Linke Selbst- und Elendsverwaltung

Do it Yourself or Die

Die Krise zwingt zu sozialen und ökologischen Experimenten: Linke zwischen Selbst- und Elendsverwaltung.

Experimente der Selbstverwaltung seien in Griechenland angesichts der Krise von Staat und Kapital ganz groß im Kommen, hatte es geheißen. Aber Selbstverwaltung ist natürlich kein Selbstzweck, es kommt darauf an, wer was warum und wie selbst verwaltet. Dass griechische Nazis Lebensmittel an Arme verteilen, ist dafür exemplarisch. Selbstverwaltung ist in Teilen der Linken schon lange ein Ideal, auch in Griechenland. Doch erst mit der Krise entstand daraus eine nennenswerte Praxis. Meist sind solche Projekte aus der Not geboren, als eine Form der Selbst- und Überlebenshilfe.
Wenn es sich auch um keine Massenbewegung handelt, so finden sich Beispiele doch überall. Etwa im Bereich der Grundversorgung in Form selbstorganisierter Lebensmittelläden oder Märkte, wie dem kürzlich geräumten im Athener Stadtteil Kupseli. Tauschringe und Strukturen für den Direktvertrieb von Lebensmitteln sind entstanden. Ähnliches gilt für die Gesundheitsversorgung, wo engagierte Ärzte in kleinen Zentren kostenlos Patienten behandeln. Umkämpft ist auch der öffentliche Raum, nicht nur in den Kiezen, wo sich Anwohner versammeln und schon mal selbst Parks errichten. Im Juni wurde außerhalb Athens ein ungenutzter Campingplatz besetzt, um diesen und den angrenzenden Strand der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Gelände wird seitdem von Aktivisten gepflegt. Bei Thessaloniki wurden Teile eines ehemaligen Militärlagers besetzt, dessen Boden nun dem Anbau von Lebensmitteln dient.
Nicht zuletzt in den Betrieben geht es um die Frage der Selbstverwaltung. Das wohl bekannteste Beispiel ist derzeit eine Metallfabrik in Thessaloniki. Nachdem sich der insolvente Besitzer aus dem Staub gemacht hatte, haben die Beschäftigten das Gelände besetzt. Ihr Ziel ist es, die Produktion als Arbeiterkooperative wieder aufzunehmen. Sie wollen so der Arbeitslosigkeit entfliehen. Gerade weil das Arbeitslosengeld nur noch zwölf Monate ausgezahlt wird, erscheint dieses Ziel für viele Beschäftigte Pleite gegangener Betriebe immer dringlicher. Während in anderen Bereichen selbstverwaltete Projekte scheinbar an Schwung verloren haben oder schon wieder Vergangenheit sind, gewinnt hier die Diskussion über Selbstverwaltung erst so richtig an Fahrt.

Kann das nicht jemand anders machen?
In Athen sind zahlreiche Stadtteilversammlungen und selbstverwaltete Projekte entstanden, doch die Beteiligung ist zurückgegangen. Die Versammlung in Petrálona ist noch aktiv.
Nicole Tomasek
»Die Leute sind nicht bereit für die Selbstorganisation«, meint Simeón* etwas enttäuscht. Er nimmt an diesem Abend an der Stadtteilversammlung von Petrálona, Thissio und Koukaki teil. Anscheinend wissen nur wenige Anwohnerinnen und Anwohner Petrálonas von dem Treffen. Erst nach mehreren Nachfragen weist ein Mann auf den zentralen Platz Merkuri, der von Restaurants und Bars umgeben ist. Wegen des Regens wurde das Treffen in die Sozialküche verlegt, die auch als Versammlungsraum dient. Dort werden täglich Mahlzeiten gekocht, alles ist gratis, jeder spendet nach seinen Möglichkeiten.
Nun diskutieren hier um die 30 Menschen von Anfang 20 bis über 60 ihre zukünftige Strategie und anstehende Aktionen. Im Sommer seien die Versammlungen etwas eingeschlafen und jetzt müssten sie sich neu konstituieren, erläutert Simeón. Die meisten wurden mit dem Beginn der Austeritätsmaßnahmen 2010 ins Leben gerufen. Doch nach den großen Demonstrationen und sonstigen Protestaktionen im Februar dieses Jahres nahm die Beteiligung wieder ab. Bei den Wahlen stimmten viele für Syriza und andere linke Parteien, doch der erhoffte Wandel blieb aus. Nun sind die meisten frustriert und vor allem damit beschäftigt, ihre eigene Existenz zu sichern.
