieren, die das Ende des Krieges nicht mehr erlebt haben. Viel Zeit verbrachte er mit Recherchen in den Archiven.
Die in der damaligen Sowjetunion geehrten, in Deutschland umstrittenen Soldaten bilden eine Gruppe osteuropäischer Migranten, die man kaum wahrnimmt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten kamen sie in den neunziger Jahren im Zuge der Einwanderungswelle nach Deutschland, das sie nur aus dem Krieg kannten. Inzwischen sind sie Zivilisten, Rentner, oftmals Sozialhilfeempfänger.
Sie waren längst nicht mehr jung, als sie nach Deutschland kamen, sich zu »integrieren« oder zu »assimilieren«, fiel da besonders schwer. Sie gehen zu russischen Ärzten, besuchen russischsprachige Veranstaltungen und sehen russisches Fernsehen. Mit starkem Akzent sagen sie »Guten Tag« oder »Danke, es geht«, wenn ihre deutschen Nachbarn sie ansprechen. Sie lächeln unsicher, in der Furcht, die Nachbarn könnten noch etwas fragen. Auch ihren Kinder fiel das neue Leben in Deutschland oft nicht leicht, ihre Enkelkinder aber sind Deutsche geworden und wollen oftmals kein Russisch sprechen.
Jeder dieser Veteranen weiß auch heute noch ganz genau, was er am 22. Juni 1941 gemacht hat und was er fühlte, als die Radiosender des Landes verkündeten: »Achtung! Hier spricht Moskau! Heute, am 22. Juni, um vier Uhr früh hat die deutsche Armee ohne Kriegserklärung unser Land überfallen.« Diese Meldung hat sich tief in das Gedächtnis gegraben und das Leben in eine Zeit »davor« und »danach« geteilt. Es ist die Zeit »danach«, die diese Generation geprägt hat.
Regina Pankewitsch war 13, als sie ihre Eltern im Krieg verlor. Die Mutter verhungerte, der Vater starb, als er mitten in Leningrad in einer Straßenbahn von einem deutschen Panzerzug beschossen wurde. Regina wohnte fortan allein in dem fünfstöckigen Haus. Morgens um sechs ging sie los, sich ihre Brotration zu holen. Neben dem Hauseingang lagen die Körper der Menschen, die es nicht bis zur Ausgabestelle geschafft hatten. Sie hielt Wache auf Hausdächern, löschte Brandbomben mit Sand und wurde in der Sowjetunion als Kriegsteilnehmerin anerkannt. Heute lebt sie gemeinsam mit ihrem Mann Wladimir Pankewitsch in Frankfurt am Main. 1945 war er Befehlshaber der Radarstation für Flugzeugaufklärung und sollte sowjetische Jagdflugzeuge an die feindlichen Flugzeuge heranführen. Nach dem Krieg war er als Lehrer an der Hochschule für Navigation tätig.
Menschen mit Dutzenden von Orden und Medaillen für Tapferkeit, Kühnheit und Heldenmut. Manche schweigen, sehen traurig zu Boden, andere erzählen stundenlang von ihren ersten Kämpfen, Verwundungen und gefallenen Freunden. Andere weinen. Freiwillig zogen ganze Schulklassen an die Front. Mädchen und Jungen. Mit ihren Schulbänken mit den eingeritzten Liebeserklärungen, den Tintenklecksen und den Schrammen der Taschenmesser wurden die Öfen der Lazarette geheizt, die in den Schulen eingerichtet worden waren. Die Kinder blieben den Schulen fern, in den Klassenzimmern lagen die Verwundeten.
Eliazar Menis ist in der Ukraine geboren und zog als Kind mit seiner Familie nach Baku in Aserbaidschan. Der »Held der Arbeit«, der nun in Bernau bei Berlin lebt, begann schon mit 14 Jahren zu arbeiten, so wie es die damaligen Gesetze vorschrieben. Er war in einem Betrieb tätig, der auch Geschosse herstellte, rüstete Schulen zu Militärhospitälern um und musste zusehen, wie die gefallenen Soldaten in Massengräbern, den sogenannten Brudergräbern, beigesetzt wurden. Später wurde er Berufssoldat. Menis ist ernst und überlegt, er spricht langsam und deutlich. Er sitzt gerade mit hoch erhobenem Kopf, seinen Anzug schmücken viele Medaillen. Mit starrer Miene lauscht er dem alten Kriegslied »Blaues Tuch«, das mit den Worten beginnt: »Am 22. Juni, genau um vier  Uhr, wurde Kiew bombardiert, man erklärte uns, der Krieg habe begonnen.«
Es ist nicht einfach für Eliazar Menis, etwas über seinen Alltag zu berichten. Es sei immer dasselbe: Sorgen um die Gesundheit und das Warten auf den Besuch von Kindern, Enkeln, Urenkeln. Wie die meisten anderen Veteranen sieht er russisches Fernsehen, liest russische Zeitungen, ihn plagen ganz normale Alltagssorgen, aber auch die Kriegserinnerungen holen ihn immer wieder ein. Es ist, wie es der Dichter Robert Roshdestvenskij einmal formuliert hat, »das Echo des vergangenen Krieges«, das in den Erzählungen dieser Männer hörbar wird.