Die 63. Berlinale

Jenseits des Western

Zu den interessantesten Neuerungen bei den 63. Berliner Filmfestspielen gehört die Reihe »Native« mit Filmen des indigenen Kinos.

Berlinale, das heißt jedes Jahr: Erweiterungen, Neuerungen, Vergrößerungen. Da kann sich die Festivalleitung anlässlich der Vorstellung des diesjährigen Programms leicht selbst auf die Schippe nehmen. Zum Beispiel ist auch die Praktikantin in der Pressestelle neu, und sie hört auf den ungewöhnlichen Namen »Marlene Dietrich«. Die prekäre Berufseinsteigerin darf ans Mikro und sagt sowas wie »Ich wollte immer schon zum Film«. Na, hat ja geklappt.
Ein paar neue Spielstätten gibt es auch – eine sogar in Sendai City, einer Stadt in der japanischen Region Tohoku. Sie wurde vom Tsunami im März 2011 verwüstet, nun dient sie als Außenstation der Berlinale Sektion »Generation«. Filme werden vorgeführt, die »einen positiven Umgang mit problematischen Lebenssituationen« zeigen.
Was die Berlinale auch immer schon mal haben wollte: eine Reihe zum indigenen Kino. Titel: »Native – A Journey into Indigenous Cinema«. Das ist jetzt keine neue Sektion, aber auch nicht das Gegenteil. Die Reihe wird die nächsten Jahre über präsent bleiben.
Indigen, das meint eine Form von Kino, das bestimmte Menschen betrifft. Diese eint, dass man ihnen die Traditionen streitig macht, das Land und die Politik. Maßgeblich ist auch eine Geschichte der Kolonisation. Besonders aktiv sind die Maori, Indigene in Kanada und den USA, Inuit und Aborigines. Die Reihe zeigt 24 Kurz-, Spiel- und Dokumentarfilme aus Ozeanien, Nordamerika, der Arktis und Australien. Man will aufmerksam machen auf diese Filmkultur. »Gerade in Deutschland, dem Heimatland von Karl May, in dem Native Americans immer noch ›Indianer‹ genannt werden und in den Köpfen vieler noch in Tipis leben und Friedenspfeife rauchen, ist das Kuratieren eines solchen Programms ein besonderes Abenteuer«, sagt die Kuratorin der Reihe, Maryanne Redpath.
Besonders aktuell ist das Programm aber nicht, es soll einen Überblick liefern, über die vergangenen fünf Jahrzehnte. So verwundert es kaum, dass auch Filme laufen, die auf der Berlinale schon gezeigt wurden.
Aber klar, bei so viel Angebot Jahr für Jahr ist das kein Wunder. Es gibt mit João Viana sogar einen Regisseur, der seinen Film zweimal im diesjährigen Programm unterbracht hat: Unter dem Titel »Tabatô« im Kurzfilmprogramm. Und unter »A batalha de Tabatô« im Forum.
404 Filme werden in 922 Vorführungen gezeigt, mehr wäre drin gewesen: 6 812 Werke wurden eingereicht. Eine Neuerung, die Sinn ergäbe, gibt es aber auch dieses Jahr wieder nicht. Das Festival sollte nicht nur knapp zwei, sondern vielleicht drei Wochen dauern. Oder man macht gleich das ganze Jahr Berlinale. Alle Welt kommuniziert schließlich per Film, da wäre eine cineastische Dauereinrichtung eine gute Alternative zum Fernsehen. Öffentlich-rechtliches Kino. Viele Berlinale-Filme schaffen es ohnehin nicht in den regulären Spielbetrieb – und der Grund ist oft genug nicht, dass sie unbequem wären, sondern dass sie aus genau diesem einen Grund unbequem sind: Langeweile. Allzu viele Filmemacher vertrauen darauf, dass es reicht, die Kamera vor die Leute zu stellen und zu hoffen, Sinn und Fördergeld stellten sich schon von alleine ein.
Das Festival reagiert auf diesen Umstand: Der Unterhaltung ist der diesjährige »Talent Campus« gewidmet, wo junge Regisseure hoffentlich lernen, wie Filmemachen geht. Titel: »Some Like it Hot – Filmmakers as Entertainers«.
