Rabbi Abraham Cooper im Gespräch über den Fall Augstein

»Wir vergleichen Augstein nicht mit Ahmadinejad«

Rabbi Abraham Cooper, stellvertretender Direktor des Simon-Wiesenthal-Centers in Los Angeles, sagt, warum Jakob Augstein mit seinen Äußerungen auf der Liste der antisemitischen Verunglimpfungen steht, und warum das nicht bedeutet, dass Kritik an Israel tabuisiert werden soll.

In Deutschland wird weiterhin über Jakob Augstein diskutiert, dessen Aussagen Sie in die Top-Ten antisemitischer Verunglimpfungen 2012 aufgenommen haben. Die FAZ nannte seine Nennung auf der Liste »einen schweren intellektuellen und strategischen Fehler«. Haben Sie sich geirrt?
Nein, haben wir nicht. Vielleicht stammen einige der spontanen Kommentare zu der Liste von Leuten, die Augsteins Zitate nicht gelesen haben. Ich nehme zudem an, dass viele Menschen in Deutschland nicht mit der auf Nathan Sharansky zurückgehenden Definiton des neuen Antisemitismus vertraut sind. Es geht darum, zu benennen, wann eine Kritik an Israel eine Grenze überschreitet.
Der »3D-Test« hat drei Kriterien festgelegt, um legitime Kritik an Israel von Antisemitismus zu unterscheiden.
Erstens: ein doppelter Standard, zweitens: eine Dämonisierung, und drittens: eine Delegitimierung Israels. Uns ging es von Anfang an um die konkreten Aussagen, die Augstein gemacht hat. Die Behauptung, dass dies ein Generalangriff auf alle Deutschen sei, ist unsinnig. Ich bin seit 35 Jahren beim Simon-Wiesenthal-Center und weiß einiges über Antisemitismus. Wenn wir eine Erklärung abgeben, achten wir darauf, dass wir vorher unsere Hausaufgaben gemacht haben und in unseren Kommentaren genau sind. Manche Leute argumentieren, dass Augstein schließlich Journalist sei, wir hingegen würden Israel einen moralischen Blankoscheck ausstellen. Das ist nicht der Fall und verkennt auch das eigentliche Problem. Die Fragen, die Augstein aufgeworfen hat, sind keinesfalls über Kritik erhaben. Tatsächlich streiten sich die Menschen in Israel jeden Tag in den Cafés, in den Medien und auf den Straßen darüber, sie debattieren jeden Tag über die Regierung. Das ist nicht das Problem. Wenn man aber beispielsweise die Haredim, die lediglich zehn Prozent der israelischen Gesellschaft ausmachen, mit islamischen Terroristen vergleicht, wenn man sie als Extremisten bezeichnet, die angeblich durch das »Gesetz der Rache« motiviert seien, dann deckt sich diese Aussage mit den Stereotypen des klassischen Judenhasses. Es ist das Stereotyp einer ganzen Gruppe. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Menschen, von denen Millionen unter Hitler ermordet wurden. Unter den Opfern des Holocaust befanden sich Millionen von Haredim. Tausende von Haredim-Familien müssen heute mit dem Verlust ihrer Angehörigen leben; ihre Eltern oder Großeltern wurden ermordet, manchmal wurden ganze Familien ausgelöscht. Da ist der Gedanke, dass man eine moralische Freikarte bekommt, nur weil man ein Journalist ist, nicht akzeptabel. Augstein steht aber auch deshalb auf unserer Liste, weil Deutschland eine sehr lebendige, vielschichtige Demokratie und Augstein ein Teil davon ist; er hat Einfluss auf die öffentliche Meinung in Deutschland. Seine Aussagen über Juden und über Israel zeigen nun, dass er konsequent eine Grenze überschreitet. Jemand, der am öffentlichen Diskurs in Deutschland so maßgeblich beteiligt ist, steht dann auch verdienterweise auf dieser Liste.
Die Verteidiger Augsteins argumentieren, die Kritik an Israel werde reflexhaft mit Antisemitismus gleichgesetzt.
Kompletter Unsinn. Ich habe bereits erwähnt, dass niemand mehr Kritik an der israelischen Politik übt als die Israelis selbst. Die Frage der Haredim, ihr Platz in der israelischen Gesellschaft, wirtschaftlich und sozial, auch das wird diskutiert. Es ist nichts falsch daran, dies zu kommentieren. Aber eine gesamte Gruppe von Menschen als extremistisch einzustufen, ist verleumderisch. Diese Menschen leben sicherlich abgekapselt, aber sie predigen keine Gewalt. Augstein schreibt ihnen eine Motivation zu, die nicht existiert. Angeblich seien sie vom »Gesetz der Rache« motiviert.
Augstein verwendet auch den Begriff der »jüdischen Lobby«. Gibt es eine »jüdische Lobby«, die maßgeblichen Einfluss auf die amerikanische Politik und Medien ausübt?
