Zwei Jahre arabische Revolten

And the loser is …

Zwei Jahre nach dem politischen Umbruch in den arabischen Ländern gibt es mehr Verlierer als Gewinner.

Kaum mehr eine Hoffnung auf Veränderung oder Fortschritt scheint es derzeit in den Ländern des »arabischen Frühlings« zu geben, und so bleibt selbst von Ereignissen, die man noch vor kurzem »historisch« genannt hat, im Handumdrehen nichts als das pflichtschuldige Abarbeiten von Jahrestagen. Es scheint ja gar nichts Wesentliches passiert zu sein, denn in den Metropolen der alten Welt herrscht so etwas wie ewige Gegenwart.
Dabei ist es erst zwei Jahre her, dass in Tunesien der Diktator Zine al-Abidine Ben Ali ins Exil ging, Hosni Mubarak unfreiwillig abtrat, die Aufstände gegen Muammar al-Gaddafi und Bashar al-Assad begannen und im Jemen, Bahrain, Marokko und Jordanien Massendemonstrationen stattfanden. Im Sommer wird es dann vier Jahre her sein, dass im Iran Millionen gegen das dortige Regime demonstrierten. Und vor zehn Jahren wurde Saddam Hussein gestürzt. Der alte Nahe Osten, so wie er seit Jahrzehnten existierte, den gibt es nicht mehr und es wird ihn nie mehr geben.
Anfang 2012, als sich der Sturz der Diktatoren von Tunesien und Ägypten zum ersten Mal jährte, kam bereits allerorten der Slogan vom »arabischen Winter« auf. Ein Jahr später scheint sich für die meisten Betrachter die ganze Angelegenheit in einer Dauerkatastrophe aufgelöst zu haben, die man sowieso gleich geahnt hatte. Die Bilder meist junger demonstrierender Menschen, die Freiheit forderten, eine Szenerie, die die althergebrachte politische Ikonographie der Region über Nacht in Frage gestellt hatte, sind längst überlagert worden durch Bilder von stumpfen zottelbärtigen Islamlistenfunktionären und den notorischen jungen Männern, die so wirken, als seien sie mit einer Kalaschnikow in der Hand geboren worden.
Der Krieg in Syrien schließlich, mit seinen immer blutigeren Gemetzeln, hat über das vergangene Jahr sowieso alle Bilder des Aufbruchs endgültig verdrängt, und wer schon immer gewusst haben wollte, dass sich der Araber an und für sich nur zum blutrünstigen Stammeskrieg eignet, wenn er denn nicht von Diktatorenhand in Zaum gehalten wird, durfte sich wiederum bestätigt sehen. Nur wer noch ein klein wenig empathiefähig war, der gestand den Aktivisten der »Facebook-Revolution« immerhin zu, dass sie eigentlich doch ganz sympathisch waren, aber leider eben die Verlierer des Ganzen.
So schnell sich die Kommentatoren aller mög­lichen politischen Couleur über das Scheitern des »arabischen Frühlings« einig waren, so seltsam schwankend sind jedoch die Urteile, wer denn nun der Gewinner der ganzen verwirrenden Vorgänge im Nahen Osten sei. Bald hieß es, das könne nur die Islamische Republik Iran sein, das hatten die Herrscher in Teheran schließlich selbst verkündet, dann war es aber eher der Islamismus der AKP-Türkei, oder doch Saudi-Arabien und Katar? Sind die Muslimbrüder der jüngste Favorit, oder sind es nicht eigentlich die Salafisten? Vielleicht auch gleich der »muslimische Imperialismus«, den jüngst ein deutscher Schriftsteller ausgemacht haben wollte? Alle suchen seltsamerweise den großen Gewinner der gewaltigen Umbrüche im Nahen Osten, der aber will einfach nicht auftauchen. Nur eines scheint klar: Er muss irgendetwas mit angeblich entstehenden »Gottesstaaten« zu tun haben und im Hintergrund ist andauerndes Gezeter über die Sharia zu hören. Der Verdacht drängt sich auf, dass es bei dieser Suche vor allem darum geht, diese verstörenden Vorgänge im Nahen Osten endlich mit einem eindeutigen Begriff zu fassen.

