Ein Frauenprojekt aus Clichy-sous-Bois zu Besuch bei den »Stadteilmüttern« in Berlin-Neukölln

Frauentausch mal anders

In einem vom Institut für Migrations- und Sicherheitsstudien organisierten Fachkräfteaustausch treffen die »Stadtteilmütter« aus dem Berliner Bezirk Neukölln auf ein Sozialprojekt von Frauen aus dem französischen Clichy-sous-Bois, einem Vorort von Paris. Beide Bezirke gelten als »Problemviertel«. Zu den Herausforderungen der Kooperation gehörten nicht nur die sprachlichen Übersetzungsleistungen.

Mit 16 Jahren wurde Zekiye von ihrer Mutter beim Rauchen erwischt. Abends musste sie mit ihrem Vater beim çay darüber reden. Zur Verwunderung der Mutter schob er seiner Tochter die Zigaretten über den Tisch zu. Das sei zwar schlecht für ihre Gesundheit und Geldverschwendung, aber als Raucher könne er es ihr ja nicht verbieten, meinte er. Nun hat Zekiye drei Kinder, ist Anfang 30 und Nichtraucherin. Ohne das Verbot sei der Reiz am Rauchen verlorengegangen: »Damals hab ich gelernt, wie ich das mit den Kindern besprechen muss: nicht über Verbote«, sagt sie. Zekiyes ältester Sohn ist zwölf. Heute redet sie mit einer der »Stadtteilmütter« aus Neukölln über die sexuelle Entwicklung ihrer Kinder, über Markendeodorants, übermäßiges Duschen, den Schutz vor Pädophilen und das richtige Verhältnis zwischen Kontrolle und Vertrauen. Sie will es richtig machen wie damals ihr Vater, deswegen findet sie das Angebot der »Stadtteilmütter« hilfreich. Fast 7 000 Familien hat das unter anderem vom Diakonischen Werk, dem Berliner Senat und dem Bezirksamt Neukölln getragene Integrationsprojekt seit 2007 erreicht. Jetzt haben die »Stadtteilmütter« Besuch aus Frankreich.
Mitglieder der Stadtteilinitiativen aus Clichy-sous-Bois und Neukölln treffen sich seit mehr als drei Jahren. Die beiden sehr unterschiedlichen Bezirke wurden ungefähr zur gleichen Zeit durch Negativschlagzeilen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt: Im Oktober 2005 kam es nach dem Tod zweier Jugendlicher auf der Flucht vor der Polizei zu Unruhen in Clichy-sous-Bois, die sich schnell auf andere französische Städte ausbreiteten. In Deutschland schaffte der »Brandbrief« der Rütli-Schule Anfang 2006 Bewusstsein für die Probleme in Nord-Neukölln. Bereits vor den Ausschreitungen in Frankreich war die Idee eines Fachkräfteaustauschs entstanden, die von 2010 bis 2012 zum Pilotprojekt »Clichy-sous-Bois trifft Neukölln« des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) und seiner Partner führte. In dessen Folge gibt es nun eine »Begegnung von Multiplikatorinnen der Familiensozialarbeit«. Jüngst wurde das 50jährige Jubiläum der Élysée-Verträge ausgiebig gefeiert und gewürdigt. Zu den Aufgaben des DFJW gehört, sich angesichts des nicht mehr ganz so feindseligen Verhältnisses zwischen Deutschland und Frankreich heute auch anderen Aufgaben und Zielgruppen als bisher zu stellen. Integration und Chancengleichheit werden dabei als entscheidend für die Zukunft beider Länder angesehen, wie auch Dr. Eva Sabine Kuntz, eine ehemalige Generalsekretärin des DFJW, 2010 in Clichy-sous-Bois zum Auftakt des Fachkräfteaustauschs betonte.

