Tim Lawrence im Gespräch über die Musik von Arthur Russell

»Er wollte bewusst schockieren«

Ein Gespräch mit dem Disco-Experten Tim Lawrence über den US-amerikanischen Musiker und Produzenten Arthur Russell, moderne Hörgewohnheiten und die Auswirkungen von Gentrifizierung auf die Kultur einer Stadt.

Relevante Kunst ist manchmal eingesperrt im Gefängnis der Gegenwart. Künstler, die dieses Schicksal ereilt, werden dann erst posthum anerkannt. Arthur Russell, Komponist, Cellist und Produzent wegweisender Disco-Hymnen, war ein solcher Pionier, der zunächst unverstanden blieb. Seine Musik sprengte die Grenzen zwischen Avantgarde und Pop und war ihrer Zeit weit voraus. Neben vielen Wiederveröffentlichungen ist der späte Ruhm Russells auch dem Londoner Tim Lawrence zu verdanken, Autor der Biographie »Hold On to Your Dreams: Arthur Russell and the Downtown Music Scene 1973–92«. Anlässlich des 20. Todestages des an Aids verstorbenen Musikers unternimmt Tim Lawrence im Juli eine Lesereise nach Deutschland.

Arthur Russell scheint einen großen Einfluss auf die Musik- und Kunstwelt gehabt zu haben, auch wenn dieser jetzt erst deutlich wird.
Arthur war Zeit seines Lebens lange nicht so einflussreich, wie er es gerne selbst gewollt hätte. Er hatte einen sehr hohen Anspruch an sich selbst und wollte, dass seine Musik von möglichst vielen gehört wird. Arthur war ja bekannt dafür, dass es ihm sehr schwerfiel, Platten fertigzustellen, und dennoch veröffentlichte er ziemlich viel. Dabei war es damals nicht einfach, einen Plattenvertrag zu bekommen. Das galt gerade für eine Musik, die im alternativen Umfeld in Downtown entstand.
Er soll bei seinem Tod fast 1 000 nicht beendete Aufnahmen hinterlassen haben. Als ehemaliges Mitglied einer buddhistischen Kommune schien diese Schwäche aber seine Stärke zu sein. Musik war für ihn ein nie abgeschlossener Prozess. Das ist vergleichbar mit dem jamaikanischen Dub, der das Remixen unfertiger Songs als Kunstform etablierte. Wie wirkte sich sein Schaffen auf die Szene in Downtown aus?
Großen Einfluss hatte er als Kurator im Kitchen (einem legendären Club der Avantgarde-Szene in Downtown, d. Red.), denn dort versammelte er ganz unterschiedliche Komponisten und Künstler. Er war einer der ersten, die sich aktiv für die Auflösung der Grenzen zwischen Kunst und Musik einsetzten. Er machte keinen Unterschied zwischen Disco, Rock und Minimal Music. Das Kitchen war ja vor allem als Treffpunkt für Komponisten bekannt, aber Russell buchte dann auch Bands wie die Talking Heads. Diese Mischung inspirierte viele Künstler.
Das Kitchen wurde durch Russell also zu ­einem prototypischen Mikrokosmos einer neuen, postmodernen Kunstwelt?
Arthur war offen für jegliche Form von Sound. Er sorgte dafür, dass die unterschiedlichen Genres und Künste miteinander interagierten und lud sogar Disco-Künstler wie Peter Zummo ein. Zummo war ein klassisch ausgebildeter Posaunist und ist auch auf einigen Russell-Stücken wie »Go Bang« zu hören. Arthur war ständig unterwegs und pflegte Freundschaften zu den unterschiedlichsten Personen. Man konnte ihn im CBGB’s, aber auch im Loft oder im Garage treffen.
Russell sorgte für einen kreativen Austausch jenseits von Genres. In Ihrem Buch über ihn beschreiben Sie, dass im Kitchen zwar die musikalischen und sozialen Grenzen aufgehoben waren, dieses Ideal aber außerhalb dieses Ortes noch lange nicht erfüllt war. War Russell seiner Zeit voraus?