Die USA zählt jedenfalls niemand zu den Gewinnern. Das Kungeln mit den Muslimbrüdern und das Surren der Drohnen, das ist von der amerikanischen Nahost-Politik unter Barack Obama geblieben. Ob es sich hier schlicht um Prinzipien- und Ideenlosigkeit handelt oder um die bereits seit den achtziger Jahren ermüdend beschworene strategischen Neuausrichtung der USA in Richtung Pazifik, ist letztlich bedeutungslos. Dazu gehört auch das gerade bemühte Argument der künftigen Energieautarkie der USA durch Ölschiefer. Das mag alles stimmen, aber der Handlungsstillstand der USA im Nahen Osten erweist sich nachgerade als Satire auf antiimperialistische Phantasien. Hier entsteht bloß Raum für das planlose Agieren von Regionalmächten, die allesamt zu schwach sind, um als Ordnungsmächte zu fungieren, aber gerade stark genug, um ihre jeweiligen Stellvertreterkrieg zu führen. Die ab dem Frühling 2011 lange Zeit überraschend friedlich demonstrierenden Syrer wollten aus der letzten verwesten Bath-Diktatur herauskommen, und es ist nicht ihre Schuld, dass hier die Schlachtbank aufgebaut worden ist, auf der der alte Nahe Osten ausgeweidet und neu verteilt wird.
Friedensnobelpreisträger Obama hat deutlich gemacht, dass ihn kein Massaker und keine Streubombe in Syrien ernsthaft stört, solange nur kein Giftgas eingesetzt wird. Von einer »europäischen Außenpolitik« braucht man in diesem Zusammenhang schon gar nicht mehr zu sprechen.
Ein Blick über die Arabische Halbinsel könnte etwas von der Angst der Scheichs der Vereinigten Arabischen Emirate vor den Muslimbrüdern erzählen oder vom Zittern der Herrscherhäuser in Kuwait und Bahrain um ihre Existenz. Die Gerontokratie Saudi-Arabiens hat sich in den vergangenen zwei Jahren zum ersten Mal mit Demonstra­tionen und Akten zivilen Ungehorsams vor allem von Frauen auseinandersetzen müssen. Das im tiefsten Grunde mit Angstlust besetzte westliche Szenario vom Siegeszug eines fortwährenden »islamischen Erwachens« wiederum stößt, genauer betrachtet, auf eklatante Widersprüche, wenn in Syrien Anhänger der Hizbollah und al-Qaida-Kämpfer gegeneinander in den heiligen Krieg ziehen und ihre Gefallenen jeweils als Märtyrer beerdigen.

