Abdruck aus »Oh Bumerang. Stories«

Gelb wie die Sonne, die durch das Fenster scheint

Zwei Geschichten aus einem zweisprachigen Alltag.

Silentium

Ich lehne gern im Fenster. Draußen stehen zwei Bäume, die schaue ich an, dabei höre ich Debussys Jeux. Nach einer gewissen Zeit verlangt die Musik, ich soll vom Fenster weggehen und mich hierher, an meinen Tisch setzen, auf dem jetzt gerade große Unordnung herrscht. Er ist voller Bücher, ich soll nämlich meine Di­plom­arbeit schreiben. Auch auf ­meinem Bett liegen Bücher, Journale und Skripte.
Diese beiden Bäume also. Den einen beobachtete ich sechs Jahre lang zu Hause, in Connecticut, durch mein Butzenscheibenfenster. Er sah genauso aus, der Wind zerrte genauso an seinen Blättern. Dort stand er mitten in einer Wiese, hier steht er zwischen zwei verfallenen Mauern, ich sehe nur seine Spitze. Als wäre ich zu Hause, und man hätte auf der Wiese Mauern hochgezogen.
Warum schreibe ich Ungarisch? Warum strenge ich mich an, wenn es so schwer ist? Das ist die Mauer vor dem Baum. Ich kann Englisch und kann auch einigermaßen Ungarisch. Doch gibt es zwischen den beiden Sprachen keinen Verbindungsgang. Ich koche aus einem englischen Kochbuch, doch wie soll ich die Lebensmittel im Geschäft finden? Ich muss eine Liste schreiben, alle Lebensmittel im Wörterbuch suchen. Thyme, parsnip, turnip, cloves, allspice, cumin, rye flour. Ich studiere die Bilder in Betty Crockers Kochbuch. Ich beuge mich näher heran, als könnte ich so die verschiedenen Körner besser erkennen. Ich dachte, vielleicht sollte ich die glänzenden bunten Bilder aus dem Buch schneiden, die ungarische Übersetzung dazuschreiben und sie mir irgendwohin kleben, vielleicht neben mein Bett, damit ich sie immer sehe. Wie damals meine Oma und meine Mutti, als sie 1957 in Ontario Englisch gelernt haben und alle Gegenstände mit ihren aufgeklebten Bezeichnungen versahen.
Der andere Baum steht neben einem Haus. Es ist ein besetztes Haus, irgendwann mag es ein Stall gewesen sein, es ist zum Abbruch verurteilt. Ich warte auf den Abbruch und auch wieder nicht. Ich erwarte ihn, weil die Hausbesetzer laut sind, andererseits liebe ich diese Häuser. Sie erinnern mich an die Goldmachergasse in Prag. In dieser Gasse hat Kafka gewohnt, im Burgviertel. An der Burgmauer kleben die Häuschen wie Schwalbennester, sie sind freilich alle schön getüncht, allerlei Museen, Tausende Touristen, doch damals muss es so ausgesehen haben wie diese besetzten Häuser hier. Lärm, Gestank, Armut.
Gestern las ich in Kafkas Tagebuch: Ich will schreiben mit einem ständigen Zittern auf der Stirn. Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung. Alle Türen höre ich schlagen … Der Vater durchbricht die Türen meines Zimmers und zieht im nachschleppenden Schlafrock durch … Valli fragt, durch das Vorzimmer wie durch eine Pariser Gasse ins Unbestimmte rufend, ob denn des Vaters Hut schon geputzt ist … Die Wohnungstüre wird aufgeklinkt und lärmt wie aus katarrhalischem Hals … Der Vater ist weg, jetzt beginnt der zartere zerstreutere hoffnungslosere Lärm, von den Stimmen der zwei Kanarienvögel angeführt.
