Die Hoffnungsträgerin der Linken

Israels soziales Gewissen

Sie rangiert auf Platz zwei in den Umfragen und gilt als Hoffnungsträgerin aller Netanyahu-Gegner bei den bevorstehenden Wahlen. Shelly Yachimovich, die Vorsitzende von Israels Arbeitspartei, ist jedoch auch heftiger Kritik ausgesetzt.

Als Shelly Yachimovich bekanntgab, dass sie in die Politik gehe, und schließlich bei den Wahlen im März 2006 in die Knesset einzog, dachten viele: »Endlich ein ehrliches Gesicht in den Rängen des Parlaments.« Die in Israel zumeist nur bei ihrem Vornamen genannte Shelly war bereits vor ihrer politischen Karriere für ihr aufrichtiges und schonungsloses Engagement in sozialen und feministischen Fragen bekannt. Sie hat die bereits totgesagte Avoda, die Arbeitspartei, aus ihrer Versenkung geholt und spätestens mit ihrer Wahl zur Vorsitzenden hat die Partei nun sogar eine Chance, Benjamin Netanyahu die Stirn zu bieten.
Shelly Yachimovich wurde 1960 in Kfar Saba geboren. Ihr Vater, ein Bauarbeiter, und ihre Mutter, eine Lehrerin, waren aus Polen stammende Shoa-Überlebende. Schon in der Schule war Shelly politisch aktiv und flog vom Gymnasium, weil sie Protestschilder gegen die Schulleitung in den Gängen angebracht hatte. Sie studierte an der Ben-Gurion-Universität in Be’er Sheva Verhaltenswissenschaften und begann nach dem Abschluss, für die sozialistische Zeitung Al HaMishmar zu schreiben. Von dort wechselte sie zum Radio und berichtete für Kol Israel zunächst aus dem Süden des Landes. Yachimovich wurde bald eine bekannte Kommentatorin für soziale, wirtschaftliche und feministische Themen und moderierte unter anderem die bis heute sehr beliebte Sendung »haKol diburim« (Alles Gerede). 2000 wechselte sie ins Fernsehen und war seitdem in verschiedenen Formaten des israelischen Senders Arutz 2 präsent.

Ihre kritischen und eindringlichen Einlassungen haben ihr auch eine Parodie in der beliebten Satiresendung »Eretz nehederet« (Ein wunderbares Land) eingebracht, in Form der verklemmten Journalistin »Cheli«, die immer und überall »Frauenthemen« und die Rechte der Arbeiter wie Mantras abhandelt.
Ende November 2005 gab Yachimovich ihren Beitritt zur Arbeitspartei Avoda bekannt, knapp drei Wochen nachdem Amir Peretz den Parteivorsitz übernommen hatte. Noch kurz zuvor hatte sie Peretz interviewt, ein Gespräch, das im Nachhinein als Wahlwerbung kritisiert wurde. Yachimovich beharrte darauf, dass sie sich sehr kurzfristig von Peretz habe überzeugen lassen, seiner Partei beizutreten. Dabei bezeichnete sie die Entscheidung trotz des persönlichen Dilemmas als natürlichen und unvermeidlichen Schritt, der die Konsequenz ihrer Arbeit als Journalistin sei. In den parteiinternen Vorwahlen konnte sie sich den neunten Listenplatz sichern und zog nach den Wahlen vom März 2006 in die Knesset ein.
Umfragen dokumentierten bald ihre Beliebtheit. Im September 2011 gewann sie schließlich die Wahl zur Parteivorsitzenden. Yachimovich ist damit nach Golda Meir die zweite Frau, die die Arbeitspartei anführt. »Wir haben gewonnen«, kommentierte sie bescheiden im Plural. Dies sei »erst der Anfang eines Neubeginns für die israelische Gesellschaft«.
Tatsächlich ist Shelly Yachimovich als neue Parteivorsitzende wohl das Beste, das sich die schwer angeschlagene Avoda selbst bescheren konnte, nachdem es beinahe zur Spaltung gekommen war. Ehud Barak, der Amir Peretz als Parteivorsitzender abgelöst hatte, trat 2011 aus der Avoda aus, nahm vier Abgeordnete mit und gründete eine eigene Partei. Shelly Yachimovich scheint, wenn man den Umfragen glaubt, das wiederherzustellen, was Barak durch seinen drastischen Schritt endgültig zerstört zu haben schien: die Glaubwürdigkeit der Arbeitspartei.