Und Ägypten und die Muslimbrüder? Mehr noch als gegen eine nichtreligiöse Opposition wird Mohammed Mursi gegen eine Entwicklung zu kämpfen haben, an deren Ende der failed state droht. Man könnte die einstürzenden ägyptischen Häuser als Sinnbild nehmen, oder die häufigen Eisenbahnunfälle. Die Korruption, die Bürokratie, die Dysfunktionlität und die Hoffnungslosigkeit großer Teile der Bevölkerung in Ägypten sind so verheerend wie in der übrigen Region. Das Problem des ägyptischen Präsidenten ist gerade wohl eher nicht die Errichtung einer »Theokratie«, sondern unter anderem die weitere Finanzierung des ägyptischen Staates mit internationalen Krediten, deren Vergabe an wirtschaftsliberale Bedingungen geknüpft ist. Wie die regierenden Muslimbrüder das bewältigen wollen, ist eine selten gestellte, aber hochinteressante Frage.
Den Mythos mag es geben, dass sich diese islamische Organisation quasi 80 Jahre lang verschlagen und gewieft auf ihre Machtübernahme vorbereitet habe. Wenn das aber tatsächlich der Fall gewesen sein sollte, dann hat sie ziemlich viel Zeit sinnlos vertan. Der beliebte Hinweis, bei aller ökonomischen Aussichtslosigkeit der arabischen Länder könnten doch die Islamisten immerhin noch den »Massen« das Paradies versprechen, übersieht, dass die Islamisten in der Folge des »arabischen Frühlings« mit konkreten Versprechungen regulär gewählt worden sind. Es spricht allerdings für die Pragmatik des Muslimsbruders Mursi, dass er zwar in früheren Reden die Juden ganz traditionell als Abkömmlinge von Affen und Schweine bezeichnet hat, nun allerdings gerne die bestehenden Freihandelszonen mit Israel ausbauen möchte. Ob türkische oder iranische Regierung, Golfmonarchien oder Muslimbrüder, wer immer in letzter Zeit als vorgeb­licher Gewinner des Umbruchs im Nahen Osten tituliert wurde, sieht eher wie ein Getriebener aus, der irgendwie versucht, auf eine Entwicklung Einfluss zu nehmen, die längst jeder Kontrolle entglitten ist.
Das alles ändert allerdings nichts daran, dass die Region bei genauerer Betrachtung ihrer sozialen, ökonomischen, geistesgeschichtlichen und sonstigen Verfasstheit doch eigentlich als Depressionslandschaft erscheint, die positiv verändern zu wollen ein hoffnungsloses Unterfangen wäre. Aber wo hat der Fluss der Geschichte gänzlich aufgehört, außer im Westen der »ewigen Gegenwart«?
Und hier kommt eben doch wieder der »arabische Frühling« ins Spiel, der Aufbruch meist junger Leute, die eben nicht unter dem grünen Banner des Islam, sondern mit ganz anderen Forderungen auf die Straße gingen, das Infragestellen gesellschaftlicher Zwänge und nicht zuletzt die völlige Diskreditierung des Führermodells, das die politische Kultur in den nahöstlichen Staaten über die vergangenen Jahrzehnte seit der Dekolonialisierung so kontaminiert hat. Der Jihadist mit martialischem Kampfnamen und schwarzer Fahne, der doch etwas geschmeidigere Muslimbruder und sein Kompagnon, der tumbe Salafist, sie alle gibt es wirklich, aber sie bilden nicht die gesamte Realität ab. Sie sind auch bloß Mitspieler in einem komplexen und widersprüchlichen Prozess, durch den Grundkonflikte ausgetragen werden.

Die Erschütterungen des »arabischen Frühlings« haben endlich einen Kulturkampf an die Oberfläche gebracht, den auch kein abgehalfterter Diktator mehr hätte unterdrücken können. Aber diese scheinbar kleinen Bewegungen, etwa einer saudischen Frau, die sich demonstrativ ans Steuer eines Autos setzt, entgehen gerne den ganz großen strategischen Blicken, die vor lauter Schleiern und Bärten keine Menschen mehr sehen. Womöglich geht es auch nur um dieses Bewusstsein, dass Änderung prinzipiell möglich und notwendig ist.
Anfang Januar stellte die amerikanische Organisation »Freedom House« ihren Bericht für das Jahr 2012 vor. In der Region »Naher Osten/Nordafrika« scheint sich auf den ersten Blick wenig verändert zu haben. Weiterhin bleibt Israel weit und breit das einzige Land mit dem Attribut »free«. Mit Libyen allerdings erhielt die Liste von Ländern Zuwachs, die als »partly free« eingestuft werden: Libyen, das ist auch das Land, in dem, entgegen allen Erwartungen, die Islamisten eine nachhaltige Wahlniederlage einstecken mussten. Heute gelten vier von sechs nordafrikanischen Staaten als »partly free«. Vor drei Jahren war es keiner. Diese kleine Meldung, die vielleicht etwas mehr über die Folgen des sogenannten »arabischen Frühlings« sagt, fand kaum Eingang in die vielen Betrachtungen, die nun, zwei Jahre nach dem Abgang Ben Alis und dem Rücktritt Mubaraks, zu Papier gebracht wurden.