Hier bei uns beginnt der Wahnsinn um sechs Uhr morgens, mit dem ununterbrochenen tiefen Bellen eines Hundes. Eine Frauenstimme versucht ihn zu beruhigen. Von dieser Frau kann man zweierlei wissen: Sie ist immer sehr nervös und verbringt den Großteil ihres Lebens mit Schreien. Ich stehe auf, schließe das Fenster. Davon erwacht meine Katze, verlässt ihren Schlafplatz auf dem Bücherregal und schaut mich fragend an, wie stehen ihre Chancen, jetzt etwas zu essen zu bekommen? Ich ignoriere die Frage, lege mich wieder ins Bett. Sie schnurrt nun laut neben dem Bett, ein paar Zentimeter neben meinem Gesicht, oder sie kratzt und putzt sich, manchmal beißt sie mir in die Zehen. Ich stehe auf, klar, wie immer, und finde ihre Dose im Kühlschrank nicht. Auf dem Gang wird dann schon gebohrt, das wäre ja in Ordnung, ich vertrage anhaltende, monotone Geräusche gut. Ich lege mich wieder hin. Um sieben Uhr dreht der Nachbar sein Radio auf volle Lautstärke. Um acht ist das Zimmer so heiß, dass ich das Fenster öffnen muss. Später, um zehn herum, da sitze ich schon beim Schreibtisch, da schwärmen die Kindergartenkinder auf den Hof des Nachbarhauses aus, und, ich übertreibe nicht, sie kreischen zwei Stunden lang ununterbrochen. Als fände ein Massenschlachten statt, das dann jeden Tag um Schlag zwölf unterbrochen wird. Da bin ich schon ganz erschöpft, zum Glück folgt nun dreieinhalb Stunden lang eine relative Ruheperiode. Um drei Uhr dreißig kommt Adamchen aus der Schule nach Hause. Jetzt, da die Schule begonnen hat, geht es etwas besser, Adamchen wiederholt nämlich sonst, von Juni bis September von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends, seinen liebsten Laut tausendmal und abertausendmal auf dem Hof: dsch! Man kann das Fenster nicht aufmachen, denn die Feuermauer, die das besetzte Haus von unserem trennt, leitet das Niedermachen und Verwüsten aus Adamchens Phantasie herauf, das er mit dem Laut dsch illustriert. Jetzt muss ich diesen Laut nicht von acht Uhr morgens, sondern nur von drei Uhr dreißig an hören. Ich habe es schon mit Gehirnkontrolle nach Silva versucht, ich sagte mir vor, es interessiert mich nicht, ich höre gar nicht hin, vergeblich, nach drei Minuten schlage ich das Fenster wütend zu, vielleicht versteht er das und hört auf mit dem dsch! Mitnichten. Niemals. Mit dem Fensterzuschlagen musste ich dann aufhören, denn ein großes Stück Putz bereitet sich auf die Loslösung von der Mauer unseres einsturzgefährdeten Hauses vor, und ich fürchte, es wird Adamchen auf den Kopf fallen. Adamchen ist sehr arm, er tut mir leid, darum rufe ich nichts aus dem Fenster. Er ist Ungar, doch aus irgendwelchem Grund erzieht ihn ein vietnamesisches Ehepaar in einer der dunklen Parterrewohnungen. Ob seine Eltern mit den ­Vietnamesen abgemacht haben, sie dürfen in der Wohnung wohnen, doch dafür müssen sie Adamchen aufziehen? Er besitzt kein Spielzeug, hat nie etwas bei sich, sooft ich aus dem Fenster schaue, er geht nur im Kreis und wiederholt seinen Lieblingslaut dsch, dsch, dsch. So verbringt er die ganzen Sommerferien. Wie ich seinerzeit, auf der Feuerleiter unseres Hauses in Brooklyn hockend.
Adamchen werkt also bis circa acht Uhr abends. Manchmal spielt der ebenfalls im Erdgeschoss wohnende körperbehinderte Mann mit ihm, der vor dem Széchenyi-Bad bettelt. Letztens spielten sie das Match ZTE – Manchester nach, zu zweit, ohne Ball, gewürzt mit Unmengen von dsch. Das Allerneueste ist, dass Adamchen von irgendwoher einen Welpen bekommen hat. Jetzt hat er ein Spielzeug. Es ist semmelfarben und sehr klein, Adamchen quält ihn, aus lauter Liebe. Ab und zu unterhält er sich auch mit den Arbeitern auf dem Gang, die den umlaufenden Innengang pölzen. Wenn du ins Gefängnis kommst, wer passt dann auf dein Geld auf? Das hat er gestern einen der Arbeiter gefragt.
