War bei den Revolutionsfeierlichkeiten in Tunis

Zwischen Sharia und Generalstreik

Zwei Jahre nach der Revolution eskaliert in Tunesien der politische Konflikt zwischen islamistischen und säkularen Kräften. Das wurde auch am Tag der Revolutionsfeierlichkeiten deutlich.

Am 14. Januar, dem Tag der tunesischen Revolutionsfeierlichkeiten, liegt die Avenue Bourguiba im Zentrum von Tunis unter einem bleigrauen Himmel, es nieselt. Tausende, wenn nicht Zehntausende Menschen sind trotzdem auf der Straße. Die Polizeipräsenz ist stark. Vor genau zwei Jahren setzte sich inmitten schwerer Unruhen, die im ökonomisch vernachlässigten Landesinnern begonnen hatten, der autokratische Präsident Zine el-Abidine Ben Ali widerstrebend in ein Flugzeug, das ihn nach Saudi-Arabien brachte. Dort ist er heute noch. Von der Euphorie nach seinem Sturz ist an diesem Tag nichts zu verspüren.

Unter den Flics vor dem Hotel International macht sich Unruhe breit. Ein Demonstrationszug nähert sich auf dem breiten Mittelstreifen der Avenue. Es ist die linke Demonstration, gemeinsam organisiert von dem linken Front Populaire, der zentristischen Republikanischen Partei und al-Massar, einem Bündnis rund um die ehemalige KP Tunesiens. In der Prominentenreihe Hama Hammami, ehemals Generalsekretär der Kommunistischen Arbeiterpartei, die mittlerweile nur noch Arbeiterpartei heißt, nun Sprecher des Front Populaire, Arm in Arm mit Nejib Chebbi von der Republikanischen Partei, der sich bei den Wahlen im Oktober 2011 Hoffnungen auf das Amt des Übergangspräsidenten machte. Die Parolen der 1 000 bis 2 000 Demonstrierenden richten sich vor allem gegen die von der islamistischen Partei al-Nahda dominierte Übergangsregierung, die sogenannte Troika. Das Innenministerium am Ende der Avenue ist mit Stacheldraht abgesperrt, dahinter Polizei und Militär, auf einem Panzerwagen ist eine große rote Nationalflagge drapiert.
Ganz in der Nähe, auf dem Platz des 14. Januar, neben dem mit roten Plastikplanen verhüllten Uhrenturm (»Revolution« ist darauf geschrieben, und »17. Dezember 2010 – 14. Januar 2011«), haben sich die Salafisten und die Partei Ettahrir positioniert. Auf der Bühne predigt ein Sheikh. Hin und wieder ruft die zuhörende Menge »Allahu Akbar«. Agitiert wird für die Sharia in der Verfassung, die Polygamie, für Männer natürlich, und für die Geschlechtertrennung in den Schulen. Hier und da sieht man schwarze und weiße Salafistenflaggen. Grüppchen, die den »Ligen zum Schutz der Revolution« zuzurechnen sind und al-Nahda nahestehen, sind ebenfalls dort. Ihre im Dezember vollmundig angekündigten Platzbesetzungen in Tunis und anderswo sind ausgefallen; vielleicht gab es einfach keinen Befehl dafür von oben. Rachid al-Ghannouchi, der Vorsitzende von al-Nahda, bezeichnete die Ligen kürzlich als »Bewusstsein der Revolution«.

Eine Polizeikette sperrt die Einmündung in die Avenue Mohamed V ab, um Zusammenstöße zu vermeiden. Einige hundert Meter weiter findet der Demonstrationszug von »Nida Tounès« (Appell für Tunesien) statt, der im Sommer vergangenen Jahres gegründeten Partei von Béji Caid Essebsi, der 2011 einige Monate lang als Übergangspräsident amtierte. Nicht nur von Islamisten wird die Partei verdächtigt, als Sammelbecken für ehemalige Mitglieder der 2011 aufgelösten Staatspartei Ben Alis zu dienen; zugleich ist sie das bedeutendste politische Gegengewicht zu al-Nahda. Es ist der größte Demonstrationszug, mit einigen tausend Beteiligten. Viele tragen Plakate mit der Aufschrift »Dégage« (Hau ab), gemünzt auf die Ligen zum Schutz der Revolution. Einen Ordnerdienst, der eifrig mit Walkie-Talkies kommuniziert, hat die Partei mittlerweile auch. Nachdem im November in Tataouine ein Funktionär von »Nida Tounès« im Anschluss an eine Demonstration der Ligen gelyncht und kurz vor Weihnachten ein Treffen der Partei in Djerba von den Ligen attackiert worden war, ohne dass die Polizei dies verhindert hatte, regte Essebsi die Bildung einer Selbstschutzorganisation an.
Zurück in der Avenue Bourguiba. Vom Stadttheater her schallt Rap. »Islamistenrap«, sagt ein junger Mann verächtlich. Kurz darauf hält dort Ameur Laârayedh, Mitglied des Politbüros von al-Nahda, vor Hunderten Zuhörern eine Rede, über ihm hängt am Gebäude eine riesengroße palästinensische Flagge, teils verdeckt von der tunesischen. Ein paar Meter von Laârayedh entfernt schwenkt ein junger Typ mit Basecap eine schwarze Salafistenflagge mit goldener Borte. Morgens um neun Uhr, so berichtet Le Monde, dröhnte dort aus den Lautsprechern: »Wer ist euer Führer? Der Prophet! Was ist eure Verfassung? Der Koran!«

Ein kleiner Zug von Anhängern der Union der diplomierten Arbeitslosen,die bei den sozialen Protesten eine wichtige Rolle spielt, zieht durch die Avenue. Vor der französischen Botschaft protestieren etwa 50 Salafisten gegen die französische Militärintervention in Mali, die sich gegen die Offensive der Jihadisten richtet, die seit April vergangenen Jahres den Norden des Landes kontrollieren. Nur von den Juniorpartnern al-Nahdas in der Übergangsregierung, dem Kongress für die Republik des Übergangspräsidenten Moncef Marzouki und der sozialdemokratischen Partei Ettakatol von Mustapha Ben Jaafar, dem Vorsitzenden der verfassungsgebenden Versammlung, ist weit und breit nichts zu sehen. Beide Parteien haben einen Verlust von Abgeordneten zu verzeichnen, seit sie das Bündnis mit al-Nahda eingegangen sind.
Zwei Tage darauf kritisiert die Gewerkschaft der Kultur und der Information in einem Kommuniqué verbale und körperliche Angriffe am 14. Januar auf ihren Generalsekretär und zwei Journalisten, die die Ligen begangen hätten, deren Auflösung die Gewerkschaft fordert.
Die Ereignisse in Tunis an diesem Tag sind symptomatisch für die Situation im ganzen Land. Die politische Konfrontation zwischen islamistischen und sich säkular verstehenden Kräften ist unübersehbar. Die Wahlen werden ein ums andere Mal verschoben, ein neues Wahlgesetz existiert noch nicht. Ein Entwurf für die Verfassung, die im Oktober vorigen Jahres fertiggestellt sein sollte, wurde vorige Woche auf einem Treffen unter anderem von Verfassungsrechtlern und Anwälten scharf kritisiert: Darin sei eine indirekte Anwendung der Sharia vorgesehen, und er sei nicht mit internationalen Konventionen, die Tunesien unterzeichnet hat, vereinbar. Sprich: zu viel Sharia, zu wenig Menschenrechte. Die Justiz wird in wachsendem Ausmaß von den Islamisten funktionalisiert. Und innerhalb der regierenden Troika wachsen die Spannungen, sowohl der Kongress für die Republik als auch Ettakatol drohten bereits ihren Rückzug aus der Übergangsregierung an. Nida Tounès, die Republikanische Partei und al-Massar schlossen sich am Wochenende überraschend zu einem Bündnis zusammen – eine ernsthafte Konkurrenz zu al-Nahda im Falle von Neuwahlen, insbesondere wenn sich der Front populaire dem Bündnis anschließen sollte.
Zudem ist im Landesinnern, wo die Arbeitslosenrate unter Jugendlichen teils 50 Prozent erreicht, die soziale Lage explosiv. Immer öfters kommt es zu Generalstreiks – zumeist mit Forderungen nach Arbeitsplätzen und Investitionen in der Region. Vorige Woche setzte die Polizei Tränengas gegen eine Demonstration in der Stadt Kef, nahe der algerischen Grenze, ein, wo Protestierende das Büro von al-Nahda mit Steinen beworfen hatten. So ist zwei Jahre nach dem Sturz von Ben Ali die Bilanz der regierenden Troika negativ, die weit verbreiteten Hoffnungen auf eine bessere soziale Lage wurden enttäuscht. Aber zu einem »Tunesistan«, zu einem Durchmarsch der Islamisten, ist es auch nicht gekommen – zu groß ist der Widerstand, der ihnen entgegensteht.