Slutwalk Berlin im Gespräch über internen Streit, Provokation und Feminismus in Deutschland

»Wir werden wütend«

Im April 2011 veranstalteten feministische Gruppen im kanadischen Toronto den ersten »Slutwalk«. Dort wurde dagegen demonstriert, Frauen aufgrund ihres Kleidungsstils die Schuld für sexuelle Übergriffe zu geben. Es entstand eine weltweite Slutwalk-Bewegung, die sich gegen sexu­alisierte Gewalt und für körperliche und sexuelle Selbstbestimmung ausspricht. Allerdings gab es innerhalb der queer-feministischen Szene auch Kontroversen um verwendete Begriffe und die politische Ausrichtung der Slutwalks. Der nächste Slutwalk in Berlin soll am 15. September stattfinden. Die Jungle World sprach mit Milka und Nina aus dem Organisationsteam über den Stand der Debatte und der Vorbereitungen.
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Was wurde mit dem letzten Slutwalk erreicht?
Milka: Unser größter Erfolg war, dass 3 500 Menschen an der Demonstration teilgenommen haben und wir eine überfällige Diskussion zum Thema sexualisierte Gewalt angestoßen haben.
Nina: Der Berliner Slutwalk war mit seiner großen Teilnehmer_innenzahl und der daraus resultierenden medialen Aufmerksamkeit auch als Teil der weltweiten Slutwalk-Bewegung erfolgreich. Sie wird immer größer und kann als Netzwerk immer mehr erreichen.
Am Slutwalk im vorigen Jahr gab es viel Kritik von Gruppen, die sich nicht angemessen repräsentiert fühlten, zum Beispiel People of Colour, Sexarbeiterinnen und ökonomisch Benachteiligte. Was habt ihr aus der Organisation des ersten Slutwalk gelernt?
Milka: Wir haben Anfang Juni zu einem offenen Treffen eingeladen, um der Kritik aus dem Vorjahr Raum zu geben. Dabei haben wir mit Vertreter_innen der Gruppen Terres des Femmes, Lara und Hydra, aber auch mit Einzelpersonen darüber diskutiert, wie der Slutwalk verbessert werden kann.
Nina: Wir haben auch gelernt, dass wir zusammenhalten und unsere Arbeit dokumentieren müssen, damit von uns gemachte Fehler in Zukunft vermieden werden können und den nächsten Organisationsteams nützliche Informationen zur Verfügung stehen. Uns wird vorgeworfen, wir repräsentierten nur die weiße Mittelschicht. Im Berliner Orgateam sind aber Menschen unterschiedlicher Herkunft vertreten, mit und ohne Hochschulabschluss und von 19 bis 70 Jahren. In den Unterstützer_innengruppen engagieren sich People of Colour, Sexarbeiterinnen, Mütter und Trans*.
Besonders People of Colour haben die offensive Verwendung des Wortes »Slut« aus einer antikolonialen Perspektive heraus als unzumutbar kritisiert. Warum habt ihr den Namen nicht geändert?
Nina: Wir haben uns intensiv mit der Namensänderung auseinandergesetzt und gerade den Text »Slutwalk Berlin – Eine Innenansicht« veröffentlicht, um auf die Kritik einzugehen. Aufgrund der knappen Zeit bis zum Slutwalk und weil wir ein sichtbarer Teil der globalen Bewegung bleiben wollen, haben wir uns erst einmal dafür entschieden, den Namen beizubehalten. Wir wollen mit anderen Slutwalkteams, zum Beispiel in Toronto, in Dialog treten, um das Problem gemeinsam anzugehen. Dadurch wollen wir verhindern, dass sich die gerade entstehende Bewegung in einzelne Teile auflöst. Ein einheitlicher Namenswechsel wäre eine bessere Möglichkeit. Außerdem hat es uns auch Mut gemacht, dass in vielen Ländern Slutwalks stattfinden, in denen es viel schwieriger ist, diesen Namen öffentlich zu verwenden, zum Beispiel in Marokko, Pakistan, Iran, Kongo und Südafrika.
Milka: Wir verzichten aber bewusst in unseren Texten und Statements auf das Thema der Wiederaneignung des Wortes »Slut/Schlampe«, weil wir die Problematik einsehen. Stattdessen haben wir uns dafür entschieden, dieses Jahr einen Untertitel zu verwenden, damit klar wird, wogegen und wofür der Slutwalk steht.