In der Hochphase gab es den Versuch, ein Netzwerk zu organisieren, 42 Versammlungen waren daran beteiligt. Doch es kam nicht zustande. Derzeit gebe es nur noch in 15 bis 20 Vierteln Athens Versammlungen, sagt Simeón. Auf dem Platz Merkuri habe es Treffen mit über 200 Menschen gegeben, doch viele seien mit dem Konzept der Selbstorganisation nicht wirklich vertraut. Bei den Treffen unterstützen zwar viele Anwesende bestimmte Ideen und Aktionen, wollen sie dann aber nicht selbst umsetzen, andere sollten das für sie übernehmen. Trotz der gesunkenen Beteiligung existierte die Versammlung von Petrálona, Thissio und Koukaki mehr oder weniger kontinuierlich.
Sie ist keine Reaktion auf die Krise, sondern entstand bereits im November 2002 mit dem Protest gegen die Kommerzialisierung des Hügels Filopappou. Die Stadtverwaltung von Athen wollte den Hügel, auf dem archäologische Restaurationen stattfanden, einzäunen, um später Eintritt zu verlangen. Doch ein paar Anwohner wollten sich ihr Naherholungsgebiet nicht nehmen lassen. Sie riefen zu einem ersten Treffen, an dem sich Hunderte beteiligten. Der Zaun wurde immer wieder eingerissen, bis die Stadtverwaltung aufgab. Seitdem engagierten sich die Mitglieder der Vollversammlung unter anderem gegen die Installierung von Mobilfunkmasten in Wohngegenden, Kameraüberwachung und Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr.
Doch die Aktionen beschränken sich nicht auf das unmittelbare Wohnumfeld, gewerkschaftliche und sonstige soziale Proteste wurden ebenso unterstützt und auf den Treffen wird über die Krise und den Kapitalismus diskutiert. »Die sind eher so linksradikal«, warnt uns Jenny*, die zum zweiten Mal an der Versammlung teilnimmt, in perfektem Deutsch. Sie wohnt noch nicht lange im Viertel und ist in der Nähe von Bielefeld aufgewachsen, 1992 aber nach Athen zurückgekehrt. Auch wenn sie offenbar nicht typisch links sozialisiert wurde, hält sie Selbstorganisation für eine gute Sache. Ins Leben gerufen hatten die Treffen eher linke und anarchistische Anwohnerinnen und Anwohner, doch geht es darum, alle Menschen einzubeziehen und basisdemokratisch »das Leben in die eigene Hand zu nehmen«, wie auch auf der Website der Versammlung und deren Plakaten zu lesen ist.
Ein wichtiges Thema ist auch der Kampf gegen Rassismus und das Erstarken des Faschismus. Das sei in diesem Viertel wie überall in Griechenland ein großes Problem, meint Jenny. »Ich habe nichts gegen Ausländer. Ich verstehe auch nicht, warum die Leute immer Angst schüren. Hier leben auch viele Ausländer, und mir ist noch nie etwas passiert«, erläutert sie ihreHaltung. Ihr Freund Alexandros* pflichtet ihr bei. Er bezeichnet sich als Red­skin und ist auch noch nicht lange bei den Versammlungen dabei. Er beklagt, dass in Athen alles sehr teuer sei, was daran liege, dass der Staat Gesetz und Ordnung nicht richtig durchsetze.
Genau das betrachtet Ioánna* manchmal als Vorteil, zumindest für die Protestbewegung. Sie ist in Petrálona aufgewachsen, einem traditionell eher ärmlichen Arbeiter- und Mittelschichtsviertel. Die laxe Durchsetzung von Recht und Ordnung fördere auch eine gewisse Verweigerungshaltung, meint Ioánna. Das half zum Beispiel bei der Zerstörung des Zauns auf dem Hügel Filopappou.
