Judith »Jack« Halberstam über »Gaga-Feminismus« und das Ende der Heterosexualität

»Lieber Gaga als Lacan«

Die US-amerikanische Gender-Theoretikerin Judith »Jack« Halberstam befasst sich lieber mit Schauerliteratur, Musikvideos und Comic-Figuren, als die Meistertheo­re­tiker des weißen Mainstreams zu studieren. In ihrem jetzt in den USA erschienenen neuen Buch »Gaga-Feminism« verabschiedet sie die Heteronormativität und feiert einen neuen queeren Anarchismus, als dessen Vorbotin sie die US-amerikanische Popsängerin sieht.

In Ihrem neuem Buch »Gaga Feminism«, aber auch Ihrem vorigen Buch »The Queer Art of Failure«, in dem Sie sich mit Charakteren des popkulturellen Mainstreams wie Lady Gaga und der Comic-Figur Spongebob befassen, zeigt sich eine gewisse Unlust gegenüber den klassischen Formen queerer Theorie und akademischer Kanonisierung. Sie scheinen die Konventionen des akademischen Betriebs stören zu wollen.

Ja, das stimmt. Ich bin sehr gelangweilt von den akademischen Konventionen. Wie Stuart Hall einmal gesagt hat, ist das Problem der Cultural Studies nicht nur das, dass sie institutionalisiert werden, sondern auch eine gewisse Standardisierung des Denkens, Arbeitens und Theoretisierens, die einem als Theoretiker eher etwas bringt als den Leuten auf der Straße. Ähnliches scheint für die Queer Studies zu gelten, die sich mittlerweile auch in einer gewissen Selbstverständlichkeit standardisieren und reproduzieren.
Immer stärker interessiert mich deshalb eine Sprache, die vom queeren Denken kommt, aber nicht nur an Insider und schwul-lesbische Identitäten adressiert ist. Um diese zu erreichen, musst du entweder immer abstrakter werden oder immer allgemeiner, um dann zum Populären vorzudringen.

Sie haben den zweiten Weg gewählt. Was reizt Sie an der Beschäftigung mit dem Populären?

Ein wichtiger Aspekt ist der Humor. Was ich das »Silly Archive« nenne, ist der Versuch, sich gegen eine gewisse Ernsthaftigkeit zu wenden. Die populären Animationsfilme, mit denen ich mich zum Beispiel beschäftige, besitzen Elemente von Utopie oder Kollektivität, ohne sie als solche programmatisch zu verkünden. Mit meinen Analysen von Kinderfilmen versuche ich einen anderen Weg zu gehen als den der endlosen Beschäftigung mit Lacan. Das hat mir gut getan und meinem Schreiben andere Möglichkeiten eröffnet, die ich mit »Gaga Feminism« weiterverfolge. Ich will zugänglicher für ein Publikum sein, aber gleichzeitig Ideen vermitteln, die herausfordernd sind. Es geht mir darum, populäre Formen zu benutzen, um potentiell radikale politische Vorschläge zu machen.

Dabei bedienen Sie sich auch der Form des Manifests.

Die manifestartige Form ist gerade im Zusammenhang mit einer Figur wie Lady Gaga sicher etwas skurril. Ich bin von den Manifesten feministischer Denkerinnen wie dem Scum-Manifest von Valerie Solanas oder dem »Kontrasexuellen Manifest« von Beatriz Preciado genauso inspiriert wie von den neuen manifestartigen Schriften, die nach dem Kollaps des globalen Finanzkapitalismus erschienen sind, etwa Franco »Bifo« Berardis »The Uprising«, und natürlich vom »Kommenden Aufstand« des »Unsichtbaren Komitees«. Mich interessieren wilde, ungezügelte und neue kreative Formen, gemeinsam politisch zu handeln oder gar im wahrsten Sinne des Wortes »gaga zu werden«.

In einem Vortrag haben Sie sich jüngst mit Videos von Jay-Z und Kanye West beschäftigt, in denen es um einen Aufstand geht. Ihnen scheint dieser Hauch von Revolution, der mancherorts in der Luft liegt, sehr wichtig zu sein. Spielt die Erfahrung der »Occupy«-Proteste da auch eine Rolle?