Jetzt könnte man sich fragen, wann denn die Verbindung zwischen Kino und Unterhaltung gerissen ist. Dazu passend gibt es eine ganze Retrospektive, an die sich der »Talent Campus« eng anlehnt. Sie heißt »The Weimar Touch« und widmet sich dem ziemlich alten deutschen Kino. Denkt man. Denn das Motto heißt ausgeschrieben: »The International Influence of Weimar Cinema after 1933«.
Das quirlige, vielseitige deutsche Vorkriegskino dient also nur als Ausgangspunkt für die Filme, die dann auch gezeigt werden. Im großen Ganzen also das US-amerikanische Kino der Exilanten, rauf bis – siehe »Talent Campus«-Motto – »Some Like it Hot« von Billy Wilder. Strengt euch an, junge Filmemacher, und macht endlich Filme, bei denen das Publikum nicht einschläft, kotzen muss oder Gehirnschrumpfung erleidet, wie das im zeitgenössischen deutschen Kino der Fall ist! Dass man einen Film-Workshop zum Thema »Gute Unterhaltung« in einem Land anbietet, dessen Kinosäle von Schweighöfer- und Schweiger-Streifen dominiert werden, lässt sich wohl nur mit den relativ stabilen politischen Verhältnissen hierzulande erklären.
Kino ist übrigens Frontalunterricht – eigentlich ja etwas unmodern. Aber vielleicht finden die Talente da ja einen Weg. 3D ist nicht unbedingt ein Zukunftsformat, das lässt der »European Film Market« (EFM), die der Berlinale angeschlossene Filmmesse, mitteilen. Die Industrie setzt kaum auf die neue Technik, und wenn, dann sind die Filme nachträglich konvertiert worden. So jedenfalls geben das Marktexpertinnen wie EFM-Chefin Beki Probst zu Protokoll. Gerade 30 3D-Filme hat sie im Angebot. Von Hunderten. Für sie ist das plastische Sehen gerade mal was »zum Aufpeppen«.
Das große Geschäft der Berlinale läuft auch ohne 3D: 19 Filme konkurrieren im Wettbewerb um den Goldenen Bären. Juliette Binoche, Catherine Deneuve, Ulrich Seidl und Nina Hoss, Gus Van Sant und Stephen Soderbergh – die üblichen Verdächtigen präsentieren sich der Jury um den Regisseur Wong Kar Wei.
Der iranische Regisseur Jafar Panahi hat es geschafft, einen Film im Wettbewerb unterzubringen, obwohl ihm das per Gerichtsbeschluss verboten worden ist. Und dreimal darfst du mit Native-Chefin Maryanne Redpath raten, was der deutsche Wettbewerbsbeitrag für einer ist: ein Western! Thomas Arslan lässt in »Gold« Nina Hoss durch Amerikas Prärie reiten. Der Plot: »Eine Gruppe deutscher Einwanderer macht sich mit Planwagen, Packpferden und wenigen Habseligkeiten auf den Weg in den hohen Norden. Mit ihrem Anführer, dem großspurigen Geschäftsmann Wilhelm Laser, wollen sie ihr Glück auf den neu entdeckten Goldfeldern in Dawson suchen.« Na, diese Synopse ist echt Karl-May-lastig. Möge die Native-Reihe die deutschen Gehirne von innen beleuchten!
Der Ehrenbär, die Auszeichnung fürs Lebenswerk, geht dieses Jahr an Claude Lanzmann. Der französische Regisseur ist vor allem durch sein Werk »Shoah« bekannt geworden. Über neun Stunden Interviews mit Überlebenden und Zeitzeugen des Holocaust. Weitere Filme sind »Pourquoi Israel« und »Tsahal«, Lanzmanns Film über die israelische Armee.
Eine digital aufgefrischte Gesamtfassung von »Shoah« wird erstmals gezeigt. Am 13. Februar kommt Lanzmann in die Deutsche Kinemathek. Mal sehen, ob das Publikum wieder in die Diskussion einschwenkt, wie viel Israelkritik Jakob-Augstein-Land denn gerade noch okay findet.
Material fürs Thema könnten auch viele Filme in den Programmsektionen Panorama und Forum geben. Israel und seine Armee kommen da meist schlecht weg: Sei es, weil sich die Soldaten gegenseitig fertigmachen, sei es, weil allzu eindeutig die Position ihrer Gegner eingenommen wird. Und auch hier ist manches neu. So präsentiert der Film »Rock the Casbah« über die Intifada einen ganz neuen Umgang mit Israels Verteidigern: Man beschmeißt sie mit Waschmaschinen.

Das Programm der Berliner Filmfestspiele: