Geschlossene Stadt
Und plötzlich ist David Bowie wieder da. Auf seiner völlig überraschend veröffentlichten Single fragt er: »Where Are We Now?« Und scheint dabei vor allem wissen zu wollen: »Where am I now?« Der wunderbare Song, einer der schönsten Bowie-Songs seit Jahrzehnten, ist als Erinnerung eines inzwischen 66 Jahre alten Mannes angelegt, der rekapituliert, wie es war in Berlin, als er Ende der Siebziger hier lebte und mit der sogenannten Berlin-Trilogie aus »Low«, »Heroes« und »Lodger« die bedeutendsten Platten seiner Karriere produzierte.
Sensationell ist auch der Clip zum Song, der von dem Videokünstler Tony Oursler produziert wurde. Oursler wurde mit seinen Ballongesichtern bekannt und hat auch Bowies Antlitz als Ballon gestaltet. Dieses Gesicht ist furchig und faltig, Bowie, der ewige Verwandlungskünstler, ist alt geworden, und man darf das auch sehen.
Die Stadt Berlin hätte einen so kunstfertigen Werbeclip als Eigenwerbung niemals hinbekommen und kann Bowie dankbar sein, dass nun die ganze Welt darüber diskutiert, welche Orte in Text und Bild vorkommen. Bowie nimmt uns mit auf eine Reise in die Vergangenheit, zurück in das Mauerstadt-Berlin, das er kannte und dem er Glanz gab; der »Bowie in Berlin«-Mythos ist schließlich bis heute gigantisch, zahlreiche Bücher wurden über ihn verfasst. Bowie bereist das West-Berlin von damals noch einmal, steigt ein in die U-Bahn in Richtung Potsdamer Platz, wo er in den nahegelegenen, bis heute vor allem Dank Bowie weltberühmten Hansastudios gemeinsam mit Brian Eno seine Platten produzierte. Geschickt entwickelt der Clip aus dem Reiseführer-Berlin samt Siegessäule, Reichstag, Berliner Mauer und KaDeWe das persönliche Bowie-Berlin. Wir sehen kurz das ehemalige Wohnhaus des Künstlers in der Hauptstraße in Schöneberg, in dem er eine Zeit lang gemeinsam mit Iggy Pop gehaust hat, und werden an den »Dschungel« erinnert, diese legendäre Absturz-und Künstlerkneipe, in der der englische Popstar genauso verkehrte wie Nick Cave und Blixa Bargeld.
Beinahe wie die weiterführende Lektüre zum Bowie-Clip liest sich da Wolfgang Müllers persönliche Darstellung der »Subkultur Westberlin 1979–1989«, die zu einem Zeitpunkt einsetzt, als Bowie Berlin gerade verlassen hatte. Wobei die Geschichte der »Christiane F.« 1981 ja nochmals deutlich machte, dass Berlin auch nach der Abreise des Musikers Bowie-Stadt bleiben würde. Auch bei Wolfgang Müller geht es um den »Dschungel« und auch um David Bowie, die Hansastudios dagegen werden gar nicht erst erwähnt, was allein schon beweist, dass jeder der Szeneprotagonisten aus der Ära kurz vor und nach Punk im Mauerstadt-Berlin eben eine ganz persönliche Sicht der Dinge beizutragen hat.
Und Wolfgang Müller macht auch gar keinen Hehl daraus, dass das, was er als »Subkultur Westberlin 1979–1989« zu beschreiben vorgibt, die Subkultur ist, in der er sich damals bewegt hat, und das war eben doch eine andere als die, in die Nick Cave oder Nikki Sudden eintauchten.
Müller beschreibt ausführlich alles, was sich damals rund um die Szene der sogenannten Genialen Dilletanten zugetragen hat, bei der man »Dilletanten« unbedingt mit Doppel-L zu schreiben hat. Müller selbst war Teil der Tödlichen Doris, die eine der originellsten deutschen Postpunkbands war und die Musik vor allem als Mittel ansah, eigene Vorstellungen von ungewöhnlicher Kunst zu verwirklichen.
In einem lockeren und assoziativen Stil wird von den unterschiedlichsten Aktivitäten dieser Band erzählt, die Produktion einer »unsichtbaren« Schallplatte und all der andere geniale Quatsch, den sich die Performance-Gruppe so ausgedacht hat. Gleichzeitig wird immer ausgiebig ausgeschweift und all die bis heute mythisierten Aktivitäten, Personen und Orte aus dem erweiterten Umfeld der Genialen Dilletanten werden nochmals subjektiv ausgeleuchtet. Ben Becker, Blixa Bargeld, das Atonal-Festival, der Scheißladen, Eisengrau, der Merve-Verlag, Jörg Buttgereit, SO36, alles wird in einer ziemlich kurzweiligen, das Prinzip des Szeneklatsches absolut bejahenden Darstellung untersucht.
Freund und Feind werden dabei immer benannt. Das muss man ertragen, Müller ist nunmal kein objektiver Erzähler, und eigentlich macht es auch Spaß, wie Müller über den Tresor-Erfinder Dimitri Hegemann herzieht oder den Salonpunk Ben Becker. Nur etwas einfach macht er es sich, wenn jeder, der aus seinem subkulturellen Kapital irgendwann richtig Geld gemacht hat, gleich ein Verräter subkultureller Ideale ist. Und man wird das Gefühl nicht los, dass irgendwann auch einmal etwas rein Persönliches zwischen Müller und Martin Kippenberger vorgefallen sein muss, sonst würde Kippenberger nicht derart schlecht wegkommen in dem Buch.
Nebenbei erfährt man auch, was heute berühmte Jungle World-Autoren und -Redakteure damals so trieben. Der eine soll schon als Jugendlicher in einer Berliner Szenebar Blickkontakt mit Michel Foucault aufgenommen haben, die andere war auf der Documenta mit irgendeiner Bierdosen-Performance.
Warum aber erinnern sich Bowie und Müller gerade jetzt an eine untergegangene Epoche? Etwas nostalgisch fallen deren Rückschauen schon aus. Bei Bowie liegt die Vermutung nahe, dass er seine Johnny-Cash-Phase eingeläutet hat – der »Man in Black« hat sich als alter Mann in seiner Coverversion des Nine-Inch-Nails-Songs »Hurt« auch nochmals in berührender Weise an alles erinnert. Aus Wolfgang Müller spricht eher das Bedürfnis, den Sinn subkulturellen Treibens zu rekapitulieren, den man im Hipster-Berlin von heute nur noch schwer zu finden vermag. Müller lebt heute ja in einer weit weniger muffigen Stadt als damals in den Achtzigern, er lebt aber auch in einer Stadt, in der es für den Künstler, der nicht karriereoptimierend denkt, immer schwieriger wird. Müller meint, nach dem Fall der Mauer gehe es in Berlin nur noch um das Geld. Was die Neunziger betrifft, mag man ihm da nicht unbedingt zustimmen, aber es stimmt schon: Geniale Dilletanten haben es heute im immer teurer werdenden Berlin immer schwerer.
Wolfgang Müller: Subkultur Westberlin 1979–1989. Philo Fine Arts, Hamburg 2012, 579 Seiten