Nach ihrer Wahl in die Knesset ging Yachimovich auch tatsächlich tatkräftig ans Werk. Bis Juli wurden 42 Gesetzesinitiativen angenommen, die sie alleine oder gemeinsam mit anderen Abgeordneten einbrachte, alle im Bereich der Arbeitnehmerrechte. So etwa ein Gesetz von 2007, das das Recht auf eine Sitzmöglichkeit am Arbeitsplatz einräumt, die Verlängerung des Mutterschutzes von zwölf auf 14 Wochen, Gesetze, die das produzierende Textilgewerbe in Israel schützen, wie auch verschiedene Regelungen zu Entlassungen und Arbeitslosenhilfe.
Mit ihrem politischen Erfolg feierte Shelly auch ein Comeback in »Eretz nehederet«. In der letzten Staffel der Comedyshow hatte die echte Shelly einen Gastauftritt und auch Cheli kehrte nach längerer Abwesenheit in die Talkrunden-Satiresendung zurück, um dort die Friedenstaube davon zu überzeugen, auf »Taube der sozialen Gerechtigkeit« oder »Taube der Sozialdemokratie« umzusatteln.
Die Parodie spielt darauf an, dass Shellys große Stärke gleichzeitig ihre größte Schwäche ist. Denn Yachimovich vertritt zwar dezidierte Meinungen zu allen sozioökonomischen Fragen, jedoch nicht zur Außen- und Sicherheitspolitik des Landes. In einem Radiointerview sagte sie vor einem Monat, dass es, um die strategische Stärke gegenüber den Bedrohungen aus dem Iran und den Umwälzungen im Nahen Osten zu bewahren, Pflicht sei, »auch wenn wir nicht daran glauben, auch wenn es unter uns solche gibt, die nicht an eine derzeitige Lösung des Konfliktes glauben, wenigstens der Welt zu zeigen, dass wir etwas tun, um dieses Thema voranzubringen und zu lösen«. Mit ihrer Sorge um Israels Image in der Welt und seine strategische Stärke setzt sie einen komplett anderen Schwerpunkt in außenpolitischen Fragen als die Linke bisher, bleibt in ihren Aussagen aber gleichzeitig sehr allgemein, ohne konkrete Pläne zu benennen.
Während Netanyahus Versuche, sich wegen seines Gesetzes der kostenlosen Kinderbetreuung ab drei Jahren als sozialer Wohltäter darzustellen, offensichtlich Wahlpropaganda sind, ist Shelly Yachimovichs Schweigen zum sogenannten Friedensprozess, zur Bedrohung aus dem Iran und zu gegenwärtigen Umwälzungen in der Region schwer nachzuvollziehen.

Ihre nebulöse Haltung zu diesen für Israel so zentralen Themen entzürnt auch viele Linke. Yossi Sarid, der ehemalige Vorsitzende der linken Meretz-Partei, schrieb kürzlich, Yachimovich könne durch ihr Schweigen Krieg über das Land bringen. Ein Interview mit Haaretz vom August, in dem sich Shelly zu den jüdischen Siedlungen in der Westbank äußerte und sagte, sie sehe die Siedlungen weder als Sünde noch als Verbrechen, brachte Gideon Levy, den bekannten linksradikalen Journalisten derselben Zeitung, dazu, Yachimovichs Weltanschauung als »Sozialdemokratie ohne Ethik« und als »Chauvinismus wie bei der Rechten« zu bezeichnen. Noam Sheizaf, Betreiber des bekannten linken Blogs »+972«, schrieb im August, dass Yachimovich auf die rechtsextremen Tendenzen in der jüdischen Öffentlichkeit »mit einer vulgären ideologischen Verschiebung nach rechts« reagiere.
Dass sie sich einer Regierung unter Netanyahu anschließen würde, möchte Shelly Yachimovich derzeit weder bejahen noch ausschließen. Die Chancen dafür bezeichnete sie allerdings als gering. Dass sie Israels nächste Ministerpräsidentin werden könnte, findet sie nicht realistisch, dazu müsse die Avoda noch einen langen Weg zurücklegen und das öffentliche Vertrauen wiedererlangen. Dass sie Netanyahus Macht angreifen könnte, darf in der Tat bezweifelt werden. Aber dass es nach der Wahl zu einer Situation kommt, in der Netanyahu auf sie angeweisen ist, das ist durchaus möglich. Vorausgesetzt natürlich, dass die Wähler nicht wieder eine Amnesie befällt, wie es so oft schon vor den Wahlen der Fall war, sondern dass sich zumindest all jene an ihre eigenen Forderungen erinnern, die seit etwa anderthalb Jahren so engagiert für soziale Gerechtigkeit demonstrieren.