Wenn Adamchen einmal aus irgendeinem Grund nicht auf seinem Posten ist, sind die Musiker da. Adamchen nervt mich nur mit der eigenen Stimme, aber die Musiker, die haben Verstärker. Ihre Schicht dauert meistens zwei-, dreimal in der Woche von zehn Uhr am Vormittag bis vier. Wenn sie etwas spielten, könnte es vielleicht sogar gut sein. Aber nein, sie setzen sich nur hinaus, auf den Hof des besetzten Hauses, und stimmen sechs volle Stunden lang. Ich habe noch nie gehört, dass sie auch nur eine zusammenhängende Melodie gespielt hätten. Mein Mann behauptet, er habe schon gehört, dass sie auch Akkorde gespielt haben, während ich im anderen Zimmer hinter geschlossenen Fenstern schmolle oder in der dunklen Küche sitze und mit den Tränen kämpfe. Mikrophonproben halten sie allerdings recht oft. Drinnen erklingt Debussy, und ich höre von draußen nur: Eins, eins, eins, eins, zwei, zwei, eins, eins, eins.
Am Wochenende wäscht jeder im Haus, da gurgelt unser Küchenabfluss. Als ich meine Eltern das erste Mal zum Abendessen einlud, versuchte ich zu glänzen, alles super, aber aus der Spüle in der Küche kam die ganze Zeit ein Röcheln und Gurgeln. Wie übrigens auch jetzt. Verschließe ich das Becken, hört man es nicht so stark, nur ein dunkles Grollen aus der Tiefe, als rumore ein eingemauerter Geist. Heute habe ich noch gar nicht abgewaschen, ich musste in den Matsch hineingreifen, um den Abfluss zu verschließen. Ich spülte die Hand ab, vergeblich, sie roch weiterhin nach Topfen, vom Feta-Teller.
Ja, und die Tauben, wie konnte ich die vergessen! Die Tauben arbeiten vom Morgengrauen bis abends gegen zehn. Wenn ich mir am Morgen verschlafen die Zähne putze, quaken sie schon fleißig. Ich weiß, dass Tauben nicht quaken, sondern gurren und rucken, doch diese Tauben, die quaken, wie die Frösche. Sie ­leben im Lichthof, scheißen auf das Fenster und schlagen mit den Flügeln gegen die Mauer. Als bei uns oben auf dem Dach gebaut wurde, zerbrach ein herunterfallendes Ziegelstück unser Lichthoffenster. Wir ersetzten das Glas mit einem Stück Pappe, die Tauben fliegen gern dagegen, und weil er auch von der Zugluft hin und her gerissen wird, kündigt der Klebestreifen von Zeit zu Zeit den Dienst. Du trittst eines Morgens ins Badezimmer, in der Badewanne hockt eine Taube und rundherum Federn, als hätte jemand ein Federbett zerrissen. Das Quaken der Tauben erinnert mich daran, wie schläfrig ich bin. Ich schlage mit meinen Pantoffeln gegen den Wannenrand, damit sie erschrecken und innehalten, doch legen sie nach fünf Sekunden von vorne los. Meinen Mann stören sie nicht. Er meint, das wäre romantisch.
