Über das Buch »Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende«

Familienmensch Stalin

Der italienische Philosoph Domenico Losurdo will Stalin entdämonisieren und verstrickt sich in Geschichtsrevisionismus.

Angesichts neuer Archivfunde in Russland und jüngster Forschungsergebnisse zur Sozialgeschichte der Sowjetunion ist es begrüßenswert, wenn sich Historiker wieder mit Stalin beschäftigen. Der italienische Philosoph Domenico Losurdo versucht in seinem Buch »Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende« populäre Darstellungen Stalins wie die von Nikita Chruschtschow, Leo Trotzki und Hannah Arendt zu widerlegen. Für ihn ist der Begriff des »Zweiten Dreißigjährigen Krieges« zentral, der mit dem Ersten Weltkrieg 1914 begann und der Niederlage Deutschlands 1945 endete. Nur vor dem Hintergrund eines »permanenten Ausnahmezustandes« durch äußere und innere Bedrohung sei das Handeln der Bolschewiki und auch Stalins erklärbar. Der Autor spricht dabei von drei Bürgerkriegen: den zwischen »Roten« und »Weißen« nach der Oktoberrevolution, der Kollektivierung der Landwirtschaft gegen Bauern 1929 und Stalins »Säuberungen« in den Dreißigern, die er als Bürgerkrieg innerhalb der Partei versteht. Auch wenn Losurdo nicht alle Gewalttaten Stalins rechtfertigt, so beurteilt er seine Rolle insgesamt positiv, da dieser versucht habe, einen »Mittelweg« zwischen den abstrakten Utopien der Oktoberrevolution und dem Ausnahezustand zu finden. Die Revolution von 1917 sei von einem »Anarchomessianismus« geprägt worden, der Arbeitsteilung und die damit verbundenen sozialen Hierarchien, Geld, Nation und Familie, einfach abschaffen wollte.
In einem komplizierten Lernprozess habe Stalin diesen »abstrakten Universalismus« überwunden und das Programm den realen russischen Verhältnisse angepasst. Besonders positiv sieht der Autor die Wende Mitte der dreißiger Jahre, als die KPdSU sich wieder positiv auf die russische Nation bezog, große Differenzen bei Löhnen zuließ, die »elterliche Autorität« wieder förderte sowie die Überwindung der Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit und die Abschaffung des Staates auf unbestimmte Zeit vertagte. Losurdo erwähnt nicht, dass auch Homosexualität und Schwangerschaftsabbruch verboten wurden. Die KPdSU ließ bis Kriegsbeginn 1940 Kampagnen durchführen, um die unbezahlte Hausarbeit von Frauen als Beitrag zum sozialistischen Aufbau zu glorifizieren, statt geschlechtliche Arbeitsteilung in Frage zu stellen.
Die Kritik an der Oktoberrevolution ist insofern unfair, als sie mit relativ moderaten Maßnahmen wie der Bodenreform, dem Aufruf zum Friedensschluss ohne Annexionen sowie der Einführung von Arbeiterkontrolle in den Fabriken begann. Während des folgenden Bürgerkrieges und des »Kriegskommunismus« 1918 bis 1920 glaubten nicht wenige Bolschewiki, dass Russland direkt in den Kommunismus übergehen könne. Das war sicher unrealistisches Wunschdenken. Losurdo geht jedoch noch weiter und feiert, dass Stalin die Kritik an Arbeitsteilung, Staat und Nation aufgegeben hat. Was allerdings bleibt dann noch von der Sowjet­union außer einer brutalen Modernisierungsdiktatur im Ausnahmezustand? Vom Anspruch der sozialen Emanzipation der Arbeiterklasse bliebe dann nicht mehr viel übrig. Wie einfache Arbeiter und Bauern die sowjetische Industrialisierung erlebten, beschreibt der Autor nicht. Sein Fokus liegt auf dem »großen Mann«, als den er Stalin ansieht.