Eine bedeutende Protestbewegung im vorigen Jahr, die auch zu einer größeren Beteiligung an den Versammlungen beitrug und teilweise von ihnen getragen wurde, war außerdem die gegen den Zuschlag auf die Stromrechnung. 2011 sollten Griechinnen und Griechen zusammen mit ihrer Stromrechnung gleich die Steuern bezahlen. Wer nicht den Gesamtbetrag zahlte, dem wurde der Strom abgedreht. Dagegen wehrten sich viele Bürgerinnen und Bürger auf institutioneller und pragmatischer Ebene. Sie weigerten sich zu zahlen und gründeten Komitees, die dabei halfen, eine gekappte Stromversorgung zu überbrücken. Die Manipulierung der Zähler konnte in selbstorganisierten Workshops gelernt werden. Sogar Omas würden jetzt ihren Zähler manipulieren, schmunzelt Ioánna. Doch inzwischen hat die Regierung die Strafgebühren für derartige Delikte enorm erhöht. Heizen wird Ioánna, wie viele andere, im kommenden Winter nicht. Die Kosten für Öl und Gas sind, wie die für Elektrizität, drastisch gestiegen. Einige Geräte können allerdings mit dem abgezwackten Strom betrieben werden.
Ioánna gehörte auch zu der Handvoll Linken, die einst vorschlugen, das leerstehende Gebäude der Wohlfahrtsbehörde Pipka in Petrálona zu besetzen. Das Gebäude wurde im Frühjahr 2009 besetzt, im Oktober 2011 wurde darin unter anderem ein selbstverwaltetes Gesundheitszentrum eingerichtet, das die kostenlose medizinische Grundversorgung der Bevölkerung ermöglichen soll. Gearbeitet wird ehrenamtlich, Medikamente und Geräte werden gespendet. Das Zentrum grenzt sich allerdings von der klassischen NGO-Arbeit ab. Zu den Zielen gehört auch, die Hierarchie zwischen Arzt und Patient aufzuheben. Geöffnet wird an zwei Nachmittagen pro Woche. Es werde von den Anwohnerinnen und Anwohnern aber noch nicht so gut angenommen wie erwartet, sagt Simeón, da sich viele für ihre Probleme schämten. Viele versteckten ihre Armut aus Angst vor sozialer Stigmatisierung.
Lange wird das sicher nicht mehr gut gehen. Die soziale und ökonomische Situation verschlechtere sich rasant, meint Ioánna. »Man kann nicht einmal mehr sagen, bald werden Menschen sterben, weil das bereits geschieht«, sagt sie mit Verweis auf die rassistischen Morde. Dass sich immer mehr Griechinnen und Griechen lieber in rassistischen Bürgerwehren organisieren als in basisdemokratischen Versammlungen, ist tatsächlich ein noch dringenderes Problem.

*Name von der Redaktion geändert

Law & Order selbstgemacht
Nicht nur die Faschisten und die Polizei gehören zu den Feinden der Linken im Athener Stadtviertel Exarchia. Immer mehr bemüht sich ein Teil der Anarchistenszene darum, das Viertel von Dealern und Junkies »sauber« zu halten.
Holger Marcks und Federica Matteoni
Wer soll da noch durchblicken? Die griechischen Anarchistinnen und Anarchisten würden sich in ihrer Hochburg Exarchia um »Law and Order« bemühen, erzählen einige szenekritische Linke. Sie meinen damit die Bemühungen der Szene, Heroin-Dealer und Junkies aus dem Viertel zu vertreiben. In den vergangenen Monaten eskalierten die Auseinandersetzungen. Erst Anfang September ereigneten sich infolge des Konfliktes stundenlange Straßenschlachten mit Spezialeinheiten der Polizei. Schon wenige Wochen zuvor hatte diese mehrere Aktivistinnen und Aktivisten bei einer solchen Aktion festgenommen.
Glaubt man den Darstellungen, die in der Szene kursieren, so hat man es mit einem Komplott zu tun. Das gängige Narrativ besagt, dass die Polizei absichtlich die Drogenszene in Exarchia etablieren möchte. Je nach Gesprächspartner wird die Verschwörung unterschiedlich schwerwiegend beurteilt. Die einen meinen, es gehe darum, das ungeliebte Viertel zu diskreditieren, andere sagen, die Polizei wolle damit Unruhe stiften. Die wohl drastischste Theorie vertreten diejenigen, die glauben, die Polizei wolle das Viertel gezielt mit Drogen überschwemmen, um die Szene oder zumindest ihren Nachwuchs anzufixen und damit zu schwächen. Manch einem mögen solche Geschichten noch aus dem autonomen Kreuzberg der achtziger Jahre vertraut sein.