Vor dem Zubettgehen gibt es einige Stunden gesegnete Stille. So etwa von elf bis drei. Wunderbar. Ich setze mich endlich hin, um an der Diplomarbeit zu schreiben. Ich bin den ganzen Tag nervös gewesen, jetzt lockert das Halbdunkel alles auf. Zwischen zwei und drei lege ich mich ins Bett. Da beginnen die üblichen gemeinplatzartigen Geräusche. Wassertropfen und das Klicken der vom Zug auf- und zugemachten Zimmertür. Die Katze kratzt sich oder sucht ihren Platz, und wenn sie einmal gerade am Streunen ist, traue ich mich nicht einzuschlafen, denn sie kann jede Sekunde von außen auf die Klinke springen und damit anzeigen, dass sie angekommen ist, wir mögen sie hereinlassen. Sie kommt herein und macht sich im Vorzimmer geräuschvoll über ihr Trockenfutter her. Eine Gelse hat es trotz Fliegengitter ins Zimmer geschafft, sie singt uns die ganze Nacht ins Ohr. Wir haben doch so viele Körperteile, warum wählt sie ausgerechnet die Ohren? Wenn ich atme, reibt mein Ohrenstöpsel am Polster, das quietscht. Nach der Gesichtswäsche kommt ein Pfeifen aus meiner Nase. Ich verstopfe mir die Ohren zuerst mit meinen bequemeren, aber wenig wirksamen Stöpseln, dann wechsle ich. Von den großen, harten und klebrigen Stöpseln bildet sich in meinen Ohren ein Vakuum. Die äußeren Geräusche bleiben draußen, aber die eigenen werden verstärkt, Herzklopfen, Atmen, Nasenpfeifen. Dann entsteht irgendeine Nässe, die den Stöpsel schmelzen lässt, er fällt mir aus dem Ohr. Ich muss aufstehen, und das Ganze beginnt von vorne. Der schnurrenden Katze Frühstück geben, Hund, Frau, Tauben, Band, Adamchen usw.
Ich habe in Kafkas Haus alte Fotos gesehen: Schmutzige Kinder stehen bloßfüßig in einer schmalen, katzenkopfgepflasterten Gasse, in deren Mitte ein Rinnsal von Schmutzwasser, in den Augen der Erwachsenen hungriger Gram. Von hier, von meinem Fenster aus, sehe ich nicht auf den Hof des besetzten Hauses hinunter, doch ist es leicht möglich, dass mich derselbe Anblick erwartete wie auf diesem alten Bild. In einer Nacht heulte jemand stundenlang, ich will nicht sterben. Und gestern hörten wir sogar Schüsse. Ich wusste nicht, dass es Schüsse waren, ich trat zum Fenster, aber mein Mann ermahnte mich, von dort wegzugehen. Er hat Erfahrung in diesen Dingen. Ich legte mich bäuchlings aufs Bett. Am Morgen kamen die Nachbarn auf den umlaufenden Gang heraus. Von ihnen erfuhr ich, dass das besetzte Haus schon bald abgerissen würde, ich bin neugierig, wie es mit den beiden Bäumen weitergeht.

Der Schwarm aller Mädchen

Heute scheint die Sonne. Morgen wird sie nicht scheinen, heute scheint sie. Morgen wird der Himmel eine zusammenhängende Masse sein. Ich finde auf dem Tisch ein Barthaar meiner Katze. Sie ist noch nicht ergraut. Sie liegt auf dem Bett, eine schwarze Katze auf dem weißen Bett, mit einem weißen Schnurrbart. Ihre Augen sind gelb, gelb wie die Sonne, die durch das Fenster scheint.
Ich habe meinen Arbeitgeber getroffen. Ein ­alter Herr. Wir setzten uns in das französische Restaurant auf dem Andrássy-Boulevard. Jetzt bin ich wach und glücklich. Morgen werde ich die Augen nicht aufkriegen, es ist viertel sechs am Abend, ich trinke Kaffee aus meinem Lieblingsbecher und finde das Katzenbarthaar. Ich versuche, es in den Papierkorb zu werfen. Er steht zwei Meter von meinem Tisch. Das Haar fällt zu Boden. Ich zwitscherte dem alten Herrn etwas vor, wir sprachen über alles Mög­liche, nur nicht darüber, dass dies ein Business Lunch ist. Das Restaurant war leer, er bestellte sich ein Menü, ich aber Pasta. Pasta ist meine Lieblingsspeise. Er fragte, was wohl eine gefüllte Kalbsbrust sei. Weil er sich das bestellt hatte. Er ist zwar in Ungarn geboren, doch lebt er schon seit langem nicht mehr hier. Ich dachte mir, die gefüllte Kalbsbrust sei Faschiertes aus purem Schmalz, von Bowlingkugelgröße. Heute frühstückte ich ein Spiegelei, in einer trockenen Semmel. Die Katze schaute auf: Na und, was ist mit mir?
