Nachruf auf den Jazz-Komponisten Butch Morris

Child of his time

Er empfand sich als Kind seiner Zeit und war ihr als Künstler doch immer voraus. Zum Tod des New Yorker Jazz-Komponisten und Musikers Butch Morris.

Die Nachricht kam per E-Mail, unerwartet kam sie nicht. Butch Morris ist 65jährig am 29. Januar in New York gestorben. Ein Foto dazu: Butch mit seinem Dirigentenstab in der Hand, konzentriert und heiter. So war er in allen Lebenslagen. Nie zornig, nie zynisch, nie überheblich oder unbeteiligt. Ein Mensch, der so entschlossen und ausdauernd lebendig war, dass nur der Krebs ihn dieser Welt entreißen konnte. Er starb in einem Veteranenkrankenhaus in Brooklyn. Seine Krankheit hat eine Geschichte und der Titel dieser Geschichte könnte »Agent Orange« lauten; ein Begriff, der für das im Vietnamkrieg eingesetzte Entlaubungmittel steht und zum Synonym für das Leid der Zivilbevölkerung wie der Soldaten geworden ist. Agent Orange fand als Chiffre des Vietnamkriegs Eingang in zahlreiche Popsongs. Butch hatte diese beiden Worte Anfang Januar am Telefon sehr gefasst ausgesprochen: »Ich bin nicht traurig oder wütend«, sagte er. »Ich war Teil eines Krieges, in dem viele Menschen gestorben sind.« Von diesem Krieg und vielen anderen Dingen hat er erzählt, wenn wir abends auf einer Terrasse im Istanbuler Ausgehviertel Galata saßen, damals im Jahr 2002, als er für einige Zeit in Istanbul lebte.
Mit 18 ging er als Freiwilliger nach Vietnam und Laos. Er hatte nichts von diesem Krieg verstanden, er wollte wie viele afroamerikanische Freiwillige ein besonders guter Amerikaner sein und gutes Geld verdienen. Butch bezeichnete das immer als das Dümmste und Lehrreichste, was er in seinem Leben erlebt habe. Viel mehr sagte er nie dazu. Nach Einzelheiten habe ich nie gefragt. Wie er mit dem giftigen Herbizid in Berührung kam, weiß ich nicht. Die sogenannte Agent-Orange-Disease ist ein häufiger Befund in den USA. Sie kann verschiedene Krankheiten hervorrufen. Bei Butch war es Lungenkrebs. Einer der aggressiven Sorte. Im August 2012 war er irgendwo in Südeuropa unterwegs, dort hatte er die Diagnose erhalten. Zurück in New York, konnten ihm die Ärzte schon nicht mehr viel Hoffnung machen. Das Wachstum des Tumors konnte ein paar Monate verlangsamt werden, heilbar war er nicht. Butch schöpfte Kraft aus dem Wissen, auch mit diesem letzten Kapitel seiner Biographie ein Kind seiner Zeit zu sein. Kein Held in allen Lebenslagen, sondern jemand, der dabei gewesen war, als so viele sinnlos starben. Und bis zuletzt konnte er einen Sinn darin sehen, nun auch sterben zu müssen.
Butch Morris wurde 1947 in Kalifornien geboren und studierte am Groove Street College in Oakland. 1976 ging er gemeinsam mit Frank Lowe auf Europatournee und arbeitete mit Steve Lacy, mit Frank Wright und mit Alan Silva in Paris, wo er für ein Jahr lebte. Zurück in New York, spielte er in der Loftszene, die sich in den siebziger Jahren als Alternative zu den großen Konzerthäusern etablierte. Er war Leiter zahlreicher Ensembles in Europa und trat gelegentlich zusammen mit seinem Bruder, dem 2002 verstorbenen Bassisten Wilber Morris, auf. Und er hatte noch viel vor.
Im Dezember 2012 lag er schon im Veteranenkrankenhaus in Brooklyn, und es sah aus, als ob es zu Ende ginge. Die Medikamente schlugen nicht an. In einem Internetforum tauchte die Nachricht auf: »Butch Morris has cancer. He is in the Brooklyn Veteran Hospital.« Viele Freunde kamen mit Champagner in das Krankenhaus und wollten Abschied feiern. Das Krankenhaus fand das pietätlos und untersagte die Party-Besuche. Butch war enttäuscht, er hatte sich so darauf gefreut. Wie auf so vieles. Die Konzertreise nach Italien in diesem Jahr hatte er absagen müssen, aber er wollte noch ein letztes Mal in diesem Sommer dorthin verreisen. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Der Tod lässt sich nicht vertrösten, er kommt ohne zu fragen, was man sonst noch so vorhat. In den Nachrufen auf Morris, etwa in der New York Times und im New Yorker, wurde viel über die Bedeutung des Lawrence D. Butch Morris für die Musikwelt und den Jazz geschrieben, über seine Erkrankung, ihre Vorgeschichte und seinen Umgang damit erfuhr man dagegen nichts. Ihm aber waren diese Dinge bewusst und wichtig. Das sollte nicht vergessen werden.
