Das dicke Ende
Es gibt so viel Schützenswertes in der Welt: süße Robbenbabys, von gewissenlosen Japanern gejagte Wale, die Spinne des Jahres (2013: Atypus affinis, die Gemeine Tapezierspinne). Eine weitere Spezies, die in den vergangenen ein, zwei Jahrzehnten einen Platz auf der Liste der bedrohten Arten erhalten hat, ist der Verbraucher.
Arg- und wehrlos, wie dieser nun mal ist, braucht es zu seinem Schutz gleich ein ganzes Rudel von Organisationen, von der Stiftung Warentest bis zum umtriebigen Verein Foodwatch, dessen Mission es ist, einem jegliches Essen zu verleiden, das nicht von artgerecht angebauten Ökolandwirten aus biologisch-aerodynamischen Vollkornzutaten handgeklöppelt wurde. Auch die Regierung will nicht tatenlos zusehen, wie ihre Schützlinge durch unreguliertes Herumkonsumieren zu Schaden kommen. Deshalb gibt es das Verbraucherschutzministerium. Die Älteren unter uns werden sich erinnern, dass dieses einst das Ministerium für die Wunscherfüllung der Agrarlobby war, doch nach dem x-ten Lebensmittelskandal setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Staatsinsassen sich umso nachhaltiger dem Existenzzweck des Verbrauchens widmen können, je weniger vergammelte oder vergiftete Nahrung sie zu sich nehmen.
Leib und Leben der Verbraucher sind aber nicht nur durch eine skrupellose Lebensmittelindustrie gefährdet, sondern auch durch die eigenen Konsumgewohnheiten. Um zu prüfen, ob die Bürger die korrekten Mengen an Vitaminen, Ballaststoffen, Omega-3-Fettsäuren etc. zu sich nehmen und den staatlich empfohlenen Body-Mass-Index und Körperfettanteil einhalten, lässt das Verbraucherschutzministerium deshalb alle vier Jahre einen Ernährungsbericht erstellen. Dessen aktuelle Ausgabe wurde in der vergangenen Woche veröffentlicht und ergab Unerwartetes. Bisher galten dicke Kinder, die von ihren bildungsfernen Eltern mit Burgern und klebrigen Softdrinks vollgestopft werden, als größte Gefahr für den Ernährungsstandort Deutschland; nun aber stellten die Forscher fest, dass der Anteil der kleinen Pummelchen um drei Prozent gesunken ist. Beunruhigendes ist hingegen von den Senioren zu vermelden: 63 Prozent der Frauen und sogar 74 Prozent der Männer zwischen 70 und 74 Jahren, so die Studie, seien übergewichtig. Wie die trotz Diabetes- und Herzinfarktrisikos überhaupt so alt werden konnten, wird leider nicht verraten.
Für Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) dürfte dies ein Problem darstellen. Die Jüngsten lassen sich in Kitas und Schulen relativ leicht mit Bildungsprogrammen zu gesunder Ernährung erreichen; wie aber kann man die Rentnergeneration von der gewohnten Hausmannskost abbringen, ohne gleich eine Brokkoli-Zwangsernährung in Seniorenheimen anzuordnen? Und dann gibt es da noch eine saisonal bedingte Bedrohung: In den kommenden Tagen ist mit vermehrten Auftritten eines ebenfalls dicken älteren Herrn zu rechnen, der nicht davor zurückschreckt, den gerade erst abgespeckten Kindern Plätzchen und Schokolade zuzustecken – denn mit Apfel, Nuss und Mandelkern darf er wohl kaum auf Begeisterung hoffen. Aber vielleicht kann Frau Aigner ihn ja wenigstens davon überzeugen, sich mehr Bewegung zu verschaffen, indem er die Rentiere gelegentlich mal in der Garage lässt und den Schlitten selber zieht.