Ich freute mich, dass wir dieses Restaurant gewählt hatten, wenn auch die Kellner ekelhaft waren. Der alte Herr kostete meine Pasta, aber das ist doch kalt, oder? Dabei war die Temperatur in Ordnung. Allerdings war sie fett. Das gefüllte Bauchfleisch wurde mit Kartoffelpürreeeh gebracht. Pürreeeh, so sagte die Oma immer. Herr Gyuszi aber sagte, duzen wir einander, lassen wir diesen Blödsinn, in Australien habe ich es ganz vergessen. So war es auch für mich besser, das versetzte mich in einen enkelkindartigen Status, ich sagte aber, er müsse sich mit dem Siezen auskennen, gebe es im Englischen doch nur dieses, denn das Duzen sei das thee und das thy gewesen, während das you das Siezen war, haha. Heute will ich das kleine Keksstück essen, das sie zur Melange dazugegeben haben. Lotus, Original Caramelised Biscuit, das steht drauf. Dieses Restaurant hätte ich mir nie leisten können. Ich hatte es vorgeschlagen. Ich reiße mit den Zähnen das dicke Zellophan durch und beiße in den Keks, die Hälfte bleibt im Zellophan stecken. Wie eine kleine Maus, so esse ich den Keks. So hält das Erlebnis länger an. Das Erlebnis des Restaurants und des Kekses. Wenn ich den Keks gegessen habe, ist auch das Erlebnis des Restaurants zu Ende. Nur beinahe, weil ich mir auch drei Päckchen Zucker vom Kaffee weggelegt habe. Das vierte zerknitterte ich zwischen den Fingern, während Herr Gyuszi erzählte. Er schaute beim Fenster hinaus. Seine Augen waren gelb, wie die meiner Katze, mit kleinen schwarzen Punkten. Er erzählte so, wie das in der Schauspielschule unterrichtet wird: Wie spricht man einen Monolog, damit er natürlich wirkt. Du musst sehen, worüber du sprichst. Das Restaurant füllte sich, und ich hörte kaum noch, was er sagte. Ich roch nach Knoblauch. Als ich Herrn Gyuszi verraten hatte, wie sehr ich Knoblauch mag, sagte er, ich sollte in Thailand leben, dort stehe er auf jedem Tisch, und er bestellte beim Kellner auch gleich Knoblauch. Wir aßen dann gute fünf Zehen, jeder von uns. Als röchen auch meine Kleider danach. Ich würde Bauchschmerzen bekommen, aber ich musste essen, um nicht als Aufschneiderin zu gelten. Und ich habe dann auch alle verdrückt. Nachdem wir zu Mittag gegessen hatten, sagte er, er würde meine Arbeit gern im Voraus zahlen. Jetzt gleich. Wenn ich Zeit hätte, mit ihm in die Bank zu gehen. Freilich, warum nicht, ich hatte Zeit.
Heute freue ich mich nicht mehr so über das Geld, und auch dort freute ich mich nur einige Minuten lang, als er mir die rosafarbenen Zwanzigtausender in die Hand drückte. Dann rannte ich wie verrückt in eine andere Bank, denn das Gesicht eines Menschen verändert sich, wenn er viel Geld bei sich hat. Jeder kann sehen, dass deine Tasche voller Geld ist. Das ist ein Gefühl, wie wenn ich im Minirock und ohne Slip auf der Straße gehe. Ich habe den Keks gegessen, jetzt ziehe ich mir den Rollkragen meines grauen Pullis bis an die Nase hoch, weil es mich friert. Meine Haare sind nass, ich rieche den Duft des Parfums, das ich mir von einem Bruchteil des Geldes gekauft habe. Ich bleibe tagsüber immer wieder stehen, ziehe den Pulli hoch und rieche am Duft des abgestandenen Parfums, das gehört zu den besten Dingen der Welt. Dieser Duft gilt mir allein. Das frische Parfum nämlich, das gehört allen, dem Taxifahrer, zu dem du am Abend ins Auto steigst, deiner Freundin, die du im Café Central triffst, und der älteren Dame am Nebentisch. Und ihr Parfum gehört euch und dem Kellner. Die älteren Damen haben immer Nina Ricci. Mein Duft ist Noa. Dieser Duft, den ich heute habe, gehört allen, doch morgen wird er nur mir gehören. Am Rollkragen meines Pullis. Das sinnliche Ich. Ich gefalle mir selbst.