Selbst die Leute in Downtown konnten damals seine Vision nicht wirklich verstehen. Heute, im Zeitalter der Digitalisierung, sind die Menschen ja viel offener dafür, Musik jenseits von Genre-Grenzen zu hören. Ein utopisches Moment von Musik, das Russell anstrebte, ist Wirklichkeit geworden. In den achtziger Jahren mochten die Leute entweder nur Dance oder nur HipHop. Die wenigsten aber hörten beides, wie es heute der Fall ist. Ob das gut ist oder nicht, ist eine andere Sache.
Sind Sie skeptisch gegenüber den heutigen Hörgewohnheiten?
Als der Walkman auf den Markt kam, war Arthur einer der ersten, die einen besaßen. Einige seiner Freunde erzählten immer wieder, wie sie ihn oft beim Spazieren auf der Straße trafen. Er trug dann fast immer einen Walkman und hörte Sachen wie mongolische Oberton-Gesänge. Er war da sehr speziell. Ich finde es ja toll, dass Musik viel demokratischer und freier gehört wird als früher. Aber Arthur war es wichtig, immer auch die sozialen Kontexte zu kennen, in denen die Musik entstand. Musikkonsum war für ihn nichts Beiläufiges.
Das ist ja heute, im Zeitalter der Downloads, oft nicht der Fall.
Viele Leute hören Musik, ohne zu wissen, wo sie herkommt. Es ist ganz normal, dass Musiker Aufnahmen aus einem kolumbianischen Percussion-Ensemble sampeln, um es als Drum-Break zu verwenden. Die Musik wird dadurch aber dekontextualisiert und der soziale Hintergrund einfach ignoriert. Wir sollten uns Arthur zum Vorbild nehmen und unsere eigenen Hörgewohnheiten hinterfragen.
Arthur Russell war ja nicht nur in musikalischer, sondern auch in sozialer Hinsicht progressiv. Inwiefern hing sein Schaffen mit seiner Homosexualität zusammen?
Bevor er seine Homosexualität entdeckte, hatte er bereits einige Beziehungen zu Frauen. Das änderte sich erst mit seinem Umzug von San Francisco nach New York, zu dem ihn sein Freund Allen Ginsberg riet. Dieser war Arthurs erste Affäre überhaupt, wie Ginsberg selbst betonte. Etwa zur gleichen Zeit, 1973, eröffnete der berühmte Garage-Club, den auch viele Schwule besuchten. Dort ging es sehr ekstatisch zu und Arthur war begeistert von dieser Energie. Solche Orte ermöglichten ja erstmals, dass Musik und soziale Randgruppen auf neue Weise zusammenkamen. Das beeinflusste sich damals alles gegenseitig und Arthur wurde zu einem Teil dieser Bewegung.
Aber dennoch wollte er sich nicht in Definitionen pressen lassen. Er fand Frauen nach wie vor attraktiv.
Genau, er wollte sich stets alle Optionen offenhalten. Andererseits führte er eine glückliche Beziehung mit seinem Partner Tom Lee. Lee war ohnehin eine unglaublich wichtige Figur, die quasi eine Doppelrolle erfüllte, denn er war Ehemann und Ehefrau zugleich. Tagsüber arbeitete er in einem Kunst-Shop in Soho, abends kochte er für Arthur. Dieser hingegen war den ganzen Tag mit seiner Musik beschäftigt, rauchte Gras oder war unterwegs. Russell arbeitete sehr hart an seiner Musik, verdiente aber kaum Geld damit. Lee ermöglichte ihm also, das zu tun, was er wirklich wollte, nämlich unabhängig Musik zu machen.
