Rolf Haubl im Gespräch über die Räumung des »Instituts für Vergleichende Irrelevanz«

»Es braucht autonome Räume«

Am 16. Februar besetzten Schüler, Schülerinnen und Studierende das vorübergehend leerstehende Gebäude des Sigmund-Freud-Instituts (SFI) in Frankfurt. Die Besetzung war eine Reaktion auf das kurz zuvor ergangene Urteil des Landgerichts, das eine sofortige Räumung des besetzten »Instituts für vergleichende Irrelevanz« ermöglichte (Jungle World 8/2013). Überraschend war vor allem die Reaktion des Direktors des SFI. Anstatt die Polizei zu rufen, verhandelte er mit den Besetzern über eine Zwischennutzung. Zwei Tage später kam es dennoch zur Räumung. Die Jungle World sprach mit Rolf Haubl, dem geschäftsführenden Direktor des SFI und Professor für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie, über den Umgang mit den Besetzern und die Entwicklung der Psychoanalyse am Institut.

Das Gebäude, das Ihr Institut normalerweise nutzt, wird derzeit renoviert. Wie haben Sie erfahren, dass es besetzt worden ist?
Eine halbe Stunde bevor die Polizei mich angerufen hat, saß ich mit Studierenden, die an der Aktion beteiligt waren, in einer Veranstaltung zum Thema »Zukunft der psychoanalytischen Sozialpsychologie«. Eine verblüffende Koinzidenz der Ereignisse: Wir hatten gerade über ähnliche Themen diskutiert, die dann später durch diese Aktion thematisiert wurden. Einige der Studierenden standen auf und meinten, sie müssten jetzt einmal reale Politik machen (lacht). Sie kamen wieder und haben mitgeteilt, dass das Gebäude besetzt wurde. Ich habe mich dann auf den Weg dorthin gemacht.
Sie haben sich entschieden, mit den Besetzerinnen und Besetzern zu verhandeln. Wie verliefen diese Verhandlungen?
Ich finde das Wort »Besetzer« problematisch. Zu meinem Verständnis des Begriffs, und ich glaube auch zum juristischen, gehört, dass das Haus nicht mehr verlassen, dort gewohnt und sich verbarrikadiert wird – das war zu keinem Zeitpunkt der Fall. Insofern gehe ich nicht davon aus, dass es eine Besetzung war. Was der richtige Ausdruck wäre, vermag ich im Moment nicht zu sagen. Man könnte etwas ironisch von einer Zwischennutzung sprechen, obwohl es als Besetzung angekündigt war. Eine interessante Erfahrung war, dass die Polizei am Telefon als Erstes gefragt hat, ob ich dort alleine hingehen möchte. Die Polizei schien davon auszugehen, dass dort lauter gewaltbereite Menschen sitzen und ich Gefahr laufe, verprügelt zu werden. Für jemanden, der von der Psychoanalyse kommt, ist es natürlich interessant, dass sofort mit Paranoia reagiert wurde. Als ich mir die Situation angeschaut habe, war ich relativ beruhigt. Die Studierenden wollten die Örtlichkeit nutzen, um etwas wie einen alternativen Seminarbetrieb aufzuziehen. Ich habe dann, unter der Voraussetzung einer gemeinsamen Hausordnung, eine Duldung bis zum Ende der Woche ausgesprochen.
Am folgenden Montagnachmittag stand dann doch die Polizei vor dem Institutsgebäude. Wie ist es dazu gekommen?
Die Rücknahme der Duldung erfolgte letztlich, weil wir nicht garantieren konnten, dass nichts passiert. Ich habe immer dafür plädiert, vom best case, nicht vom worst case auszugehen.
Es gibt die Vermutung, dass es Einflussnahme von Seiten der Landesregierung gab.
Das würde ich ungern kommentieren. Ich sage es einmal so: Wenn es nur nach uns gegangen wäre, hätten wir die Duldung aufrechterhalten.
Sie haben einen Hörsaal als Ersatz zur Verfügung gestellt. Worin bestehen aus psychoanalytischer Sicht die Potentiale selbstorganisierten Lernens?
Ich teile das Anliegen der Studierenden, dass es so etwas braucht wie autonome Räume und sogar eine Universität, die Geld dafür zur Verfügung stellt. Die Zahl solcher Räume ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Wir wissen aus Untersuchungen, dass die psychischen Belastungen bei Studierenden sehr hoch sind. Die Bachelor- und Masterstudiengänge haben zu einer Beschleunigung geführt, die für viele eine Überforderung darstellt. Solche Räume sind nicht nur inhaltlich hilfreich, sondern tragen auch dazu bei, sich über diese Belastungen klarzuwerden und sie selbstorganisiert zu reduzieren.
Die Besetzerinnen und Besetzer haben von Anfang an von einer Besetzung gesprochen, die »solidarisch« mit dem SFI sei. In einer der ersten Stellungnahmen heißt es, dass die Psychoanalyse, wie die Kritische Theorie, immer weiter in die »gesellschaftliche Irrelevanz« gedrängt werde. Wie sehen Sie das?