Es ist ein Schlagwort, das wie eine Art Code verwendet wird, um zu suggerieren, dass es Leute gibt, die hinter den Kulissen arbeiten und übermäßigen Einfluss auf das politische Geschehen nehmen, etwa auf die Unruhen des »arabischen Frühlings«, um selbst davon zu profitieren. Sicherlich kann man die Arbeit einiger jüdischer Organisationen kritisieren, schließlich gibt es eine Vielzahl verschiedener Interessensgruppen und NGOs. Was soll aber eine derartige Verallgemeinerung? Wenn man solche Begriffe verwendet und im selben Atemzug zum Ausdruck bringt, dass man sich eher über Israels nukleares Potential als über die iranische Bombe Sorgen machen sollte, ist das schon merkwürdig.
Ich war oft im Nahen Osten und habe mit vielen hochrangigen Vertretern der Golfstaaten gesprochen. Sie sind sicherlich nicht sonderlich begeistert von Israel, aber es ist der Gedanke an eine iranische Atommacht, der ihnen schlaflose Nächte bereitet. Mit dem Wissen, dass Israel seit Jahrzehnten über ein nukleares Potential verfügt, können dagegen alle ruhig schlafen. Bereits 1973 hat sich gezeigt, dass Israel nicht einmal im Jom-Kippur-Krieg, als das Land existentiell bedroht war, die Bombe eingesetzt hat. Jeder in der Region weiß, dass Israels Nuklearprogramm der Abschreckung dient, nicht der Drohung. Aber selbstverständlich ist es in Ordnung, auch diese Problematik anzusprechen: Wie kann man den Nahen Osten zu einer atomwaffenfreien Zone machen? Meine Enkelkinder leben in Israel. Glauben Sie, es macht mich glücklich, über nukleare Waffen in der Region reden zu müssen? Wenn jemand über den »Einfluss« des amerikanischen Judentums schreiben will, dann soll er das tun. Es wird die ganze Zeit gemacht, von Juden und Nichtjuden, in Israel und überall. Entscheidend ist der Kontext. Wenn man sich bestimmter Verallgemeinerungen bedient, dann bedient man damit ein Gedankengut, das sich von Verschwörungstheorien nährt. Es sind in den USA übrigens die Christen, die am stärksten für Israel eintreten. Aber wer weiß, vielleicht werden sie auch clever von den Juden manipuliert!
Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, wen Sie mit welchen Äußerungen auf die Liste setzen?
Wir geben in einer Art Momentaufnahme das wieder, was wir sehen und hören. Natürlich sagen jetzt einige Leute: »Wie kann man Augstein mit Ahmadinejad vergleichen?« Das tun wir aber gar nicht. Augstein steht für sich. Wir wollen den Antisemitismus im Mainstream der verschiedenen Gesellschaften zeigen. Zum Beispiel gab es in Frankreich einen Kleriker, der sicherlich auf unserer Liste gelandet wäre, hätten ihn die französischen Behörden nicht ausgewiesen. Präsident François Hollande, das Innenministerium, die Jüdische Gemeinde und moderate Muslime waren sich in diesem Fall einig.
Die Debatte um Augstein in Deutschland zeigt uns, dass wir einen Nerv getroffen haben. Vor zwei Jahren hörte ich, wie Hillary Clinton im State Department sagte: »Wann immer man glaubt, Antisemitismus zu verstehen, wandelt er sich.« In gewisser Weise haben wir es mit einer neuen Qualität des Judenhasses zu tun. In den dreißiger Jahren sagten die Antisemiten in Nazi-Deutschland: »Juden nach Palästina.« Nun heißt es: »Juden raus aus Palästina.« Heißt das, dass wir Kritikern Israels in Deutschland einen Maulkorb angelegen wollen? Nein, gar nicht. Wir sind keine Gedankenpolizei, aber wir verfügen über ein Wissen, wenn es um Antisemitismus geht. Dieses Wissen wollen wir weitergeben; gerade auch an die jüngeren Generationen in Deutschland, damit der Antisemitismus in Zukunft besser verstanden wird und solches Gedankengut abgewehrt werden kann.
Sehen Sie Fortschritte in dieser Debatte oder Beispiele, dass Ihre politische Aufklärung Früchte trägt?
Ja und nein. Im Zeitalter des Internet kann jeder seine Gedanken global verbreiten. Das ist zu begrüßen, aber zugleich stellt es auch eine Herausforderung dar, denn es bedeutet, dass auch der Hass sich viral verbreiten kann. Die Debatte hat damit eine neue Dimension erreicht. Ohne das Internet hätte es vielleicht noch zwei oder drei Jahre gedauert, bis wir genügend Artikel von Herrn Augstein gesammelt hätten. Vielleicht hätte er sie gar nicht mal geschrieben. Aber er ist nun mal Kolumnist bei Spiegel Online! Übrigens, ich mag den Spiegel. Er ist eine sehr wichtige Ressource für unsere Arbeit. Der Spiegel hat gerade einen wichtigen Artikel über Anne Frank veröffentlicht. Wir wollen Deutschland nicht dämonisieren, auch den Spiegel nicht. Wir möchten lediglich erreichen, dass jemand, der eine Grenze überschritten hat, für das, was er gesagt hat, auch die Verantwortung übernimmt.