Der Untertitel lautet: »Gegen Verharmlosung von sexualisierter Gewalt. Für Selbstbestimmung!« Könnt ihr den etwas erläutern?
Nina: Wir wollen mit dem Titel darauf hinweisen, dass es um ein strukturelles gesellschaftliches Problem, um eine Vergewaltigungskultur geht. Wir leben hier und auf der ganzen Welt in einer patriarchalen Gesellschaftsform, die Frauen, Trans* sowie inter-, homo- und bisexuelle Menschen unterdrückt. Diese Strukturen, die durch Polizei und Justiz gestützt werden, müssen wir aufbrechen. Wir wollen, dass uns zugehört wird, dass uns geglaubt wird und die Betroffenen die Definitionsmacht haben – auch vor Gericht. Das ist natürlich als Forderung politisch ganz schwer durchsetzbar. Mensch kann vor Gericht nicht einfach für Definitionsmacht plädieren, aber trotzdem müssen wir für grundlegende Veränderungen im Umgang mit Betroffenen bei Behörden, Polizei und in der Justiz kämpfen.
Angeblich wurde der diesjährige Slutwalk wegen eines Streits mit einer der beteiligten Gruppen verschoben.
Nina: Auf der Soliparty für den Slutwalk gab es sexistische Äußerungen und sexuelle Übergriffe. Wir haben uns die Vorfälle und die Kritik daran sehr zu Herzen genommen und beschlossen, dass wir nicht vier Wochen später den Slutwalk veranstalten können, wenn wir kein großes Ordnerinnen- und Awareness-Team stellen können. Wir wissen, dass wir Übergriffe nicht verhindern können, aber wir wollen so gut wie möglich vorbereitet sein. Wir können auf der Straße keinen völlig sicheren Raum schaffen, aber wir wollen so viel Aufmerksamkeit und Sicherheit schaffen wie es nur geht. Außerdem erfuhren wir, dass am 18. August, dem ursprünglich angemeldeten Datum und dem letzten Tag des Ramadan, diverse Anti-Islam-Kundgebungen von »Pro Deutschland« stattfinden, und die meisten von uns werden an den Gegenveranstaltungen teilnehmen.
Milka: Da wir gerade nur ein sehr kleines Orga­team sind, in dem viele vorher noch nichts in dieser Größe organisiert haben, wollen wir auch gern dazu aufrufen, uns zu unterstützen. Bei der Planung, aber vor allem auch auf dem Walk, als Ordner_in, Teil des Awareness-Teams oder auch gern mit Rede- oder anderen Beiträgen. Je mehr Unterstützung wir haben, desto intensiver können wir auch auf Kritik und Anregungen eingehen und umso größer und umfassender kann der Slutwalk werden.
Wie viel Bedeutung hat für euch Provokation und der Ausdruck von Wut beim Slutwalk?
Milka: Die Provokation, die mit dem Namen Slutwalk einhergeht, steht in der Tradition der Riot-Grrrl-Bewegung, die auch wütend und laut ihren Ärger über patriarchale Verhältnisse geäußert hat.
Nina: Wenn wir als Schlampen oder Lügnerinnen bezeichnet werden, werden wir wütend und müssen die Wut trotzdem ständig in uns reinfressen, weil niemand zuhört und es keinen Raum dafür gibt. Der Slutwalk kann eine Möglichkeit sein, unsere Wut zu kanalisieren.
In eurem Aufruf schreibt ihr: »Wir sind stark, laut, wütend, wir sind viele und wir sind IM RECHT!« Gleichzeitig kritisiert ihr, dass ihr von Polizisten, Staatsanwälten und Richtern nicht ausreichend gehört und geschützt werdet. Wie könnt ihr euch dann positiv auf »Recht« beziehen?
Milka: Wir müssen vor allem solidarisch mit den Betroffenen sein und die Vorteile von Netzwerken bedenken. Je mehr Menschen wir ansprechen können, je mehr wir zusammenarbeiten, desto größer werden die Möglichkeiten, etwas zu ver­ändern. Es gibt zum Beispiel die Kampagne #ichhabenichtangezeigt, die sich mit einem offenen Brief an verschiedene Politiker_innen gewendet hat, um Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt zu fordern. Solche Aktionen wollen wir gerne unterstützen.