Butch Morris lehrte zwischen 1998 und 2002 an der Istanbuler Bilgi-Universität im Fachbereich Musik. Das war eine Zeit, in der an den privaten Hochschulen Aufbruchstimmung herrschte, Morris aber war der einzige Künstler von Weltklasse, der die Stadt so spannend fand, dass er vier Jahre blieb. Das hatte weniger mit seinen künstlerischen Aufgaben zu tun. Mit mäßig ausgebildeten Studenten sollte er damals ein Orchester bilden. Er hatte selbst als Musiker lange Horn gespielt. Mit Jazz-Größen wie dem Saxophonisten David Murray, Frank Lowe und Jonathon Haffner spielte er in den siebziger Jahren. Er wurde stark von Künstlern wie Ornette Coleman, Cecil Taylor und Albert Ayler beeinflusst, die die Notwendigkeit von Kompositionen in Frage stellten und die improvisierte Jazz-Musik dennoch als Kunstform betrachteten. Butch Morris entwickelte schon in den achtziger Jahren das Prinzip der Konduktion und dirigierten Improvisation. Dabei koordinierte und steuerte er das Spiel der Musiker durch ein Repertoire von etwa 20 verschiedenen Handzeichen, die es ihm ermöglichten, auch improvisierte Teile durch spezielle Haltungen seines Taktstockes abzurufen. Diese Technik funktionierte damals in Istanbul nur eingeschränkt. Die Konzerte im Club Babylon lebten mehr von seiner Person als von der Stimmigkeit der musikalischen Darbietung. Butch nutzte die Zeit in Istanbul, um das Spiel lokaler Musikinterpreten zu studieren, etwa das der in der türkischen Musik einflussreichen Ney-Flötisten oder das Harfenspiel der Roma-Musiker. 2007 gab er in Istanbul ein großartiges Konzert, in dem er die unterschiedlichen Instrumente aus verschiedenen Traditionen in seine Kompositionen integrierte.
Butch nahm schweren Herzens Abschied von Istanbul. Die Stadt hatte ihm viel gegeben, aber seine Musik hatte er hier nicht wirklich realisieren können. Verstanden haben wir Istanbuler Freunde dies erst 2003 in New York. Damals spielte er mit einem New Yorker Ensemble im Bowery Club: »Butch Morris conducts New York Skyscrapers«. Es war der 10. Februar, Butchs Geburtstag. Wir alle freuten uns mehr auf die anschließende Geburtstagsparty als auf die Musik. Und wurden dennoch Zeugen einer großartigen musikalischen Darbietung. Ein kleiner Club, vielleicht 40 Musiker, Butch in der ihm eigenen bescheidenen und gleichzeitig imposanten Pose des hochkonzentrierten Maestros, brillierte zwei Stunden lang als Dirigent eines exzellenten Jazz-Orchesters, das unter seiner Kontrolle die Straßenschluchten New Yorks musikalisch durchpflügte. Ich habe Architektur in der Musik noch nie so physisch erleben dürfen. Mit geschlossenen Augen konnte jeder Zuhörer durch Manhattens Hochhausschluchten gleiten, besser als in jedem Batman-Film. Für die Musiker eine große Herausforderung, denn Butch kontrollierte zwar die Tempi und Einsätze mit seinem Dirigentenstab, doch jeder Musiker musste gleichzeitig seinen Part improvisieren. Eine Technik, die nicht von allen Kritikern verstanden wurde. Dirigierte Improvisation? Die wurde zu seinen Lebzeiten viel zu wenig gewürdigt. Große Konzertsäle blieben ihm verschlossen. Besprechungen seiner Konzerte fanden sich damals nur in der links alternativen New Yorker Zeitung Village Voice. Taylor Ho Bynum schreibt in seinem Nachruf im New Yorker: »Lawrence D. Butch Morris wurde mit Ausnahme der Liebhaber von Avantgarde-Musik wenig vom Publikum beachtet. Seine Bedeutung für die Disziplin der Jazz-Improvisation aber bleibt unbestritten.«
Es gibt Dokumentationen seiner Arbeit, die das eindrucksvoll belegen. Bereits 1998 entstand eine Komposition zum Thema »Berlin Skyskrapers« in Rahmen eines DAAD-Stipendiums in Berlin. Butch wohnte damals am Stuttgarter Platz. Er liebte die Stadt. Diese Teile seines Schaffens kenne ich noch nicht, und vielleicht ist das gut so. Es gibt noch etwas zu entdecken.