Arthur Russell gehörte nicht zur Schwulenbewegung, aber er war sich trotzdem bewusst, dass sein Lebensstil politisch relevant war. Ginsberg vertrat die Ansicht, dass man mit Kunst auch eine alternative Politik kommuniziert, die sich zum Beispiel in unhierarchischen Strukturen zeigt. Es war wohl auch die Freundschaft zu Ginsberg, die Russell inspirierte, das Thema Sex in seiner Musik zu verarbeiten.
Speziell in den späten siebzier und frühen achtziger Jahren veröffentlichte Arthur einige Singles, die sehr explizite sexuelle Anspielungen ent­hielten. Es waren Stücke wie »Clean on your bean«, »Go Bang« oder »Is it all over my face«. Die Songs waren aber stets ambivalent.
Der Text von »Is it all over my face« enthält einige direkte sexuelle Anspielungen. Da es aber andererseits mit »I’m in love dancing/Catch the love wave« weitergeht, lässt sich die Phrase auch als Beschreibung eines glücklichen Tänzers verstehen.
Ja, Russell machte seine Einstellung auf clevere Weise deutlich, ohne eindeutig zu sein. Dennoch sind die Songs ein Ausdruck einer schwulen Identität. Es gab schon zuvor ein paar ähnliche Songs, wie die Disco-Klassiker »You make me feel mighty real« von Sylvester oder Carl Beans »I was born this way«. Doch diese waren noch ziemlich brav.
Einen Song über Sex zwischen Männern zu schreiben, war ja, Steven Hall zufolge, politisch ebenso radikal, wie für freie Meinungsäußerung zu demonstrieren.
Ja, und Arthur brachte dies mit seiner Direktheit auf ein neues Level. Es gab ja schon eine lange Tradition für solche Inhalte in der Musikgeschichte, aber sie war ausschließlich heterosexuell. Arthur war der erste, der dies auch im homosexuellen Kontext wagte. Er wollte damit bewusst schockieren.
Downtown war in den Siebzigern von hoher Kriminalität geprägt und befand sich in einem desaströsen Zustand, wodurch jedoch die Mieten sehr günstig waren. Dadurch konnten sich die Künstler ihre Kreativität gewisser­maßen leisten. Dies änderte sich in den Achtzigern. Ist die Geschichte von Russells Lebensumfeld auch eine Geschichte der Gentrifizierung?
Zu Beginn der Achtziger war Arthur sehr aktiv, und das Jahr 1983 war der Moment, in welchem Downtown begann, sich zu verändern. Der Grundstein für die Entwicklung wurde bereits 1975 gelegt, als in den USA eine Rezession herrschte. In dieser Zeit entwickelte sich der Neoliberalismus, den Margaret Thatcher und Ronald Reagan, aber auch die Banken vorantrieben. Darunter verstehe ich die Deregulierung, also die Freiheit der Märkte und die geringen Steuern, die zur Auflösung des Sozialstaats führten. Mich interessiert vor allem, wann dieser Wandel auf der Straße sichtbar wurde. Meine These ist, dass die Gentrifizierung von Downtown etwa um 1983 beginnt. Denn da setzte der Boom des Immobilienmarkts und der Wall Street ein, der New York gewaltig veränderte.
Wie würden Sie denn das New York von früher mit dem von heute vergleichen?
Downtown ist heute nicht mehr wiederzuerkennen. Früher gab es sehr viele Musik-Locations, heute ist davon so gut wie nichts mehr da. Die Kultur ist umgezogen, in die Bronx oder nach Brooklyn. Das sind jedoch Wohngegenden, in denen es sehr schwierig ist, Konzerte zu veranstalten. Man muss das Zentrum der Stadt verlassen, für Konzerte fährt man bis nach Brooklyn.

Lesetermine von Tim Lawrence:
12. Juli: Kassel, Arm
13. Juli: Bremen, Spedition
14. Juli: Berlin, Prince Charles
15. Juli: Hamburg, Golem