Die Eskalation der Gewalt in Niedersachsen

Niedersachsen auf Platz drei

Auch im Westen, vor allem in Niedersachsen, greifen rechtsextreme Täter verstärkt Antifaschisten an. Die Landesregierung reagiert verhalten.

Der Angriff kam ganz unerwartet. Am frühen Abend verließ Olaf Meyer in Lüneburg das DGB-Haus. Als er gerade die Tür abschloss, wurde er namentlich angesprochen. Kaum hatte er sich umgedreht, sah er ein Messer. Zwei Neonazis standen vor ihm, einer stach zu. Durch eine Abwehrbewegung konnte er Schlimmeres verhindern, er wurde am Unterarm verletzt. Das erzählt Meyer, der sich seit Jahren bei der Antifaschistischen Aktion Lüneburg/Uelzen engagiert, und sagt: »Ich hatte Glück, der Stich mit dem Messer sollte meinen Bauch treffen.«

In Niedersachsen haben in den vergangenen Monaten rechtsextreme Täter verstärkt und gezielt Menschen angegriffen, die sich antifaschistisch engagieren. »Diese Entwicklung will die Landesregierung nicht so sehr wahrnehmen«, klagt Helge Limburg, rechtspolitischer Sprecher der Grünen im Landtag. »Ich sehe nicht, dass nach dem Auffliegen des NSU die Szene vorsichtiger, gar zurückhaltender agiert«, meinte Meyer nach dem Angriff auf ihn, der sich am 29. August ereignete. Nicht einmal drei Wochen vor dem Messerangriff in Lüneburg hatte ein Rechtsextremer in Hannover ebenfalls ein Messer gezogen. Am 10. August hatte die Kampagne »Nazis die Räume nehmen« einen Infostand auf dem Opernplatz aufgebaut. Als sie am Abend den Stand zu dritt abbauten, zog die Polizei sich zurück. Kaum seien die Beamten weg gewesen, berichtet Judith Markward von der Kampagne, seien sie von sechs Rechtsextremen angepöbelt worden, ein Handgemenge habe begonnen. Die Rechten aus der Gruppe »Besseres Hannover« hätten Flaschen geworfen, versucht, sie zu schlagen, und Pfefferspray gesprüht. Mit einem Messer habe ein Rechtsextremist nach einem der Antifaschisten gestochen, aber nicht getroffen. »Es war Glück, dass von uns niemand schwer verletzt wurde«, sagt Markward.
Dieses Glück hatte am gleichen Abend ein anderer antifaschistischer Jugendlicher nicht. In Barsinghausen stach derselbe Rechtsextremist auf ihn ein, verletzte ihn im Gesicht und am Rücken. Nach einer Party zur Wiedereröffnung des »Falkenkellers«, einer Räumlichkeit der SPD-Jugendorganisation »Die Falken«, hatten Personen aus der rechten Gruppe die Auseinandersetzung gesucht. Die Wiedereröffnung war nötig geworden, da in der Nacht zum 5. Juni ein Brandanschlag auf den »Falkenkeller« verübt worden war.
Die Polizei bestätigt überdies zurückhaltend einen Angriff auf Gäste einer Party im Jugendzentrum »Wohnwelt«. Am 19. Mai waren rechte Hooligans nach 23 Uhr in die »Wohnwelt« in Wunsdorf eingedrungen. Mit Teleskopschlagstöcken und Ketten schlug die Gruppe auf Partygäste ein. »Zehn Personen wurden verletzt, zwei so schwer, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden mussten«, sagte ein Sprecher des Trägervereins »Lebensraum«. Am Bahnhof hätten die gewalttätigen Fußballfans auf einen Anschlusszug warten müssen und seien auf die Party aufmerksam geworden, sagte eine Sprecherin der Polizei. Der Verein sieht es anders: Über eine Stunde lang hätten die rund 20 Hooligans, die später als Anhänger der rechtsex­tremen Hooligangruppen »Standarte Bremen« und »Nordsturm Brema« ausgemacht wurden, am Bahnhof verbracht und keinen der Züge genutzt. »Wo ist die Antifa?« sollen sie beim Angriff gerufen und rechte Parolen skandiert haben. Der Verlauf des Angriffs, die Sprüche beim Zuschlagen, die Kleidung der Angreifer und der anschließende Kleidungstausch, um die Wiedererkennung zu erschweren, sind für den Verein Indizien genug, um von einem politisch motivierten Angriff auszugehen. Die »Wohnwelt« war schon öfter Ziel rechter Übergriffe, denn in den Räumen kommen auch Jugendliche zusammen, die sich gegen Nazis engagieren. Die Polizei dagegen erklärt: »Von einem politischen Hintergrund gehen wir nicht aus.«
Am 17. Juni wollte eine neunte Klasse der Herderschule in Bückeburg mit ihrer Politiklehrerin rechte Schmierereien entfernen. Mit dabei war die Menschenrechtsaktivistin Irmela Mensah-Schramm, die seit Jahren rechte Graffiti dokumentiert und entfernt. Kurz nach neun Uhr hatte die Klasse begonnen zu malen, als eine junge Frau kam, um zu fotografieren. »Sie sei von der Antifa, sagte sie«, erzählt Schülersprecher Patrick Tielker. Jemand aus der Klasse habe sie aber als Mitglied der rechten Szene erkannt. Plötzlich hätten fünf Rechte dagestanden. Ein Polizeibeamter in Zivil, der Elternsprecher der Schule ist, sei ein­geschritten und mit einem Rechten in ein Handgemenge geraten. Später erklärte ein Polizeikommissariatsleiter, dass solche Aktionen nicht zur Deeskalation der Situation beitrügen, da sie die Gegenseite nur provozierten. In der Stadt hatten im Jahr zuvor die »Autonomen Nationalisten Bückeburg« andersdenkende Jugendliche und Erwachsene angegriffen – von verbaler Bedrohung über Körperverletzungen bis hin zu zerschossenen Fensterscheiben und beschädigten Autos.
Ganz gezielt wurde auch das Bündnis »Bad Nenndorf ist bunt« angegriffen, das sich seit langem gegen einen jährlich stattfindenden »Trauermarsch« der Rechtsextremen für deutsche Opfer der Alliierten engagiert. Am 21. September warfen Unbekannte einen schweren Stein durch das Schlafzimmerfenster der Zweiten Vorsitzenden des Bündnisses. Auch sie hatte Glück – zum zweiten Mal, denn bereits am 20. Juli war ihr Fenster eingeworfen worden.

In der Statistik des Bundesinnenministeriums für rechtsextreme Gewalt liegt Niedersachsen auf Platz drei. Besonders auffällig ist die Gruppe »Besseres Hannover«. Seit 2008 wurden 23 Strafverfahren mit Bezug zu der Gruppe eingeleitet. Am 25. September verbot nun Innenminister Uwe Schünemann (CDU) den Verein. »Das Verbot war überfällig«, sagt Pia Zimmermann, innenpolitische Sprecher der Partei »Die Linke«. Helge Limburg von den Grünen befürchtet, dass die Sicherheitsbehörden die Angriffe weiterhin als Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Jugendlichen bagatellisierten. »Die Straftaten müssen als politische Angriffe ernst genommen werden«, fordert der Landtagsabgeordnete. Das Phänomen der Einschüchterung werde von den Sicherheitsbehörden unzureichend erfasst.
Für den Lüneburger Antifaschisten Olaf Meyer ist klar, dass er sich nicht einschüchtern lässt. Der Angriff habe ihn schockiert, aber kaum überrascht, sagt er: »Wir sagen doch nicht ohne Grund immer wieder ›Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen‹. Mord und Totschlag ist in dieser Weltanschauung angelegt.«