Jonathan Ornstein im Gespräch über jüdisches Leben in Kraków

»Aufbau einer jüdischen Zukunft«

Kraków war einst ein Zentrum jüdischer Kultur in Polen, das jüdische Erbe der Stadt wird seit einigen Jahren neu entdeckt. Seit 2008 versucht das Jewish Community Center Kraków (JCC), die dortige Gemeinde wieder aufzubauen. Die Jungle World sprach mit Jonathan Ornstein, seit 2008 Direktor des Zentrums, über dessen Arbeit und darüber, wie das Zentrum mit der Vergangenheit und Gegenwart jüdischen Lebens in Polen umgeht. Ornstein ist in New York City aufgewachsen und lebt seit zwölf Jahren in Polen.

Wie kam es zur Gründung des Jewish Community Center Kraków (JCC)?
Das ist eine fantastische Geschichte: 2002 war Prince Charles in Kraków und hat als Teil seiner offiziellen Besuchsreise einige ältere Mitglieder der jüdischen Gemeinde getroffen. Er war von ihrer Geschichte bewegt und bot an, etwas für die Verbesserung ihrer Lebensqualität zu tun. Sie haben ihm gesagt, sie bräuchten einen Ort, an dem sie sich treffen könnten. Zurück in London hat Prince Charles dann Kontakt mit der World-Jewish-Relief-Organisation aufgenommen, die ihm vorgeschlagen hat, das JCC zu bauen: eine Institution, die nicht nur den älteren Juden Krakóws helfen, sondern auch junge Leute für die Gemeinde gewinnen sollte, um so ihre Zukunft zu sichern. Prince Charles gefiel die Idee und er wurde der Schirmherr des Zentrums. 2008 kam er zurück nach Kraków und hat das Zentrum gemeinsam mit der Duchess of Cornwall eröffnet.
Welche Aufgaben hat das Gemeindezentrum und welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrer Arbeit in Kraków?
Wir haben ein simples, aber dennoch ambitioniertes Ziel. Es steht auf der Rückseite unserer T-Shirts und auf dem großen, grünen Banner an der Frontseite unseres Gebäudes: »Eine jüdische Zukunft in Kraków aufbauen«. Alles, was wir hier im Zentrum tun, ist an diesem Ziel orientiert. Wir haben ein großes Angebot für viele verschiedene Leute, für Senioren und Kinder, für Juden und Nicht-Juden, und kulturelle Veranstaltungen genauso wie soziale Angebote. Wir sind darauf angewiesen, die Tausenden Krakówer mit jüdischen Wurzeln anzusprechen und ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, die die jüdische Welt ihnen bietet, damit – das ist unsere Hoffnung – einige sich dafür entscheiden, sich einzubringen. Außerdem haben wir jedes Jahr Zehntausende Besucher aus dem Ausland und wir wollen ihnen zeigen, dass jüdisches Leben in Kraków floriert. Damit Polen eine jüdische Zukunft hat, muss sich in der weltweiten jüdischen Community die Vorstellung durchsetzen, dass Polen für Juden ein guter Ort zum Leben ist.
Welchen Stellenwert hat Religiosität für das JCC und die Besucher des Zentrums?
Wir sehen uns nicht als eine religiöse, sondern als eine jüdische Einrichtung. In einer Synagoge sind die Angebote und Aktivitäten meistens Ausdruck der jeweiligen religiösen Ausrichtung. Im Gegensatz dazu versuchen wir, die gesamte jüdische Gemeinde anzusprechen – vom Säkularen bis zum Ultraorthodoxen. Wir kooperieren mit vielen anderen Einrichtungen der Stadt, von Tierrechtsorganisationen bis zu Frauen- und LGBT-Gruppen. Wir arbeiten eng mit der Kirche zusammen und sind der Sitz der »Christian-Jewish Friendship Society«.
In Kraków stößt man auf der Straße immer wieder auf antisemitische Graffiti. Wie virulent ist Antisemitismus in der polnischen Gesellschaft heute?
Antisemitismus ist hier so komplex wie überall. Es handelt sich dabei nicht um einen monolithischen Block, sondern um eine ganze Bandbreite an Handlungen und Vorstellungen. In Polen gibt es zweifellos Antisemitismus – wie in jedem Land der Welt. Hier in Polen haben wir es mit einer »passiveren« Form von Antisemitismus zu tun als in anderen Ländern. Fußball-Fans, die sich gegenseitig als »Juden« beschimpfen und entsprechende Graffiti an die Wände malen, sind ein Beispiel. Zum Glück haben wir aber nicht das Problem, das an so vielen anderen Orten beobachtet werden kann: antisemitische Angriffe oder gewalttätige Übergriffe, die sich gegen Juden richten. Ich denke, dass Polen sich in eine gute Richtung entwickelt und, im Gegensatz zu allen anderen europäischen Ländern, die ich kenne, ist es jeden Tag einfacher, besser und sicherer, in Polen jüdisch zu sein. Insbesondere in unserem schönen Kraków.