Persönlich und als Hochschullehrer, der sich der Kritischen Theorie verbunden fühlt, muss ich sagen: Da spielt eine ganze Menge Idealisierung mit. Da wird so getan, als habe es einmal glorreiche Zeiten gegeben, in denen Kritische Theorie und kritische Psychoanalyse den Raum beherrscht haben. Aber das gab es historisch so nie. Das waren immer Minderheitenpositionen. Was ich persönlich wichtig finde, ist die Frage, was hier und heute eigentlich Kritik heißt. Am SFI gehen wir davon aus, dass unsere Forschung zur Depression einen doppelten Schwerpunkt hat: einerseits die Verbesserung der klinischen Behandlungsmethoden, andererseits die Frage, was an den gesellschaftlichen Verhältnissen depressiv macht. Damit verstehen wir unsere Forschung zur Depression in der modernen Gesellschaft, der spätbürgerlichen Gesellschaft, dem Kapitalismus, als kritische Angelegenheit. Wir kritisieren kapitalistische Verhältnisse aus der Perspektive der psychischen Erkrankungen, auf die wir treffen.
Es wurde aber auch Kritik an den Entwicklungen innerhalb der Psychoanalyse selbst formuliert. Viele vermissen den gesellschaftstheoretischen Blick und kritisieren Zugeständnisse an den psychologischen Mainstream und an ein naturwissenschaftliches Wissenschaftsverständnis. Wie schätzen Sie das ein?
Das sind große Fragen (lacht). Das SFI existiert nicht auf einer Insel. Wir sind auf Drittmittel angewiesen, woraus sich ein permanenter Rechtfertigungsdruck ergibt. Für bestimmte Themen gibt es einfach kein Geld. Die Kritiker sagen, wir hätten uns an die Neurowissenschaften verkauft und dem quantitativen Mainstream angepasst. Das mag von außen so erscheinen. Wir leben aber in einer Zeit, in der Behandlungen an Effektivitätsnachweise gebunden sind. Wenn die Psychoanalyse als Behandlungsmethode nicht verschwinden soll, müssen Studien diese Effekte nachweisen. Damit sitzt man in einer Falle: Diese Nachweise widersprechen zum Teil der genuinen klinischen Psychoanalyse. Sich dieser Tendenz zu verweigern, würde die Psychoanalyse aber stark gefährden. Wir versuchen also die Quadratur des Kreises: einerseits die Tradition nicht verschwinden zu lassen, andererseits aber die Existenzgrundlage nicht zu riskieren, indem wir uns aus dem Diskurs ausklinken.
Durch Besetzungen – die des SFI war ja nicht die einzige in den vergangenen Wochen in Frankfurt – wird auch deutlich, dass es ein Bedürfnis nach autonomen Räumen gibt. Die »Unwirtlichkeit unserer Städte« wurde 1965 von Alexander Mitscherlich prominent an ­Ihrem Institut diskutiert. Ist das auch heute noch ein Thema für die Psychoanalyse?
Das Thema ist überhaupt nicht verschwunden. Vor kurzem habe ich einen Vortrag gehalten zur Frage »Machen Großstädte psychisch krank?« Die Psychoanalyse hat die Tendenz, die gebaute Umwelt eher gering zu gewichten. Meine Themen wie »Arbeit und Psyche« oder »Stadt und psychische Gesundheit« sind keine klassischen Themen der Psychoanalyse. Die Kliniker sehen die einzelnen Personen und haben mit ihren Modellen, die nach der Herausbildung von Konflikten aus der Kindheit fragen, einen Blick auf Menschen, der ausblendet, dass diese Menschen von materiellen Bedingungen abhängig sind. Vor vier Jahren haben wir versucht, ein großes Projekt zum Thema Schularchitektur an Land zu ziehen. Da war die Wahrnehmung, dass die Schulen, die heute gebaut werden, eine Katastrophe sind. Man müsste dafür sensibilisieren, dass Kinder in der Schule, in ihrer Lernfähigkeit und ihrem Wohlbefinden auch von der Architektur beeinflusst werden. Für das Projekt gab es aber kein Geld. Was von Mitscherlich in diesem Punkt geblieben ist, ist die Vorstellung einer Stadt mit einer, heute würde man sagen, hohen diversity rate. Wo Menschen miteinander, nicht nebeneinander und auch nicht gegeneinander leben. Wo sie einen lebenswerten Raum haben, der nicht in erster Linie aus Konsummeilen besteht – das waren ja auch seine Argumente. Jeder sogenannte soziale Brennpunkt würde Mitscherlich beschämen. Eine Stadt zu entwickeln, die so etwas nicht hat, war das Ziel. Zu seinen großen Leistungen gehört es, nicht nur geschrieben, sondern sich auch in die Stadtplanung eingemischt zu haben. Persönlich teile ich das, was er wollte, nach wie vor: dass wir Städte brauchen, die nicht ausschließen. Aber wie die zu realisieren sind? Das hätte sich Mitscherlich, glaube ich, auch einfacher vorgestellt.