Unterwegs zur Bank hielten wir bei einem Laden mit Bleikristallglas an. Es war Herrn Gyuszis Vorschlag, hineinzuschauen, weil er sah, dass ich ins Schaufenster blickte. Wir gingen hinein. Es war ein sehr exklusives Geschäft, drinnen war niemand außer einer wunderschönen Verkäuferin, parfümiert für jeden, und ein Verkäufer mit Anzug. Ich trat zu den Moser-Gläsern, inzwischen stellte sich Herr Gyuszi ­zeremoniell vor. Ist das so üblich in Australien? Der Herr im Anzug war Deutscher, Herbert Irgendwer, wir wechselten ins Deutsche. Moser-Gläser sind meine Leidenschaft. Ich sah mir auch die anderen Bleikristallgläser an, auch wenn sie mich nicht besonders interessierten. Herr Gyuszi starrte durch die Auslage auf die Straße hinaus. Ich dankte Herbert für die Hilfe und wir gingen. Herr Gyuszi gestand mir draußen, dass sein Interesse für Bleikristallglas bald nachlässt, und ich verstand das. Im Übrigen hat mein Interesse auch schnell abgenommen, als ich sah, dass ein Set Moser-Gläser, sechs Stück, 100 000 Forint kostet.
Ich muss auf Herrn Gyuszi achtgeben, dachte ich unterwegs zur Bank. Die Autos kommen, man kann nicht nur einfach so über die Fahrbahn gehen. Wir gingen nicht durch den Haupteingang hinein, sondern von hinten. Private Banking. Wir stiegen eine Marmortreppe hinauf, der Handlauf war aus unbehandeltem Holz, glänzend poliert und mit einer Vertiefung in der Mitte, aber wozu? Rinnt das Wasser hier ab, wenn es regnet? Oder rutschen hier die Sekretärinnen nach der Arbeit hinunter? Ja, ihr zwanzigjähriger kleiner Popo passt gerade in die Vertiefung, so können sie besser rutschen. Ich dachte, ich setze mich ins Foyer, schließlich ist das eine Privatsache, eine Banktransaktion. Aber Herr Gyuszi lud mich ein, ich solle doch mit ihm hineingehen. Eine Frau erschien, ihre Haarfarbe erinnerte an gefallenes Laub, Krisztina hat einen Kunden, sagte sie und führte uns in ein Besprechungszimmer. Ich sah ihr an, dass sie Herrn Gyuszi nicht ernst nahm. Er stellte seine Plastik-Einkaufstasche ab, nahm die flache kleine amerikanische Golfkappe vom Kopf, zog die Hosenbeine hoch, damit sie nicht von seinen Knien ausgebeult werden, und setzte sich nieder. Seine Ringelsocken waren ihm unter die Knöchel gerutscht, der Gummizug hatte nachgegeben. Er gab mir ein Zeichen, mich auch hinzusetzen. Die Frau schwankte vor uns in ihren Stilettos. Herr Gyuszi mochte wirklich komisch aussehen, aber der lachsfarbene Pullover der Frau war total fusselig, also weiß ich wirklich nicht, warum sie Gesichter schnitt. Wie kann ich Ihnen behilflich sein? fragte sie. Und dann holte Herr Gyuszi einen ausgeschnittenen Zeitungsartikel hervor und reichte ihn triumphierend der Frau: Was sagen Sie dazu? Die Frau nahm die Zeitung irritiert in die Hand, wie Frauen mit künstlichen Nägeln etwas entgegennehmen, vorsichtig, aber doch irgendwie drohend. Sie hob den Fetzen vor die Augen, ihre Miene sagte: »Muss ich denn das jetzt wirklich lesen?« Während sie tat, als läse sie, sah sich Herr Gyuszi um und sagte, ich werde immer ins Nackte Zimmer geführt. Erst da wurde mir bewusst, dass die Wand voll war mit Bildern nackter Frauen. Das Telefon der laubhaarigen Frau klingelte, sie legte den Zeitungs­artikel auf den Mahagonitisch und ging ab. Ich schälte einige Lagen Gewand von mir ab und fragte Herrn Gyuszi, ob er antike Möbel mag. Das Besprechungszimmer war mit Empire­möbeln eingerichtet, mit Ausnahme eines Ikea-Papierkorbs, der hinter der Tür in der Ecke stand. Ich habe den gleichen zu Hause. Ich werfe die Barthaare der Katze dort hinein. Oder ich versuche es zumindest.
