Torte plus Worte

Unter dem blühenden Lindenbaum eines patagonischen Landgutes treffen sich am letzten Tag des vergangenen Jahrhunderts die Geburtstagsgäste der 90jährigen Clementine. So heterogen ist die Gästeschar, dass ein Zusammentreffen wie dieses in Europa wohl niemals möglich wäre. Einträchtig sitzt der abgehalfterte Alt-Nazi Sigi neben dem Shoah-Überlebenden Elias. Martin hat neben seinem Sohn, der ihn hasst, und seiner aus der Psychiatrie entlassenen Tochter Platz genommen. Um die nostalgische Gemengelage perfekt zu machen, trägt die Hausherrin Rotraud eine Dobostorte auf. 1937 hat sie die k. u. k.-Spezialität kurz vor ihrer Emigration einst in Österreich verspeist. Ach, Heimat! Fast hat es an diesem Frühsommertag am Ende der Welt den Anschein, als sei das alte Mitteleuropa niemals untergegangen.
Dass die bei Familienfesten nahezu obligatorische Eskalation am Ende ausbleibt, könnte an der betäubenden Süße des Habsburger Backwerks liegen. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Wahrung des prekären Friedens im multikulturellen Patchwork Südargentiniens wurzelt. Herrlich, welche Juwelen der Boshaftigkeit der nach Argentinien ausgewanderte Österreicher Germán Kratochwil seinem Romanpersonal in den Mund legt, etwa wenn er Clementine zetern lässt, ihre politisch korrekte Enkelin Katha sei mit ihrer kitschigen Begeisterung für Indianer und Lady Di nichts als ein »verzogener Prinzessinnen-Fratz«. Ein vielschichtiges Stück patagonische Dobostorte.

Germán Kratochwil:Scherbengericht.Picus, Wien 2012,311 Seiten, 22,90 Euro