Einige »Stadtteilmütter« haben sich mit ihren französischen Besucherinnen vom Verein Arifa im »Elternanker« getroffen. In der Beratungsstelle für Eltern in der Neuköllner Regenbogen-Schule arbeitet auch Zekiye ehrenamtlich. Die médiatrices (Vermittlerinnen) von Arifa sollen bei Gesprächen mit Müttern wie Zekiye dabei sein und so die Arbeit der »Stadtteilmütter« erleben. Diese beschreibt Maria Macher, Projektleiterin bei der Diakonie, so: »Eltern stärken, damit sie ihre erzieherischen Kompetenzen besser nutzen können.« Dafür werden bei zehn Hausbesuchen zehn Themen mit Neuköllner Müttern in den Bereichen Erziehung, Gesundheit, Schule und Familie bearbeitet, nach Möglichkeit in der jeweiligen Muttersprache. Am Anfang sind auch manchmal die Väter dabei, die aber schnell das Interesse verlieren, erzählt Macher. Zekiye ist gerade nicht da, würde dem aber wohl zustimmen. Kurz zuvor hat sie darauf hingewiesen, dass Männer diese Art von Arbeit, bei der man über Sachen nur redet, nicht ernst nähmen. »Merkel und Hollande reden doch auch nur, wenn sie sich treffen«, wurde ihr da entgegnet.
Am Tag zuvor besuchte die Delegation von Arifa eine Teamsitzung der »Stadtteilmütter«, beide Gruppen erläuterten dort ihre Konzepte. »Arifa hört zu, die Stadtteilmütter reden«, fasst eine Teilnehmerin die unterschiedlichen Herangehensweisen knapp und treffend zusammen. In Clichy-sous-Bois gibt es drei Anlaufstellen von Arifa, ihre Mitglieder hören sich zunächst die Probleme der Ratsuchenden an. Es ist wichtig, dass diese sich verstanden fühlen. Das Angebot reicht von Hilfe beim Stellen von Anträgen für Sozialleistungen über Gesundheitsberatung bis zu kulturellen Veranstaltungen. Die médiatrices begleiten auch bei Behördengängen oder geben praktische Hilfe beim Umgang mit Postautomaten und dem Verschicken von Geld ins Ausland. Nach einem Besuch der »Stadtteilmütter« im vergangenen Herbst in Clichy-sous-Bois bieten diese jetzt auch in Neukölln derartige Begleitungen an. Ansonsten unterscheidet sich die Arbeit der Neuköllnerinnen vor allem durch ihren Ansatz einer aufsuchenden Sozialarbeit. Die werdende Stadtteilmutter durchläuft außerdem eine sechsmonatige Qualifizierung, gefolgt von ständiger Weiterbildung als Teil ihrer 30-Stunden-Stelle.
Dieses Konzept verstehen einige der französischen Kolleginnen und Kollegen anfangs nicht, sie hatten eher etwas wie Erziehungsunterricht für Eltern erwartet. »Wir beraten nicht, wir informieren«, erläutert eine Stadtteilmutter. Mehdi Bigaderne ist als Stadtverordneter in Clichy-sous-Bois zuständig für das Vereinswesen und begleitet die Frauen von Arifa. Anerkennend stellt er fest, dass es sich um ein sehr langfristiges Projekt handelt. Ein ganz eigentümliches deutsches Konstrukt bereitet aber nicht nur ihm Verständnisprobleme. »Was heißt ›Migrationshintergrund‹?« will er wissen. »Das ist etwas anders als in Frankreich, den behält man über Generationen«, erklärt Macher. Praktisch konnten sich die médiatrices und die »Stadtteilmütter« bereits einiges voneinander abschauen, trotz der teils großen Unterschiede verstehen sie sich und erkennen Stärken, Schwächen und Grenzen bei sich und dem Gegenüber. Theoretische Konstrukte wie der deutsche »Migrationshintergrund« sowie unterschiedliche Organisa­tionsstrukturen und Finanzierungsmodelle bereiten jedoch manchmal Verständnisprobleme.

Hier ist weitergehende Übersetzungsarbeit notwendig, bei der auch das Institut für Migrations- und Sicherheitsstudien (IMSS) hilft. »Angefangen hat dieser Austausch eher als Projekt zwischen den Stadtteilmüttern und Müttern aus Clichy-sous-Bois, daraus wurde dann die Begegnung der Stadtteilmütter mit den médiatrices von Arifa«, erläutert Dr. Mechthild Baumann. Sie ist Leiterin des IMSS und hat die Zusammenarbeit zwischen Clichy-sous-Bois und Neukölln von den ersten Ideen an mit gestaltet. Sie kennt die Probleme, die ein im Föderalismus agierender Bezirkspolitiker hat, wenn er im zentralistischen Nachbarland sein Pendant finden möchte, wenn an Schulen unterschiedliche Anforderungen an Projekte gestellt werden und wenn für einen »offenen Dialog« bei Polizei und Justiz ganz andere Vorraussetzungen erwartet werden als bei Sozialarbeitern, Pädagogen und Schülern.
Irène Servant vom IMSS übernimmt diese Übersetzungsarbeit zwischen Deutsch und Französisch, zwischen föderalistisch und zentralistisch geprägten Denkweisen und sonstigen unterschiedlichen Konzepten. Etwas wie »Migrationshintergrund« verständlich zu machen, ist eine echte Herausforderung. Der Ethnisierung in Deutschland steht in Frankreich oft eine Haltung gegenüber, die die Existenz von Minderheiten leugnet und nur Bürger kennen will. Damit werden manche Probleme auch unsichtbar gemacht. So berichten die Frauen von Arifa ihren Neuköllner Kolleginnen, wie sie in ihrem Alltag deutliche Unterschiede in den Bedürfnissen aufgrund der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit wahrnehmen: Familien aus dem Maghreb kommen meist wegen einer Beratung für Anträge auf Sozialleistungen, Rente und andere rechtliche Probleme. Bei Menschen mit türkischem Hintergrund seien es ähnliche Themen, hier sei aber vor allem eine Begleitung zu Ämtern aufgrund mangelnder Französisch­kenntnisse nötig, selbst wenn die Betroffenen seit 20 Jahren in Frankreich leben. In der Gesundheitsberatung sei für Menschen aus dem subsaharischen Afrika Tuberkulose häufig ein wichtiges Thema, da die Krankheit nicht nur dort noch öfter anzutreffen ist, sondern sich auch in Clichy-sous-Bois wieder ausbreitet.