Auf diese Zeit gehen auch die Versuche der linken Szene Exarchias zurück, die Bekämpfung von Dealern selbst in die Hand zu nehmen. Unter dem Slogan »Die Bullen verkaufen Heroin« ging man schon damals gegen Dealer vor und lieferte sich heftige Auseinandersetzungen mit der hinzueilenden Polizei.
Vor etwa fünf Jahren, als die Drogenszene in Exarchia wieder aufblühte, knüpften die Anarchisten daran an. Man schloss sich zusammen, organisierte Versammlungen und bald war klar, dass sich die Einwohnerinnen und Einwohner von Exarchia für das Thema schnell mobilisieren ließen: Die Umgebung sollte wieder lebendig und für Familien und Kinder zugänglich werden, war das erklärte Ziel.
Nun wolle die Polizei die Nachbarschaft wieder in ein Drogenviertel verwandeln, erzählt man sich in der Szene. Wie sie das bewerkstelligen möchte, darüber kursieren die abenteuerlichsten Geschichten. Eine besagt, dass die Polizei mit den Dealern zusammenarbeite. Auch heißt es, dass Polizeistreifen die Junkies aus den umliegenden Gegenden gezielt in die Straßen um den Exarchia-Platz treiben würden. Ob und wie viel davon wahr ist, sei dahingestellt, fest steht, dass es keineswegs nur die Dealer sind, die von den Säuberungsaktionen betroffen sind. Es gibt verschiedene Berichte, wonach auch Junkies bereits angegriffen wurden.
Scharf kritisiert wird dies von einem Teil der Linken, der von regelrechten »Pogromen« gegen »Asoziale« (die Junkies) und Ausländer (die Dealer) spricht. Dabei werde eine faschistische Rhetorik benutzt, insbesondere das Stereotyp des »kriminellen Ausländers«, das mehr oder weniger offen propagiert werde. Die Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre seien oft von Gerüchten über die »albanische Mafia« ausgelöst worden, die das Drogengeschäft in Exarchia kontrolliere. Seit knapp zwei Jahren gilt das Viertel als weitestgehend »sauber«. Das bedeute nicht, dass man hier keine Drogen finde. Schließlich ist Exarchia auch ein Ausgehviertel mit Clubs und Lokalen. Nur seien es jetzt die Griechen, die Drogen verkaufen. Damit haben die Anarchisten offenbar weniger Probleme. Zumindest ist das die Darstellung von antinationalen Linken, die den gängigen Diskurs in der Szene als nationalistisch und immer mehr als rassistisch kritisieren. Kollektive wie Terminal 119, Antifa Casa del Campo und Assembly Against Greek Reality haben in den vergangenen Jahren versucht, zu analysieren, wie auch im anarchistischen Milieu gemäß der greek ideology argumentiert werde. Eine Tendenz, die sich mit der Verschärfung der Krise verstärkt habe, meinen Vertreter dieser kleinen Szene, die sich »antigriechisch« nennt. Schließlich werde die Konkurrenz durch die Neofaschisten immer größer, denn auch jene versuchten ja, die Straßen zu kontrollieren.

Antifa is in da house
Der Skaramaga-Squat ist eine der anarchistischen Besetzungen, die aus der Revolte vom Dezember 2008 hervorgegangen sind. Über die Strategie für die zukünftigen sozialen Kämpfe herrscht bei den Anarchistinnen und Anarchisten derzeit Ratlosigkeit.