Das ehemalige jüdische Viertel Kazimierz war 700 Jahre lang ein Zentrum jüdischer Kultur in Polen. Nach der Shoa gab es kaum noch jüdisches Leben in Kraków. Zusätzlich verließen Zehntausende Juden Polen während der antisemitischen Kampagne 1968. Wie gehen Sie als JCC mit dieser Vergangenheit um?
Zuallererst ist Kazimierz das jüdische Viertel, nicht das ehemalige jüdische Viertel. Viele Juden wohnen, arbeiten, leben und beten hier. Wir haben hier jüdische Zentren, ein jüdisches Museum und sieben Synagogen. Selbstverständlich ist das jüdische Leben nicht das, was es vor dem Zweiten Weltkrieg war, aber das muss es auch nicht sein. Wir sind uns der Vergangenheit bewusst, die in vielen Aspekten schmerzvoll ist, aber wir verlieren uns nicht in ihr. Der Aufbau einer jüdischen Zukunft ist das Wichtigste, worauf wir uns konzentrieren.
Auschwitz scheint in Kraków omnipräsent zu sein. Überall kann man Kurzreisen in das Konzentrationslager buchen und auf den Touristenbussen wird Auschwitz ebenso als Sehenswürdigkeit genannt wie die benachbarte Salzmine. Welche Rolle spielt diese Nähe zu Auschwitz für das JCC?
Auschwitz ist für viele jüdische Touristen der Grund für ihren Besuch in Kraków. Das berührt unsere Gemeinde vor allem in zweierlei Hinsicht. Erstens wird dem JCC eine unglaublich große Aufmerksamkeit zuteil, was bemerkenswert ist, wenn man die tatsächlich geringe Größe der Gemeinde berücksichtigt. Tausende von Touristen besuchen unser Gebäude, was es de facto zu einer Art jüdischem Besucherzentrum Krakóws macht. Das führt uns zum zweiten Punkt: Die Rolle, die das JCC in der jüdischen Welt spielt, bezüglich der Art und Weise, wie Auschwitz die jüdische Identität prägt. Ein Tourist, der nach Kraków kommt, um Auschwitz zu besuchen, und auch das strahlende, farbenfrohe, lebhafte Zentrum sieht, strotzend vor jüdischem Leben, mit spielenden Kindern, der verlässt Polen nicht nur mit einem Gefühl des Verlusts, sondern auch mit einem Eindruck von der Widerstandskraft des jüdischen Geistes.
In den vergangenen Jahren scheint es in Kraków ein stärkeres Interesse am jüdischen kulturellen Erbe der Stadt zu geben. Das irritiert, wenn man sich vor Augen führt, wie klein die jüdische Gemeinde tatsächlich ist. Wie kam es zu dieser Entwicklung und wie bewerten Sie sie?
Ich finde das phantastisch. Viele Faktoren tragen zum unglaublichen Interesse am jüdischen Erbe Krakóws bei. Das jüdische Kulturfestival ist einer der Hauptgründe. Ich würde auch den Film »Schindlers Liste«, der vor fast 20 Jahren in die Kinos kam, dazuzählen. Offensichtlich ist es auch die Tatsache, dass Kazimierz ein so gut erhaltenes jüdisches Viertel mit sieben Synagogen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ist. Es gibt hier einfach ein bestimmtes Flair. Jeder, der hierher kommt, verliebt sich in diesen Ort – so wie ich.
Sie sind in New York City aufgewachsen und haben dann viele Jahre in einem Kibbuz in ­Israel gelebt. Inwiefern prägen die dort gemachten Erfahrungen Ihre Arbeit heute?
In New York City kam ich früh in Kontakt mit einer großen, vielgestaltigen jüdischen Gemeinde. Dort konnte ich beobachten, wie unterschiedliche Gruppen mit verschiedenen Agenden, Traditionen und Glaubensrichtungen miteinander umgehen. Der Kibbuz war eine unglaublich wichtige Erfahrung für mich – wie man eine Gemeinschaft aufbaut, habe ich dort gelernt. Außerdem habe ich dort erkannt, wie wichtig es ist, Teil von etwas Größerem zu sein, und welche Verantwortung wir für andere tragen. Ich denke, dass das Credo des Kibbuz – »jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« – etwas ist, auf das wir im Zentrum hinarbeiten.