Herr Gyuszi stand auf, um die Graphiken und Gemälde zu betrachten. Ich habe in meinem Leben nichts Grauslicheres gesehen, sagte er. Richtig, das Mädchen auf dem Bild könnte nicht im Werbespot der Creme von Garnier Lift gegen Orangenhaut auftreten, der später dann im Fernsehen lief. Die Katze würde auf meinem Schoß sitzen, von der Orangenhaut-Werbung verschreckt, könnte ich keine Kniebeugen machen. Seit zwei Wochen habe ich keine Übungen gemacht. Das sind Graphiken von Béla Czóbel, sagte ich Herrn Gyuszi, Czóbel ist sehr berühmt. Ich wusste, dass es Bilder von Czóbel waren, denn am Vortag hatte die Ärztin meine Kontaktlinsen um 0,25 Dioptrien verstärkt, ich konnte nun die kleine Kupferplatte unter dem Bild aus einigen Metern Entfernung lesen. Heute tat mir die Verstärkung schon leid, ich hatte den ganzen Tag Kopfschmerzen. Ich nahm die Kontaktlinsen heraus. Man muss nicht alles sehen. Die Laubfarbene kam zurück, mit einem Formular in der Hand. Fast hätte ich sie aufgefordert, doch etwas netter zu sein, schließlich ist das ihr Job. Ich wollte Herrn Gyuszi beschützen. Herr Gyuszi bat die Frau, Geld von seinem Konto abzubuchen und von irgendwo irgendetwas zu überweisen. Ich hörte alles. Die Millionen sind nur so herumgeflogen. Die Frau füllte das Formular aus und entfernte sich. Sie würde gleich wiederkommen. Sie könnte ein bisschen freundlicher sein, sagte ich. Ja. Ich muss diese Stufen heraufklettern, sie sind nicht einmal nett, und für das alles zahle ich jährlich Zweihunderttausend. Bei der offenen Tür schaute Krisztina herein, die Sachbearbeiterin von Herrn Gyuszi. Ein lächelndes Gesicht. Die Haare gewellt, federnd. Sie grüßten einander, Krisztina versprach, gleich zu kommen, sie würde nur noch einen Kunden hinausgeleiten.
Herr Gyuszi bat mich, sein Telefon einzustellen. Die Uhr, denn sie ging eine Viertelstunde nach. Ich sagte okay und begann die Knöpfe zu bearbeiten. So ein Samsung war mir bisher noch nie untergekommen. Ich löschte versehentlich gleich einen Namen aus Herrn Gyuszis Telefonbuch. Die Laubhaarige kam zurück, sie teilte uns mit, uns nun in den Schalterraum begleiten zu wollen. Herr Gyuszi sagte, wir können uns selbst begleiten, doch sie behauptete, wir würden hier ohne sie nicht hinauskommen. Gut, sagte ich, gleich, ich muss nur noch etwas einstellen. Und ich drückte weiter an den Knöpfen herum. Und sie warteten. Ich war trotzig, gab nicht nach. Herr Gyuszi war gefasst, er verstand, warum ich das machte.
