Aufschwung und Privatisierung in Brasilien

Einsteigen für den Aufstieg

Brasilien erlebt einen wirtschaftlichen Aufschwung, doch es mangelt an Facharbeitern und öffentlicher Infrastruktur. Privatunternehmen füllen die Lücke. Ein Besuch in der Metropole São Paulo.

Der schwarz-gelbe Zug gleitet in die Station Butantã ein. Der Triebwagen mit dem Emblem von Via Quatro, einem gelben Kreis mit einem grauen Dreieck darin, bremst ab, die Türen öffnen sich und Passagiere steigen aus und ein. Exakt zweieinhalb Minuten dauert es, bis der Zug mit der Nummer 409 wieder Fahrt aufnimmt und die Station verlässt. »Das ist die Vorrausetzung, um pünktlich und effizient zu sein«, erklärt Luis Valença. Der drahtige Mann mit den graumelierten Haaren und der modischen Brille ist studierter Mathematiker und ehrgeizig. »Wir wollen die modernste U-Bahn-Linie der Welt sein«, erklärt der Vorsitzende von Via Quatro, der ersten privaten U-Bahn-Linie von São Paulo. Sie hat am 16. Oktober 2011 den Betrieb aufgenommen und befördert täglich fast 700 000 Menschen in Brasiliens Metropole. Knapp 15 Millionen Menschen leben dort, rund sechs Millionen sind es im Einzugsgebiet der Stadt, die aus allen Nähten platzt.

Das Nadelöhr ist dabei die öffentliche Infrastruktur, die nicht mit der steigenden Bevölkerungszahl mithielt. Das macht sich täglich bemerkbar. Nichts ist in der weitläufigen Stadt so legendär wie der Stau, den sieben Millionen Autos, Hunderttausende LKW und Motorräder jeden Tag verursachen. Dem versucht die Architektin Leticia Man­sur so oft wie möglich auszuweichen. Die Frau von Mitte 30 ist in der Station Butantã, einem Wohngebiet, zugestiegen und nimmt die Linie der Via Quatro bis zur Station Paulista. Dort schlägt das Herz der Stadt. Auf der Avenida Paulista haben etliche Firmen ihre Repräsentanzen, aber auch Theater und Kinos säumen die 2,8 Kilometer lange Prachtmeile. Dort hat Mansur regelmäßig zu tun, die Einweihung der neuen gelben U-Bahn Linie kam ihr sehr gelegen. »Die Linie hilft, den Verkehr zu entzerren und für mich ist sie eine Möglichkeit, ohne Stress und vor allem pünktlich zu meinen Kundenterminen zu kommen«, erklärt sie und hält die lange schwarze Rolle fest, in der sie Pläne für die Kunden transportiert.
Viele Fahrgäste schätzen die Pünktlichkeit, das moderne Ambiente und die Sauberkeit in den blitzblanken Waggons aus koreanischer Produktion, wie regelmäßige Umfragen der Betreiber ergaben. In jedem Zug sorgt eine Angestellte oder ein Angestellter der Linie für Sicherheit und Sauberkeit. Vorne im Triebwagen der Via Quatro sitzt hingegen niemand am Steuerknüppel. Die Züge werden per Computer vom Betriebshof in der Vila Sônia gesteuert. Dort sitzen rund 40 Mitarbeiter in der Leitzentrale und koordinieren die Fahrten der acht gelb-schwarzen Triebwagen. Die Computersteuerung sorge für einen reibungslosen Einsatz der Züge auf den sechs Stationen, die derzeit bedient werden, so die Techniker. Fünf weitere Stationen sollen 2014 hinzukommen, so dass die Linie dann 12,8 Kilometer lang und mit 14 statt derzeit acht Zügen bestückt sein wird. Mindestens eine Million Fahrgäste sollen dann täglich transportiert werden, kalkuliert das Team um Valença. Das würde reichen, um schwarze Zahlen zu schreiben, bisher ist die Kalkulation des Managements von Brasiliens erster öffentlich-privater U-Bahn-Linie voll aufgegangen. »Wir haben ausreichend Fahrgäste, erhalten gute Noten von den Nutzern der Linie, die wir alle sechs Monate befragen, und kommen mit den Fahrkartenkosten zurecht«, sagt Valenças rechte Hand Sami Farah Junior. Er ist gemeinsam mit seinem Chef heute auf der Strecke unterwegs, um das Projekt den Geldgebern vorzustellen. Darunter befindet sich auch die deutsche Förderbank KfW, die dem Infrastrukturprojekt mit einem Kredit zum Erfolg verhalf. »Langfristige Kredite sind in Brasilien nicht so einfach zu bekommen und wenn eine internationale Bank bei einem Großprojekt wie dem Bau einer U-Bahn-Linie im Boot ist, ziehen lokale Banken oft nach«, erklären Valença und Farah Junior.

Große Investitionsprojekte kann die öffentliche Hand kaum mehr allein bewältigen, wie der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs von São Paulo zeigt. Bis zu 20 neue U-Bahn-Linien sind in der Megastadt geplant, um den Verkehrsinfarkt zu beheben. Daher sind neue Finanzierungsmodelle und Kooperationen nötig. »Wir haben eine 30jährige Konzession für die Strecke erhalten, weil wir rund zwei Milliarden US-Dollar in Ausrüstung und Infrastruktur investieren«, erklärt Valença das Modell. Das macht nicht nur in São Paulo Schule, denn das größte Unternehmen im Konsortium von Via Quatro, die Companhia de Conces­sões Rodaviárias, gehört zu den größten Autobahnbetreibern in der Region. Bei den Preisen haben jedoch die staatlichen Stellen die Weisungsbefugnis, so dass das Konsortium die derzeit gültigen Preise von drei Reais (1,12 Euro) für die gesamte Strecke nicht erhöhen kann. Über die Preise wacht eine Behörde, die Fahrgastinteressen mit denen der Stadt und der Investoren abstimmen soll. Im Gegenzug hat die Stadt bei dem Projekt Zugeständnisse gemacht und Tunnel, Gleise und Stationen finanziert. Dieses Finanzierungsmodell wird auch in anderen Bundesstaaten angewandt, wo ähnliche Konzessionen ausgeschrieben werden. Doch nicht nur beim dringend nötigen Ausbau von Häfen, Flugplätzen, U- und S-Bahnstrecken, sondern auch im Bildungssystem kommen Privatunternehmen zum Zug, weil der Staat nicht hinterherkommt.
Brasiliens Unternehmer beklagen den Mangel an Facharbeitern und Ingenieuren. Das sei das zweite Nadelöhr für die mittlerweile sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt, betont Vitor Pini. »Während in den USA oder Korea 25 von 1 000 Schulabgängern ein Ingenieursstudium aufnehmen, sind es in Brasilien nur sechs«, schildert er das Problem, das auch in Deutschland bekannt ist. Händeringend suchen Brasiliens Unternehmen wie Embraer, der viertgrößte Flugzeugbauer der Welt, oder der Bergbaukonzern Vale do Rio Doce nach Facharbeitern und Hochqualifizierten. »Das ist eine große Chance für uns als Bildungseinrichtung, aber auch für die Menschen, die früher keinen Zugang zur Bildung hatten«, erklärt Pini, der an der Privatuniversität Anhanguera als Finanzexperte arbeitet. Das Unternehmen hat nicht die wohlhabenden Bevölkerungsschichten im Visier, sondern diejenigen, die erst mit den Reformen der vergangenen Jahre aus der Armut in die untere Mittelschicht aufgestiegen sind. So wie Jair Bilhalva Gonçalves. Der stämmige Mann mit einem modischen Kinnbart und kurzen zurückgekämmten Haaren ist Dozent für Didaktik und Management. Seit vier Jahren unterrichtet er an der Privatuniversität Anhanguera. Er selbst kommt aus einfachen Verhältnissen. »Ich bin der erste mit einem Universitätsabschluss in meiner Familie, habe es geschafft und will etwas zurückgeben«, sagt der Mann von Anfang 40.
Diese Möglichkeit hat er eher an der privaten Universität Anhanguera als an einer öffentlichen. »Dort sorgen rigorose Zulassungstests für klare Verhältnisse, da haben unsere Studenten kaum eine Chance«, erklärt Gonçalves unisono mit Pini. Schüler, die von schlechteren Schulen kommen und nicht durch Privatlehrer gefördert werden, scheitern meist an den Aufnahmetests und ihnen bleibt nur die Wahl, an eine kostenpflichtige Privatuniversität zu wechseln. In Brasilien ist die staatliche Bildungspolitik den Anforderungen nicht gewachsen. Es wurde versäumt, das öffentliche System auszubauen, kritisieren Bildungs­experten wie Simon Schwartzman. Er hat früh für mehr Engagement an der Basis, den Grundschulen, plädiert. Die Versäumnisse bekämen nun auch die privaten Einrichtungen zu spüren, die Defizite ausgleichen müssten, gibt der Dozent Gonçalves zu: »Es ist eine Herausforderung, die Studenten auf das gleiche Niveau zu bringen, aber wir haben gute Ergebnisse.« Das ist auch ein Grund dafür, dass das Bildungsunternehmen in den vergangenen Jahren merklich gewachsen ist. Gleich in vier Städten ist Anhanguera, Brasiliens größte private Bildungseinrichtung, präsent, derzeit sind 400 000 Studentinnen und Studenten eingeschrieben. Einer davon ist Ciro Domingues Quirino. Vorsichtig nimmt er eine Pipette mit orangefarbenem Ballon in die Hand und drückt einige wenige Milliliter Flüssigkeit in ein Glas. Dann kontrolliert er den Eichstrich, lässt noch ein paar Tropfen der klaren Flüssigkeit in das Glas fallen und legt einen gläsernen Deckel drauf. Dann ist der Nächste aus dem Kurs von Itamar Pereira de Barros mit der Übung dran. Sie ist Bestandteil der Ausbildung, die der 23jährige Student an der Privatuniversität Anhanguera absolviert. »Vier Jahre dauert sie und am Ende bin ich ausgebildete Apotheken-Fachkraft«, sagt er. Unterstützt wird der junge Mann, der aus bescheidenen Verhältnissen stammt, dabei von seinem Chef. »Er will, dass ich mich weiterqualifiziere. Mit einem abgeschlossenen Studium der Universität Anhanguera kann ich das Dreifache verdienen«, sagt Domingues Quirino stolz.

Der Facharbeitermangel und der Wirtschaftsboom der letzten Jahre haben nun einen Bildungsboom zur Folge. Dieser sorgt dafür, dass die untere Mittelschicht, anders als früher, an die Schulen des Landes drängt und nach Feierabend noch eine Weiterbildung absolviert. Genau diese Klientel hat die Privatuniversität Anhanguera, die eher an eine Fachhochschule erinnert, wo nach Feierabend unterrichtet wird, im Visier – mit großem Erfolg. Besonders groß ist die Nachfrage in São Paulo. »Headhunter jagen den Unternehmen das qualifizierte Personal ab und die Löhne sind deutlich gestiegen«, erklärt Pini. Der 36jährige Finanzexperte ist selbst von einer professionellen Agentur angeworben worden, um die Geschäfte bei der 1994 gegründeten Bildungseinrichtung zu lenken. »Wir treiben die Volksbildung voran«, beschreibt er den Ansatz der Universitätsgründer euphorisch. Der enorme Ausbildungsbedarf hat dazu geführt, dass Konzessionen an private Träger ausgegeben wurden, um die Engpässe möglichst schnell zu beseitigen. De facto ist dies ein Eingeständnis, dass das staatliche Bildungssystem mit den Aufgaben überfordert ist. Von den Unternehmen werden die Maßnahmen jedoch begrüßt und die Ergebnisse der Studenten der Universität Anhan­guera können sich sehen lassen.
»80 Prozent unserer Absolventen schließen ihr Studium mit gut oder sehr gut ab, die Vermittlungsquote auf dem Markt liegt bei über 95 Prozent«, sagt der Pharmazie-Dozent Pereira de Barros. Er kommt wie viele der Dozenten aus der Praxis und kennt die Situation der jungen Menschen aus einfachen Familien, die den Aufstieg versuchen. »Sie sind motiviert und wir sind dafür verantwortlich, die Motivation hochzuhalten und den Studenten ihre Möglichkeiten zu zeigen«, erklärt der 48jährige in einer Pause und bereitet dabei den nächsten Versuch für seine rund 20 Kursteilnehmer vor. Nebenan, im hochmodernen Computersaal, ist die Teilnehmerzahl etwas höher, einen Raum weiter, bei den Juristen, sind es ein paar Studenten weniger. Alle Studentinnen und Studenten zahlen für ihre Ausbildung, doch die Privatuniversität hat ein Finanzierungskonzept entwickelt, das an die Einkommenssituation angepasst ist, und hilft bei der Beantragung der staatlichen Kredite. Auf die wird auf dem Campus an mehreren Ecken hingewiesen und derzeit nehmen 51 890 der insgesamt 400 000 Studenten an Anhanguera am Kreditprogramm der Regierung teil. Der Student Domingues Quirino wird zwar von seinem Arbeitgeber, einem älteren Apotheker, etwas unterstützt, doch das Gros der monatlichen Studiengebühren stottert er durch einen vergleichsweise günstigen staatlichen Kredit ab. »Früher hat es solche Angebote nicht gegeben. Nun habe ich bis zu 20 Jahre Zeit, um meine Ausbildung zu bezahlen », erklärt er. Mit einem deutlich höheren Gehalt am Ende wird das nicht allzu schwer fallen, lautet das Kalkül vieler Studenten. Die Wachstumsprognosen für Brasiliens Wirtschaft sehen gut aus: 2013 soll sie um 4,5 Prozent wachsen und vor allem im Bau-, Computer- und Logistiksektor ist der Bedarf an Arbeitskräften groß. Das hat die Privatuniversität Anhanguera im Blick. So wurden mehrere Computertechniker und Logistiker auch schon an staatliche und private Verkehrsunternehmen vermittelt. Ob auch Via Quatro darunter war, kann Pini allerdings nicht sagen.