Besonders skurril ist der Versuch Losurdos, die Durchsetzung eines starken Staates als Entradikalisierung der Gewalt zu begreifen. Der Autor spricht von über 1500 Anhängern des zaristischen Regimes, die in nur wenigen Tagen während der Februarrevolution 1917 in St. Petersburg von Arbeitern und Matrosen gelyncht wurden. Diese Zahl erscheint relativ gering im Vergleich zu den zirka 680 000 Menschen, die alleine während der »Großen Säuberung« 1937/38 von staatlichen Sicherheitsorganen »liquidiert« wurden. Losurdo hätte durchaus die neueren Erkenntnisse aus der Forschung verwenden können, um die Opferzahlen nach unten zu korrigieren. Alexander Solschenizyn hatte während des »Kalten Krieges« die Zahl von 60 Millionen Toten verbreitet. Die niedrigsten wissenschaftlichen Berechnungen auf Grund­lage der Archivfunde gehen davon aus, dass eine Millionen Menschen exekutiert wurden, ein bis zwei Millionen den Gulag nicht überlebten und sechs bis acht Millionen Menschen zwischen 1931 und 1933 verhungerten. Zahlen scheinen Losurdo jedoch nicht zu interessieren, obwohl sie immer ein wichtiges Argument in den Debatten um den »Stalinismus« sind.
Anstatt die Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Sowjetunion herauszuarbeiten, setzt Losurdo die Verbrechen der Nazis mit der Besatzungspolitik der britischen und ame­rikanischen Alliierten nach 1945 gleich, etwa wenn er schreibt: »Stellt das Dritte Reich die ›Eingeborenen‹ Osteuropas mit den zu dezimierenden Rothäuten und den zu versklavenden Schwarzen gleich, so behandeln England und die Vereinigen Staaten Deutsche und Japaner schließlich wie Kolonialvölker, die zum Gehorsam gebracht werden müssen.« Losurdo stützt sich auch auf geschichtsrevisionistische Autoren wie Jörg Friedrich, um die Deutschen zu Opfern zu erklären.
Nach Darstellung Losurdos hätten die west­lichen Alliierten 1946 absichtlich eine »terroristische Hungersnot« ausgelöst, um die Deutschen zu bestrafen, eine Nahrungsmittelknappheit habe es gar nicht gegeben. Für diese Verschwörungstheorie gibt es wenige Belege. Im bitterkalten Winter 1946 brach eine weltweite Ernährungskrise aus. Millionen Menschen hungerten in West- und Osteuropa sowie Asien. Im Gegensatz zu den Nazis im besetzten Osten ließen die Alliierten ihre Truppen nicht »im Felde« ernähren, sondern führten Nahrungsmittel ein. In Frankreich und Großbritannien, die vom Krieg zerstört waren, kritisierte die Bevölkerung die Regierung dafür, dass so viele Ressourcen nach Deutschland flossen. Ohnehin ist es unredlich, die Rationen im NS-Konzentrationslager Bergen-Belesen mit den Essensmengen der Normalbürger im Nachkriegsdeutschland zu vergleichen, da die Bevölkerung im Unterschied zu Lagerhäftlingen immerhin die Möglichkeit hatte, durch Diebstahl, »Hamstern« oder Schwarzmärkte ihre Mahlzeiten aufzubessern.
Gerade die Zerschlagung des Nationalsozialismus durch die Rote Armee zusammen mit den westlichen Alliierten sowie der Versuch, in Deutschland eine antifaschistische Neuordnung durchsetzen, waren zivilisatorische Errungenschaften. Für Losurdo scheint der Na­tionalsozialismus nur eine radikalisierte Form des »angelsächsischen Imperialismus« zu sein. Seine nationalbolschewistische Interpretation Stalins schlägt sogar das emanzipato­rische Erbe der Oktoberrevolution aus: das Ziel, eine andere Welt zu schaffen.

Domenico Losurdo: Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende. Papyrossa-Verlag, Berlin 2012, 22,90 Euro

Am 23. Januar diskutiert Felix Wemheuer mit Domenico Losurdo und David Mayer über die Einordnung Stalins. KPÖ-Bildungszentrum, Lagergasse 98a, Graz. Beginn um 19 Uhr