Dann zogen wir uns an und gingen hinaus. Ich ging als Letzte und ließ den Artikel vom Tisch unbemerkt in meine Tasche gleiten. Jetzt waren wir schon in der richtigen Bank, unter »Zivilisten«. Die Blattfrau bugsierte Herrn Gyuszi zu einem Schalter und verschwand. Ich saß auf einem Stuhl und schaute ins Leere. Herr Gyuszi zählte das Geld in meine Hand ab, es war weniger als versprochen. Mein Herz krampfte sich zusammen, doch ich hatte ja noch gar nichts geleistet. Warum sollte er mir die ganze Summe geben? Herr Gyuszi zählte das Geld, das ihm in der Hand geblieben war. Ich blickte auf den Plüschteppich. Kreise und Dreiecke, unendliche Serien. Die Op-Art machte mich schielen, sie machte mich schwindlig. Herr Gyuszi bemerkte, dass er mir zu wenig gegeben hatte, und drückte mir noch einen Zwanzigtausender in die Hand, ich solle das Geld zählen. Ich versuchte es, doch verlor ich vor lauter Freude den Faden. Ich steckte das Geld in ein Buch und das Buch in meine Tasche, sollte mir die Geldbörse gestohlen werden, würde ich das Geld doch noch haben. Taschendiebe stehlen keine Bücher, sagte mir meine Logik. Wir verließen die Bank, Herr Gyuszi ging nach Hause, und ich in den Skála-Laden bei der Metro, in die andere Richtung. Herr Gyuszi schien bekümmert und erschrocken. Heute war auch ich erschrocken, als ich das Päckchen öffnete, das mir der Postbote in den dritten Stock heraufgebracht hatte. Ich treffe Herrn Gyuszi nicht mehr, übermorgen fährt er ab. Er zählte mir das Geld in die Hand ab und zog los. Ohne Rechnung, ohne Übernahmsbestätigung.
Ich gab dem Postboten 100 Forint. Seitdem er Geld bekommt, bringt er Pakete und Einschreibebriefe herauf. Auf dem Päckchen stand kein Absender, ich wusste nicht, wer es abgeschickt hatte. Darin war eine wunderschöne orientalische Bluse. Mir fielen die Geschichten über vergiftete Kleider ein, das Hemd des Nessos und Queen Elisabeth. Wer mag das geschickt haben? Ich rief meine Mutter an, sie wusste, dass es von Herrn Gyuszi gekommen war. Sie hatte Recht, Herr Gyuszi rief mich am Abend vom Flughafen an, es sei Thai-Seide, er sei der Absender gewesen und ich solle beim Bügeln aufpassen. Eine schöne Bluse, ich trage sie auch jetzt. Das Kätzchen sitzt vor der Heizung, wie eine winzige, haarige Sphinx. Mir fällt der Artikel ein. Ich hole ihn aus der Tasche und lese. »Die Arawaken waren die Urbewohner der Dominikanischen Republik. Sie schlugen die Schädel der Kinder noch im Säuglingsalter mit ihren Steinäxten ein. Sie schlugen so lange auf den noch weichen Schädel ein, bis das Stirnbein der Jungen tiefer zu liegen kam als die Achse der Augen. So konnten die Jungen nach oben blicken, ohne dabei den Kopf zu bewegen. Daher konnten sie recht viele bunte Riesenpapageien erlegen. Wer aber die meisten bunten Federn gesammelt hat, war der Schwarm aller Mädchen.«

Ildikó Noémi Nagy wurde 1975 als Kind einer ungarisch-amerikanischen Familie im kanadischen Vancouver geboren, ist in Connecticut und New York aufgewachsen, hat in Budapest studiert und lebt dort als Übersetzerin. Ihre Prosastücke schreibt sie auf Ungarisch. Der Band, aus dem die vorliegenden Erzählungen stammen, ist die erste Übersetzung ihrer Texte ins Deutsche.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Ildikó Noémi Nagy: Oh Bumerang. Stories. Aus dem Ungarischen von György Buda. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2013, 128 Seiten, 17,90 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.