Federica Matteoni
»In der Versammlung, die gleich stattfindet, geht es um etwas Wichtiges«, erzählt Anastasia. Sie ist vom Plenum ausgewählt worden, um mit der »Journalistin aus Deutschland« zu reden. Eine Art Pressesprecherin? »Nein, ich bin nur eine der Personen, die hier seit dem Anfang aktiv ist.« Bevor sie weitere Fragen beantwortet, ist es ihr wichtig, eine Ansage zu machen: »Eigentlich reden wir nicht mit der Presse.« Das ist offenbar so etwas wie ein religiöses Gebot für die Anarchistinnen und Anarchisten hier in Exarchia. Trotz all der politischen Konflikte, strategischen Differenzen und teilweise persönlichen Fehden ist man sich über den Umgang mit Medien einig: Alles, was nicht Fanzine ist, gehört mehr oder weniger zum Mainstream. Es reicht offenbar, einen »richtigen«, was hier einfach nur heißt: bezahlten Job im Bereich der Medienproduktion zu haben, um zu den Feinden zu gehören. Dass ich mehr Glück hatte als andere Kollegen und hier überhaupt eine Audienz bekommen habe, verdanke ich nur meinen Begleitern, die in der Szene bekannt sind.
»Heute wollen wir darüber diskutieren, warum in den vergangenen Monaten keine erfolgreichen Mobilisierungen gelungen sind und wie es in Zukunft weitergehen soll«, fährt Anastasia nach dem offiziellen Statement zur Presse fort. Sie erhoffe sich viel von diesem Treffen, denn in der Bewegung herrsche derzeit Ratlosigkeit über die künftige Strategie der sozialen Proteste, »deshalb ist es erstmal wichtig zu wissen, was die Leute denken«. Der derzeitige politische Schwerpunkt des Squat ist hingegen klar: die Neofaschisten, die täglichen, teilweise tödlichen rassistischen Attacken gegen Migranten und das, was Anastasia die »allgemeine Barbarisierung der sozialen Verhältnisse« nennt, die langsam auch das »alternative Viertel« – wie der Mikrokosmos Exarchia oft beschrieben wird – erreicht zu haben scheint.
»Hier im Haus versuchen wir, den Migranten nicht nur Schutzräume oder praktische Hilfe anzubieten«, sagt sie. »Wir möchten langfristig Strukturen schaffen, damit die Migranten sich selbst politisch organisieren, wir wollen nicht als Sozialarbeiter verstanden werden.« Es seien nämlich nicht nur die Aktivistinnen,und Aktivisten die das manchmal so sehen, sondern auch die Mi­granten selbst. »Das ist ein Problem«, gibt sie zu.
Eine ähnliche Entwicklung sei in der Victoria Square Assembly – der Nachbarschaftsversammlung, die einige Blocks weiter stattfindet – zu beobachten gewesen. »Als Skaramaga-Squat haben wir die Versammlung mit einem klaren antifaschistischen und antirassistischen Schwerpunkt mit initiiert«, sagt Anastasia, »und am Anfang war die Anzahl der Teilnehmenden sehr groß, wir hatten teilweise Versammlungen mit 200 bis 300 Leuten.«
Seit einiger Zeit sei die Versammlung jedoch kleiner geworden, eine Tendenz, die es auch bei anderen Versammlungen gebe. Anastasia erklärt das so: »Als nicht mehr die materiellen Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt standen, etwa Versorgung mit Essen, Kleidern und Unterkunft, oder die aktive, militante Verteidigung gegen die Attacken der Faschisten, waren die Leute, insbesondere die Migranten, weniger aktiv.« Was hat sich geändert? »Jetzt geht es uns auch darum, eine langfristige politische Strategie zu erarbeiten. Und da sind wir wieder mehr oder weniger unter uns.« Ein altbekanntes Problem linker Politik, das aber in diesem besonderen Moment für die griechischen Anarchistinnen und Anarchisten besonders lähmend zu sein scheint.
Das bestätigt auch der Antifaschist Themis in einem Gespräch einige Tage später. Auch er sieht derzeit eine Priorität der antifaschistischen Politik in Griechenland darin, die politische Organisierung von Migrantinnen und Migranten zu fördern, in welcher Form auch immer: »Zwar soll der Kampf gegen die Faschisten und den Rassismus in der Gesellschaft mit emanzipatorischen Inhalten geführt werden«, sagt er, »als Antifaschist muss ich aber auch akzeptieren, wenn 200 Migranten auf einer Demonstration ›Allahu Akbar!‹ rufen.« Wie bitte?
