Gentrifizierungskritik und Reformismus

Wohnen und revoltieren

Die regressiven Tendenzen der Gentrifizierungskritik resultieren vor allem aus ihrem Reformismus.
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Die heutige Soziologie besticht durch eine »differenzierte« Sichtweise auf eine immer »komplexer« werdende »Gesellschaft«. Blöd dabei ist nur, dass »Gesellschaft« nichts anderes als System meint, während die beständig wiederholten Schlagworte »komplex« und »differenziert« ausdrücken, dass man eigentlich nichts Gehaltvolles zu sagen hat. Einher geht dies mit dem völligen Verzicht auf ein kritisches, das heißt auf Veränderung gerichtetes Begreifen der bestehenden Verhältnisse. Dass die Welt kein Paradies ist, wird zwar zugestanden, gelegentlich wird sogar »zivilgesellschaftliches Engagement« gutgeheißen, aber das, was aus einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Welt notwendig folgen müsste, nämlich die Verhältnisse in ihrer Totalität in Frage zu stellen, würde wohl als »unwissenschaftlich« angesehen werden. Gepredigt wird daher das »Sich-Zurechtfinden in einer komplexen Welt« oder »Vertrauen«. Vertrauen in die unsichtbare Hand, in Staat und Politik, in die Selbstheilungskräfte des Marktes oder eben in die »Selbstheilungskräfte der Städte«.

Dass mit einer solchen Soziologie die reaktionären Momente der Gentrifizierungskritik, welche die aus dem Kapitalverhältnis resultierenden Zumutungen personalisierend auf einen nicht zur eigenen heimelig-verklärten Kiezgemeinschaft gehörigen äußeren Feind projieziert, nicht zu begreifen sind, versteht sich von selbst. Auch Andreas Thiesen (Jungle World 12/2013) hat dem xenophoben Rückbezug auf den eigenen Kiez lediglich eine nebulöse »Identität (...) als flexible und mehrfach verortete Konstruktion« und eine »Heimat« ohne »physische Grenzen« entgegenzusetzen. In seinem Versuch, die regressiven Tendenzen der Gentrifizierungskritik aufzuzeigen, provoziert Thiesen, wahrscheinlich unfreiwillig, die Frage, ob die vom akademischen Betrieb ausgebildeten und bezahlten Ideologen nicht weit gefährlicher sind als die borniert lokalpatriotischen Kiezverteidiger, die zum Teil selbst in der eigenen Szene auf Kritik und Ablehnung stoßen. Eine solche Gesellschaftstheorie, die sich allzu heimelig im falschen Bestehenden einrichtet, hat polemischen Widerspruch verdient. Dieses Sich-Einrichten, das impliziert, die Welt, wie sie ist, schon irgendwie ganz okay zu finden, erklärt die Frage, wo und wie man lebt und leben will, sowie den sogenannten »Lebensstil« zu einer individuellen »Geschmackssache«, die dann auch noch der »sozialen Position« entgegengestellt wird. Als würden die Verhältnisse die Entwicklung von Individualität und Geschmack zulassen; als wäre der jeweilige Wohnort nicht vor allem dadurch bestimmt, wie viel Miete man zu zahlen vermag.
Der konformistische Geist zeigt sich auch in der Aversion gegen jede Polarisierung und befindet sich damit auf der Höhe der postbürgerlichen Herrschaftsorganisation. Diese organisiert eine ganze Armee aus Sozialpädagogen, Neosozialdemokraten und Sozialwissenschaftlern, die mögliche Konflikte einhegen, neutralisieren oder befrieden sollen. Sozialwissenschaftler fordern zum Beispiel eine »differenziertere Sichtweise«, wenn sich Konflikte aufgrund antagonistischer Interessen zuspitzen. Andreas Thiesen hält eine solche Polarisierung für »bipolar gestört«, weil er ganz richtig ahnt, dass in einer solchen »politischen Pattsituation« der harmonisierende Reformismus an seine Grenzen geraten könnte.
Eine solche ideologische Scheinbefriedung von Konflikten ist aber nicht nur politisch fragwürdig, sie wird sich im Verlauf der kapitalistischen Krise wohl auch als illusionär erweisen. Die objektiven Widersprüche werden sich nämlich, unabhängig von allem falschen Bewusstsein, verschärfen. Das faschistoide Potential, das sich dabei zu entwickeln droht, kann gar nicht ernst genug genommen werden. Sagt man denjenigen, die anfangen, sich zu wehren: »Der Kapitalismus ist viel zu komplex, als dass du verstehen könntest, was der mit deinem Leben zu tun hat«, dann verstärkt dies lediglich die aufgrund der historischen Zurichtung der postbürgerlichen Subjekte notwendig vorhandenen regressiven und konformistischen Tendenzen dieser Revolte. Dass die sozialen Bewegungen, gerade in den stadtpolitischen Initiativen, eine solche resignative Rationalisierungsformel (die freilich selten offen ausgesprochen wird, sich aber des öfteren als Quintessenz von akademischer Theorieproduktion erweist) unfreiwillig bestätigen, macht die Situation nicht besser. Als wäre der Kapitalismus wirklich so komplex, zeigen sie immer wieder, dass sie nichts von der Kritik der politischen Ökonomie verstanden haben, und verhärten sich durch bornierte Kiezromantik und bösartige Feindbildpflege gegen jede Erkenntnis.