Nina: Wir wollen ja gerade darauf hinweisen, dass Betroffene von sexualisierter Gewalt oder Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Selbstdefinition vom Rechtsstaat nicht gerecht behandelt werden. Wir hoffen, mit dem Slutwalk ein allgemeines Bewusstsein für das Ausmaß an Vergewaltigungsmythen und Verharmlosung zu schaffen. Das soll auch Betroffenen von sexualisierter Gewalt den Mut geben, anzuzeigen und ihnen helfen, das Verfahren durchstehen zu können, ohne sich zu schämen oder sich wegen Vorwürfen angeblicher Mitschuld schuldig zu fühlen.
Eure Kritik an sexistischen Verhältnissen ist beim Slutwalk sehr auf Körperlichkeit ausgerichtet. Wie könnt ihr die Leute auch auf ar­gumentativer Ebene erreichen?
Nina: Das hängt sehr vom Umgang der Medien mit uns ab. Letztes Jahr wurde stark propagiert, es ginge vordergründig um das Recht, sich »sexy« zu kleiden. Das ist nicht mal die halbe Wahrheit, denn es geht in erster Linie darum, die strukturelle Problematik von sexualisierter Gewalt zu thematisieren und zu kritisieren. Dass Menschen aufgrund der Wahl ihrer Kleidung sexualisierte Gewalt erfahren oder benachteiligt werden, ist ein Symptom, nicht die Ursache.
Milka: Es gibt auf dem Slutwalk keinen Dresscode: Keine_r muss nackt sein, keine_r muss sich hochgeschlossen kleiden. Jede_r kann selbst entscheiden, in welcher Form sie_er sich diesem Protest anschließen will. Auch wenn in den Medien die Maxime »sex sells« gilt, widerspricht der Slutwalk in seinem Auftreten eigentlich diesem Bild: Was auf den Transparenten, Flyern und Schildern des Slutwalk ausgesagt wird, kann nicht von den Körpern getrennt werden. Nur beides zusammen – Körper und Texte – ergibt den richtigen Kontext.
Wie schätzt ihr die feministische Bewegung in Deutschland ein?
Milka: Die Welt braucht ganz dringend eine stärkere feministische Bewegung! Es wird uns ständig vorgehalten, dass kein Feminismus mehr gebraucht werde, weil Frauen jetzt abtreiben und wählen dürfen. Dabei gibt es noch unglaublich viel zu tun: Kindererziehung wird nicht als Arbeit anerkannt. Trans*personen dürfen nur nach (Hormon-)Therapie ihr Geschlecht in Ausweis und Geburtsurkunde ändern lassen. In Schulen werden ausschließlich heteronormative Familienverhältnisse gefördert, Aufklärung über Homo-, Trans- und Intersexualität fehlt völlig.
Nina: Frauen werden immer noch ständig angebaggert, werden immer noch als Objekte behandelt. Sie müssen Kinder und Karriere unter einen Hut bringen und werden dafür schlechter bezahlt als Männer bei gleicher Qualifikation. Es hat sich viel geändert, aber eher gemäß kapitalistischer Interessen. Feministisch betrachtet ist Deutschland auf dem Rückmarsch in die fünfziger Jahre. Es gibt eine Tendenz zur traditionellen Familienstruktur, zum klassischen Rollenverhalten, das Überraschungsei gibt es jetzt in rosa für Mädchen, Heidi Klum und Daniela Katzenberger werden in einem Satz mit feministischer Entwicklung genannt – gruselig.
Gibt es über den Slutwalk hinaus langfristige Pläne, die (queer-)feministische Bewegung zu unterstützen?
Nina: Ja, wir wollen unter anderem Aufklärungsplakate über sexualisierte Gewalt und Homo- und Trans*phobie für Schulen entwerfen und mit Organisationen kooperieren, die im Bereich Prävention an Schulen tätig sind. Viele von uns sind auch schon politisch aktiv und arbeiten in verschiedenen Projekten.
Milka: Im internationalen Rahmen sind wir dabei, den Slutwalk in Kairo mit aufzubauen, und wir versuchen, Pussy Riot mit Solidaritätsaufrufen auf unserer Website und während des Slutwalk zu unterstützen.