Er bezieht sich auf eine Demonstration, die im August nach dem Mord an einem 19jährigen irakischen Migranten stattgefunden und die ohnehin nicht gerade harmonische antifaschistische Szene noch weiter gespalten hat: »Was ich damit meine ist: Es gibt Prioritäten. Diese Leute werden tagtäglich umgebracht, und es ist nicht meine Aufgabe als Antifaschist, ihnen vorzuschreiben, was die auf ihren Demonstrationen zu rufen haben.«
Zurück zum Squat. Anastasia möchte eigentlich weiter erzählen, aber die Versammlung fängt gleich an. Rund 30 Leute haben mittlerweile im großen Saal Platz genommen. »Wie gesagt, es ist wichtig heute.« Für ein »informelles Gespräch« mit einer Mainstream-Zeitung hat sie ganz schön viel erzählt.

Autonomer Freizeitpark
An Grünanlagen fehlt es in Athen. Aber auch Parks kann man selber machen.
Ivo Bozic
So sehr die Tocotronic-Liedzeile »Was du auch machst, mach es nicht selbst« im Normalfall, und wie noch zu sehen sein wird, auch in diesem Fall, richtig ist, so sehr muss man im Stadtteil Exarchia doch dankbar für diese kleine grüne Oase sein, und zwar jenen, die sie unentgeltlich und mit eigener Hände Kraft geschaffen haben. Der Park von der Größe eines Häuserblocks wurde 2009 von den zumeist linken und alternativen Anwohnern selber angelegt. Sie besetzten das Gelände, auf dem sich bis dahin ein Parkplatz befand, brachen den Asphalt auf und fingen an, das Grundstück zu bepflanzen. Nun ist der kleine Navarinou Park neben dem Exarchia-Platz das Herz des widerständigen Stadtteils. Hier beginnt und endet so manche Demonstration, hier kann man sich in den Schatten eines Bäumchens setzen, einen Kinderspielplatz und ein kleines Freiluftkino gibt es auch.
Nur ein paar Meter von hier entfernt wurde im Dezember 2008 der 15jährige Alexandros Grigoropoulos von einem Polizisten erschossen, was zu gewaltigen Riots in Athen und Thessaloniki (Jungle World 51/08) führte. Heute ist es ganz ruhig hier, zwei Polizisten stehen wie jeden Tag an der Bezirksgrenze, so als wenn sie den Eingang zu einem völlig anderen Teil der Stadt bewachen würden. Denn Exarchia gilt als gefährlicher Ort. Obwohl ich selbst lang Zeit Hausbesetzer war und kulturell mit dem Milieu vertraut bin, mache ich mir hier tatsächlich zum ersten Mal in Athen Sorgen um meine Sicherheit, als ein Freak, der im Park rumhängt, mir androht, meine Kamera zu zerschlagen, wenn ich Fotos machen würde. Auch das Kollektiv, das sich um den Park kümmert, mag keine Journalisten. Ein Plenum soll entscheiden, ob man mit mir redet. Dazu müsse ich der Versammlung die Absichten meines Artikels kundtun. Tja, auch zu solchen Allmachtsphantasien kann Selbstverwaltung zuweilen führen. Ich muss an das alte Hinweisschild in deutschen Parks denken: »Bürger, schützt Eure Anlagen!«
Zum Glück kenne ich einen Anwohner persönlich, und dann hat der Park ja auch noch eine eigene Homepage. Der Selbstdarstellung des Kollektivs zufolge ist er vor allem ein »selbstorganisierter Freiraum«, ein »Raum für Kreativität, Emanzipation und Widerstand«. Tagsüber hängen vor allem Alkis und Fixer hier ab, wie in jedem anderen Park auch. Mit denen muss sich das Parkschützerkollektiv dann hin und wieder anlegen. Die »offene Park-Gruppe« trifft sich jeden Mittwochabend, man könnte ihre Arbeit auch als ehrenamtliches Quartiersmanagement bezeichnen. Was an dieser Art Selbstorganisierung links sein soll, erschließt sich zwar nicht. Nichtsdestotrotz ist diese hübsche, kleine Grünanlage ein Segen in der völlig zugebauten Stadt und als Treffpunkt für die Anwohner in Exarchia unverzichtbar. Allein dafür hat es sich gelohnt, das Pflaster aufzureißen.