Der Golem

Die Uneingeweihten sehen in ihr das Sinnbild einer Sozialdemokratie, die zur Geste erstarrt ist, zum Fotomotiv: die Brandt-Skulptur in der SPD-Zentrale. Doch ähnelt sie nicht auch dem Golem? Die Erschaffung künstlicher Menschen aus Erde ist in der kabbalistischen Tradition ultimativer Ausweis spiritueller Reinheit, der eigenen Nähe zum Göttlichen: Das Wunder ist nicht das Produkt, sondern der geistige Prozess, der zu ihm führt, und der redliche Kabbalist löscht das Leben, das er erschaffen hat, direkt nach der Herstellung wieder aus, um die Schöpfung nicht zu sehr durcheinanderzuwirbeln. Ähnliche Beweiskraft hat auch der »Willy«: Wir haben es geschafft, wir haben echtes sozialdemokratisches Leben erzeugt! Und wie der Prager Rabbi seine Kreatur nach dem Schöpfungsakt letztlich untätig im Dachboden ruhen ließ, steht nun der Willy – erledigt und antriebslos, Trophäe vergangener Leistungen. Wenn sie sich unter ihm versammeln, dann wie Großwildjäger, die ein seltenes Exemplar zur Strecke gebracht haben: Die Bestie ist besiegt, doch in ihrer erloschenen Gewalt haben wir den Beweis unserer eigenen Stärke! Und glimmt nicht in diesen zombiehaften Zügen, in dieser völligen politischen Verwesung ein Funke unnatürlicher Vitalität? Dem Golem musste nur der shem, der Gottesname eingesetzt werden, und schon vertilgte er wieder unermüdlich die Unterdrücker. Darin liegt auch Willys Drohung und Versprechen: Wir können auch anders, wir sind die gebändigte Katastrophe! Wirf mir nur den richtigen Programmentwurf ein oder ein Zwei-Euro-Stück, und schon gehe ich hin und wandle, zerreiße den Oskar in der Luft, verschlinge Kommunisten und lege den Putin an die Kette, mit zentnerschweren Ostverträgen. Gut, dass wir den toten Willy haben!

Leo Fischer ist Chefredakteur des Satiremagazins Titanic.