Für mich geht diese Stimmung auf meine Jugend als Punk zurück; sie erinnert mich an die ökonomische Krise der siebziger Jahre – baufällige Häuser in London, Squatting und das Gefühl, keine Zukunft zu haben. Ich denke, dass eine ähnliche Negativität auch heute zum Ausdruck kommt, weil es wieder darum geht, dass ein Leben im Wohlstand nur einer Handvoll Leute vorbehalten zu sein scheint. Deshalb war ich so begeistert von der »Occupy«-Bewegung, auch wenn es mich nervt, dass sie stark auf New York zentriert war. Die Architektur der Wall Street bietet den perfekten Raum zum Demonstrieren. In anderen amerikanischen Städten gibt es diese Voraussetzungen nicht, weshalb es etwa in L. A. darum ging, andere experimentelle Formen des Widerstands wie ästhetische Happenings zu entwickeln. Die queere Künstlerin A. L. Steiner organisierte zum Beispiel einige Flashmobs, bei denen man einfach irgendwo in Downtown mit einer Gruppe interveniert und sich dann wieder auflöst. Diese kleinen Brüche und Störungen sind in Los Angeles wirksamer, weil die Stadt nicht eine so zentralisierte Struktur hat.

Sie haben davon gesprochen, wie wichtig Ihnen die Aktualisierung des Anarchismus ist. Auf welche Strömungen des Anarchismus berufen Sie sich?

Ja, absolut, ich bin fasziniert davon, den Anarchismus zu aktualisieren! Wobei ich einen ganz anderen Anarchismus meine, als den, den viele in Europa im Kopf haben. Das Problem in den USA ist, dass Anarchismus manchmal mit Libertarismus assoziiert wird. Ich meine natürlich nicht die lokale Organisation von militärischen Gruppen, die auf dem Recht beharren, ihr Viertel mit Waffen »zu verteidigen«. Gleichzeitig gibt es derzeit einige interessante Versuche in den USA, die mit der Geschichte der Bürgerrechtsbewegung zu tun haben.

Zum Beispiel?

Shelly Streeby bringt bald das Buch »Global Sensations« heraus, in dem sie multiethnische Bündnisse zwischen verschiedenen anarchistischen Gruppen beleuchtet. Eine interessante Persönlichkeit, mit der sie sich beschäftigt, ist Lucy Parson, eine ehemalige mexikanische Sklavin, die nach den Haymarket-Aufständen 1886, die den 1. Mai als Kampftag der Arbeiterklasse begründeten, eine wichtige Sprecherin des Anarchismus wurde. Oder die Flores Magón Brothers, mexikanische Revolutionäre, die in L. A. lebten und deportiert wurden. Diese Leute hatten wiederum Kontakt mit Emma Goldman und waren Teil eines sich damals entwickelnden anarchistischen Projektes, das nichts mit Pierre-Joseph Proudhun und Michail Bakunin zu tun hatte und in dem es mehr um Kämpfe um Indigenität und Land geht, die mit der Kapitalismuskritik verbunden sind. Weitere erwähnenswerte Personen wären in diesem Zusammenhang Kehaulani Kauanui, Autor von »Hawaian Blood: Colonialism and the Politics of Sovereignity and Indigeneity« und Mohammed A. Bamyeh, der »Anarchy as Order: The History and Future of Civic Humanity« geschrieben hat.

In gewisser Weise feiern Sie aus einer kritischen, queeren, antisozialen Perspektive den Zusammenbruch des Systems, zu dem auch das der heteronormativen Familienstruktur gehört. Andererseits suchen Sie aber auch nach einem neuen Sozialen. Die Geste der Ablehnung reicht Ihnen nicht.

Das ist richtig. Ich suche nach einem neuen sozialen Verhältnis, das die paradoxe Ansage, dass die Antwort auf den Kapitalismus der Kapitalismus ist, nicht mehr akzeptiert. Ich grenze mich aber auch von Leuten wie Slavoj Žižek ab, für die alles, was nicht den großen, gewaltvollen Bruch markiert, nur die Modernisierung des Kapitalismus bedeutet. Diesen Paternalismus linker Meistertheoretiker, in dem alle minoritären Brüche und neuen Erkenntnisse nur die Modernisierung des Kapitalismus bedeuteten, finde ich unproduktiv. Ich merke immer mehr, wie verschieden Wissen in Europa und Amerika verteilt ist. Für mich ist zum Beispiel ein Buch wie »Black Marxism« von Cedric Robinson, das die Formierung des Klassensystems in Europa im Verhältnis zu Weißsein und Kolonialismus diskutiert, welches das farbige Subjekt als revolutionäres Subjekt denkt, eines der wichtigsten Bücher überhaupt. In Europa scheint es eher unbekannt zu sein. Fatima al-Tayeb hat den neuen Rassismus in Europa sehr gut in »European Others – Queering Ethnicity in Postnational Europe« analysiert. Die Zeit, große weiße schwule Autoren wie Oscar Wilde zu hypen, ist aus meiner Sicht vorbei und selbst Teil einer neuen Form von Homonormativität geworden. Der Move von identitären kanonischen schwul-lesbischen Studien zu einer umfassenderen queeren Bewegung für soziale Gerechtigkeit scheint mir viel relevanter.