Aber auch von den vermeintlich aufgeklärten, tatsächlich vor allem abgeklärten neosozialdemokratischen Gentrifizierungsgegnern ist nicht viel Besseres zu erwarten. Im Schielen auf Kräfteverhältnisse und die Möglichkeit, diese zu verändern, verfestigt sich die Trennung zwischen Strategen, die sich dem herrschenden Politspektakel notwendig anpassen müssen, und denjenigen, die als »Repräsentierte«, durch Propaganda und Mobilisierung in Bewegung gesetzt, in ihrer Unmündigkeit bestärkt werden. Im reformistischen Ausnutzen dieser Spielräume, das sich nicht mehr um das Verhältnis von Sozialreform und Revolution schert, wird verhindert, dass die Widersprüche sich zuspitzen; durch deren Einhegung werden die Massen in Unfreiheit gehalten. Der Reformismus wird, wie Hans-Jürgen Krahl schrieb, »zum herrschaftsstabilisierenden Integrationsinstrument«.
Die aus der ökonomischen Entwicklung resultierenden Verelendungsprozesse werden sich aber vor allem dann durchsetzen, wenn sie reformistisch verschleiert oder bestenfalls verlangsamt werden. Nur wenn die aus der fortschreitenden Krise resultierende Verschlechterung der Lebensbedingungen zur kritischen Reflexion der Verhältnisse führt; wenn die sich entwickelnden Konflikte nicht lediglich zur Racketbildung, zur stumpfen Masse, führen, sondern Erfahrungen über die Verfasstheit der Verhältnisse ermöglichen; wenn darin zudem etwas wie Solidarität und Hoffnung aufscheinen kann, dann ließe sich nicht nur das Schlimmste verhindern; dann könnte sich vielleicht etwas eröffnen, das im emphatischen Sinne Zukunft genannt werden kann. Erzwingen lässt sich ein solcher Lernprozess aber nicht, weder durch Gewalt noch durch ausgefeilte Propagandastrategien. Der kommunistischen Kritik bleibt in ihrer Ohnmacht kaum mehr, als in der Theorie die Vermittlungen von individuellem Elend und gesellschaftlicher Totalität sowie die Möglichkeit des Besseren aufzuzeigen; und dabei zu unterstützen, was sich in diese Richtung bewegt, zu denunzieren, was dem entgegensteht.
Und, falls es notwendig sein sollte, sich gegen die dümmsten Vorurteile zu wehren. Das bedeutet natürlich nicht, dass man seine Hoffnung in das zunehmende Elend der Massen setzen sollte. Die Verelendung führt lediglich zu Konflikten. Und wenn eine kommunistische Revolution heute noch möglich sein sollte, dann nur durch eine theoretisch nicht herleitbare oder planbare Spontaneität der Massen. Niemand, der bei Verstand ist, wird sich deshalb gegen Sozialreformen stellen, die Konflikte befrieden und Menschen das Leben zumindest vorübergehend etwas erleichtern. Nur ist es Aufgabe der Funktionäre und Bürokraten, die sich qua gesellschaftlicher Position um die Aufrechterhaltung der herrschenden Verhältnisse zu sorgen haben, diese »Spielräume« zu finden. Intervenieren sollten radikale Linke in diesem Zusammenhang nur insoweit, als dass sie durch radikale Kritik, die vom konkreten Elend (dem eigenen und dem der Massen) ausgeht und etwas ganz anderes fordert, quasi versehentlich oder nebenbei den Druck erhöhen, »Spielräume« zu finden. Dies verlangt allerdings eine kritische Praxis, die sich nicht auf Theorie beschränkt.

Eine Ausweitung der Versuche, Zwangsumzüge und Wohnungsräumungen zu verhindern, und zwar nicht (nur) durch Verhandlungen am Katzentisch der Macht, sondern durch kollektive und solidarische Aktionen auf der Straße, könnte möglicherweise ein Beispiel für solche praktische Kritik sein. Theoretisch muss dabei der Zusammenhang zwischen solchen Räumungen und dem Verwertungsimperativ des Kapitalismus deutlich gemacht werden, nicht das individuelle Einzelschicksal oder gar die Bösartigkeit der jeweiligen Hausbesitzer im Mittelpunkt stehen. Aber weil es eben doch die individuellen Einzelschicksale sind, die eine Kritik des Ganzen erforderlich machen, können Verhandlungen, solange direkte Aktionen keinen langfristigen Erfolg bringen, auch nicht abstrakt abgelehnt werden.
Verhandlungserfolge sind auch zu begrüßen, weil sie die allgegenwärtige Ohnmacht punktuell durchbrechen und so neue Perspektiven aufzeigen. Ihr Reformismus aber, der die Massen nur als Machtfaktor begreift und auch eine durchgeführte Räumung als Erfolg ansieht, wenn man nur genügend Leute mobilisiert hat, muss in all seinem konterrevolutionären Potential ernst genommen werden. Die ihm innewohnende Überschätzung der eigenen Handlungsfähigkeit verlangt konkrete Feinde, die dem eigenen Erfolg im Wege stehen und anhand deren das bekämpfte Übel propagandistisch personalisiert werden kann. Das realitätstaugliche Zurechtstutzen aber der immer schon konkreten Forderungen verhindert gerade die Entwicklung von wirklich revolutionärem Begehren, das sich gegen diese Realität richtet.