Wie frei sind »freie Schulen«? Ihr Ziel ist die freie Gesellschaft

Zwischen Bildung und Herrschaft

Die Schule ist ein Übel, aber kein notwendiges Übel.

Aus der Antike ist die Idee der Schule als Zusammenhang des gemeinsamen Lernens und Lehrens überliefert. Darüber hinaus ist die Schule seit jeher mit der emphatischen Idee der Freiheit verbunden; ihr Ziel und Mittel ist es, die Möglichkeiten des Menschen erkennbar zu machen, um derart den Menschen zu befähigen, sich selbst zu verwirklichen. Dieses Ideal der Schule aktualisiert die Renaissance im Namen des Humanismus; Aufklärung und Neuhumanismus konzipieren die Schule schließlich mit dem universalistischen Begriff der Bildung: Die Idee der Freiheit des Menschen wird an die Geschichte gebunden, Schule als Ort historischer wie biographischer Selbstentfaltung bestimmt.
Doch in die tatsächliche Entwicklung der modernen Schule, die mit der Industrialisierung ansetzt, gehen dieses Ideal der Schule wie auch diese Idee der Freiheit nur als Ideologie ein, als notwendig falsches Bewusstsein vom Sinn und Zweck der gesellschaftlichen Funktion der Schule, nämlich Menschen an- und einzupassen an und in eine Ordnung, die sie zugleich zu affirmieren und zu reproduzieren lernen.
Die Schule ist eine Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft; sie setzt bürgerliche Ideologie (Leistung, Konkurrenz, Disziplin, Beruf und Erfolg, sowie Freiheit, Sozialität, Gerechtigkeit etc.) noch fort, wo gesellschaftlich jede Bürgerlichkeit längst desavouiert ist. Eine Erfindung ist die Schule – und das kennzeichnet sie als modern, auch im Hinblick auf Staat und Ökonomie – als Institution. In ihr konkretisiert sich ein ganzes Arsenal von Dispositionen, wozu vor allem die Herstellung von be- bzw. verschulten Menschen gehört, und das sind »Schüler«, »Lehrer«, aber ebenso alle anderen in den Schuldienst Involvierten (»Eltern«, sonstiges Personal). Was die moderne Erfindung »Schule« nun von ihrem antiken Vorbild wesentlich unterscheidet, ist die Pädagogisierung des Menschen. Dazu gehört etwa, dass »Lehrer« ein Beruf ist, »Schüler« aber nicht; dass »Lehrer« erwachsene Menschen, »Schüler« – und das ist entscheidend – Kinder, Jugendliche, aber keine Erwachsenen sind.

Auch die Freie Schule ist eine Schule als Institution. Zweifellos sind gerade viele der bundesdeutschen Projekte Freier Schulen nicht mehr als sozialintegrative Ergänzungen zur Regelschule. Die Regelschule kommt, allen Reformbestrebungen zum Trotz, über ihre Beschränkungen als fordistische Lernfabrik nicht hinaus; Freie Schulen erweisen sich dagegen – insbesondere in der Form der Privatschule – als flexibel genug, auf Anforderungen der postfordistischen Gesellschaft zu reagieren: Sie können mit einem größeren Spielraum flexible Rollen des nachbürgerlichen Individualcharakters pädagogisch ausprobieren, woran die dirigistische Regelschule scheitert. Freien Schulen gelingt es etwa, Pädagogisierung scheinbar zwanglos, »spielerisch« als Infantilisierung durchzusetzen.
Davon zu unterscheiden sind freie Schulen wie die »Escuela moderna«, die Schulexperimente der Proletkult-Bewegung oder die Alternativschule Summerhill; sie verbindet eher ein revolutionäres als ein reformpädagogisches Konzept – die Schule gleichsam von sich zu befreien, also sie gesellschaftlich aufzuheben.
Auch aus Freien Schulen gehen keine freien Menschen hervor; aber Menschen, die einen aus der Möglichkeit unreglementierter Erfahrung gewonnenen Begriff von Freiheit haben, der sie zur Praxis befähigt, die gesellschaftliche Unfreiheit zu überwinden. Indes geht es um antiautoritäre Pädagogik, die ermächtigt, den Widerspruch von Bildung und Herrschaft zu reflektieren.
Obwohl faktisch die Schule als Institution allenthalben versagt, verdichten sich die Mythen der Schule: Schule sei ein Ort der Erziehung, gute Erziehung erfordere mehr Erzieher, eine gute Schule bringe gute Menschen hervor, Schule baue soziale und individuelle Ungleichheit ab, schließlich – Kinder wollen lernen, ergo: wollen in die Schule, d. i. die Schule sei der prädestinierte Raum einer (kindlichen) Neugier.

Was diese Mythen vor allem zementieren, ist die gesellschaftliche Totalität: Längst geht es nicht mehr um das Erlernen von Kompetenzen allein für den Arbeitsmarkt und das sogenannte Berufsleben, sondern gerade heute, da für die meisten der ökonomische Erfolg eine krude Illusion ist, um die Verankerung der Leistungsideologie als sozialpsychologische Matrix, die Menschen zu loyalen Teilnehmern des kapitalistischen Regimes macht. In der modernen Schule war das der Staatsbürger, in der postmodernen Schule soll das der Konsument sein.
Die Freie Schule ist dann eine freie Schule, wenn sie sich eben von diesen pädagogischen Zielbestimmungen falscher Vergesellschaftung freimacht. Freie Schule hat die freie Gesellschaft zum Ziel, nicht die freie Schule als Insel inmitten sozialer Unfreiheit. Insofern ist der schulpädagogische Beitrag der Freien Schule sehr bescheiden, wenn auch umfassend: In einer üblen Welt ist die Schule ein Übel; sie ist aber kein notwendiges Übel.