Lady Gaga ließe sich als eine Protagonistin des Pop bezeichnen, die sich queere Symbole aneignet, um sie in den Mainstream zu integrieren. Sie verstehen Gaga jedoch eher als eine Ikone in der Tradition feministischer Pop-Protagonisten wie Poly Styrene und den Rrriot Girls.

Ich verstehe es, wenn man Gaga sehr kritisch liest: als eine Art neue Madonna der populistischen Aneignung. Mich interessiert Gaga aber weniger als authentisches Subjekt, sondern als Symptom oder Symbol. Das System Gaga stammt für mich nicht nur aus der feministischen Punkgeschichte, sondern vereint auch die Traditionen von Dada und Andy Warhol. Warhol hat auch nie etwas Relevantes zur Bürgerrechtsbewegung gesagt. Er kritisierte auf seine Art die Hochkultur und stellte Bezüge zu einer queeren Club-Kultur her, die er in gewisser Weise zur Kunst machte, er war, wie Gaga, ein Genie des Celebrity-Systems, dessen Pervertierung er gleichermaßen aufzeigte und dem er, wie Gaga, eine subkulturelle Alternativwelt entgegenstellte. Mit meinem Entwurf zu Gaga verbinde ich Figuren wie Yoko Ono, Emma Goldman oder Grace Jones, die ein antisentimentales Interesse an dem Chaos haben, das für mich der symbolische Vorbote des neuen, queeren Anarchismus darstellt.

Ist das nicht ein bisschen revolutionsromantisch?

Diese Bewegungen und Bezüge sind kein Allheilmittel, mit dem wir den Kapitalismus direkt besiegen oder eine neue Welt schaffen können. Ich halte es aber für produktiver, das Potential des produktiven Chaos und die Begeisterung, an etwas Neuem zu arbeiten, aufrechtzuerhalten, als es direkt wieder im systemischen Pessimismus des Besserwissens oder der Geste der erfahrenen, bevormundenden Kritikerin zu ersticken.

Ein Kapitel in Ihrem Buch heißt »The End of the Normal«, ein anderes »The End of Marriage«. Gaga markiert das Ende der Heteronormativität.

Es scheint allmählich eine größere Einigkeit darüber zu bestehen, dass ein bestimmter Modus des Kapitalismus an seine Grenzen kommt und disziplinarische Formen der Macht nicht mehr greifen. Das heißt nicht, dass wir auf dem direkten Weg zu einer besseren Welt wären, immerhin werden alte Formen der Disziplinierung durch neue Formen der Kontrolle ersetzt, während sich gleichzeitig Formen eines schwerer greifbaren Kasinokapitalismus oder Piratenkapitalismus durchsetzen. Offensichtlich werden diese neuen Formen der Macht auch von neuen Formen des Sozialen begleitet, und wenn diese sich von der Heteronormativität abspalten, habe ich vorerst nichts dagegen. Ich glaube, wir haben die Adressierung einer Macht des Normativen erschöpft, und Kritiker wie der afroamerikanische Queer-Theoretiker Rod Ferguson zeigen sehr gut, wie gegenwärtige Formen der Regulierung nicht durch Normierung, sondern durch Diversität funktionieren.
Mein Buch beobachtet diese vielfachen Verschiebungen, insbesondere im Verhältnis zu Gender und Sexualität. Es fragt, ob sich in diesen Verschiebungen nicht auch neue Formen des Sozialen oder Widerständigen eröffnen könnten, während andere, bekannte Formen der Emanzipation sich verschließen. In einem Kapitel spreche ich vom »schwangeren Mann« als paradoxem Symbol, welches den Kollaps des Konzeptes der monogamen Langzeitehe markiert und durch serielle Monogamie oder Hook-up-Kulturen ersetzt wird. Ich verfolge diese Entwicklungen bis zu dem Argument weiter, dass Heterosexualität nicht mehr länger existiert und der wahre Ort der Krise ist.

Ist dies nicht eher ein Phänomen einiger westlichen Metropolen?

Nein, das Ende der Heterosexualität wird immer offensichtlicher, in Europa und den USA, aber auch in anderen Metropolen. Ich denke, dass diese Effekte auf einer Mikroebene auch in anderen Orten und Ländern immer spürbarer werden.

Interview: Tim Stüttgen