Der Austausch zwischen den »Stadtteilmüttern« und den médiatrices geht auch nach dem Ende des ursprünglichen Pilotprojekts weiter und soll neben anderen Arbeitsbereichen, wie Berufsorientierung und Theaterangebote für Jugendliche, fortgeführt werden, gerade weil es so viele Unterschiede gibt, die als Chance gesehen werden, voneinander zu lernen. Die Rundgänge der Austauschgruppe beschränken sich nicht auf den Norden Neuköllns mit seinen vielen Altbauten, der einen Migrantenanteil von 65 Prozent hat, es geht auch in das südliche Viertel Gropiusstadt, das weniger migrantisch und von Hochhäusern geprägt ist. Gropiusstadt alleine hat so viele Einwohner wie Clichy-sous-Bois. Damit enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten. Die Bevölkerung ist im Durchschnitt nicht so arm, die Infrastruktur und das kulturelles Angebot scheinen hier von einer höheren Qualität zu sein. Besonders beeindruckt einige französische Besucherinnen, dass die Fahrstühle in den Hochhäusern zuverlässig funktionieren – das sei in Clichy-sous-Bois nicht selbstverständlich. Auch bei der Besichtigung von Klassenzimmern fallen ihnen die Unterschiede der Ausstattung ins Auge und werden ausführlich diskutiert. Wohl etwas neidisch posieren sie dann vor einem Whiteboard für ein Gruppenfoto.
Abschließend werden in der gediegenen Gutbürgerlichkeit der im Berliner Viertel Grunewald ansässigen Europäischen Akademie die Unterschiede und Anknüpfungspunkte in Workshops herausgearbeitet. »Ziel des Austauschs ist es auch, sich anzugleichen. Dafür brauchen wir Hilfe von außen«, resümiert Zahidé Aslanbuga, Koordinatorin der médiatrices bei Arifa. Für sie war besonders das Gespräch der Stadtteilmutter mit Zekiye erkenntnisreich. Weil sie türkisch sprechen konnten, habe sie alles besser verstanden. Sie meint, dass sie in Clichy-sous-Bois auch so ein Netzwerk bräuchten wie die »Stadtteilmütter«, damit sie Ratsuchende auch weitervermitteln könnten. Ouarda Benarab pflichtet ihr bei: »Wir haben gesehen, wie wichtig es ist, dass wir für einander Werbung machen wie die Stadtteilmütter für andere Beratungsstellen.« Benarab ist Leiterin des Vereins »l’Orange Bleue«, der auch in Clichy-sous-Bois aktiv ist, und begleitet die Delegation von Arifa. Die Bedeutung dieser Verknüpfung von unterschiedlichen Projekten betont auch Isabelle Gamiette, seit zehn Monaten Leiterin von Arifa. Für sie sei es besonders wichtig, dass auch Stadtverordnete bei diesem Austausch dabei sind, weil der Dialog mit Politik, Verwaltung und anderen Organisationen zu den Stärken von »Clichy-sous-Bois trifft Neukölln« gehöre. Für die Zukunft würde sie sich wünschen, die Arbeit ihrer Neuköllner Partnerinnen länger beobachten zu können.
Der mitgereiste Stadtverordnete Bigaderne sieht das ähnlich. Er hat nicht nur die Arbeit der »Stadtteilmütter« kennengelernt, auch die Arbeit der Frauen von Arifa versteht er jetzt besser. Bei der Abschlussrunde sagt er, dass er gerne Ideen des Quartiersmanagements, das er bei diesem Austausch ebenfalls kennenlernen konnte, zu Hause aufgreifen möchte. Bis er jedoch verstanden hat, was »Quartiersmanagement« ist, war einiges an Übersetzungsarbeit erforderlich.
Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf der französischen Seite waren vor allem beeindruckt von der Wertschätzung, die die »Stadtteilmütter« sich über ihren Bezirk hinaus erarbeitet haben. Für Gamiette habe sich schon dafür das ganze Projekt gelohnt, weil dieser Erfolg für sie eine große Motivation sei.