Bespricht ein Essay über Orte, an denen man nicht gewesen ist

Grönland von oben

Der französische Psychoanalytiker Pierre Bayard denkt in einem lesenswerten ­Essay darüber nach, wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist.
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Bin ich in Grönland gewesen? Fest steht, dass ich am Nachmittag des 27.  April Grönland in 12 000 Metern Höhe überflogen habe. An diesem Tag saß ich an Bord des Air-Berlin-Flugs AB 1111, der einmal jährlich den Rundflug Berlin/Tegel – Nordpol – Berlin/Tegel bewältigt. Wenn der Pilot die Wahrheit gesagt hat, habe ich Grönland also bei klarster Sicht zwei Stunden lang von oben gesehen. Was die Frage, ob ich schon einmal in Grönland gewesen bin, allerdings höchstens zum Teil beantwortet.
Meine Grönland-Geschichte beginnt nämlich schon etliche Jahre früher. Ein mir bekannter Fotograf bekam den Auftrag, im Rahmen einer kommerziellen Service-Reportage auch noch das Porträt eines außergewöhnlichen Menschen zu schreiben. Eines Sudanesen nämlich, der in Ägypten studiert hatte, nun al s Frauenarzt in der grönländischen Provinz praktizierte und jeden Tag auf denselben Berg hinter seinem Haus stieg. Der Kollege traute sich nicht zu, diese Geschichte zu schreiben. Also stellte er mir seine Bilder und sein Arbeitstagebuch zur Verfügung. In Absprache mit der Redaktion übernahm ich den Auftrag.
Anscheinend gelang er mir ganz gut. Zwei weitere Magazine kauften die Geschichte zum Nachdruck an. Monate später begegnete ich der Redakteurin des Schweizer Magazins, das die Geschichte gekauft hatte. Da wir keine anderen Gesprächsthemen hatten, lenkte sie unsere Unterhaltung schleunigst auf das Thema Grönland. Sie wollte jedes Detail über den Frauenarzt und den Berg wissen. Ob es mir nicht zu kalt war? Und ob ich Stockfisch gegessen hätte? Mir blieben zwei Möglichkeiten: Entweder hätte ich den Schwindel mit einem Lachen auffliegen lassen können. Was ungünstig gewesen wäre, da die Redakteurin mir bereits zwei Folgeaufträge erteilt hatte. Die zweite Möglichkeit bestand darin, mich zu konzentrieren, ihre Fragen zu beantworten und gegebenenfalls ein bisschen zu improvisieren. Ich entschied mich für letzteres. Und es gelang: Mindestens eine Viertelstunde lang sprach ich über einen Ort, an dem ich nicht gewesen bin. So dachte ich jedenfalls damals. Mittlerweile bin ich mir unsicher geworden.
Denn genau zu diesem Themenkomplex ist gerade der Band »Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist« des französischen Literaturprofessors und Psychoanalytikers Pierre Bayard erschienen. Schon seine beiden vorigen Arbeiten, »Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat« und »Freispruch für den Hund der Baskervilles. Hier irrte Sherlock Holmes«, erregten einiges Aufsehen. Nun also stellt Bayard sich und seine Leser vor die Frage, ob man einen Ort gesehen haben muss, um ihn zu kennen, über ihn zu reden oder gar über ihn zu berichten. Was auf den ersten Blick absurd wirkt, wird verständlicher, wenn man bedenkt, dass der »sesshafte Reisende« in Frankreich eine seit Jahrhunderten bestehende literarische Figur ist. Der Begriff beschreibt eine Person, die sich Bayard zufolge »für die Kenntnis anderer Kulturen begeistert, sich jedoch entscheidet, die Welt zu erforschen, indem sie zu Hause bleibt und sich auf ihre Imagination verlässt«.
Als Paradebeispiel dafür kann Immanuel Kant gelten, der sein ganzes Leben lang seine Geburtsstadt Königsberg kaum verließ und der sich nach eigener Aussage so sehr für fremde Länder interessierte, dass ihm die Zeit zum Reisen fehlte. Auch einen Vers von Baudelaire stellt Bayard seinem Essay voran. »Mit welch bitterem Wissen Reisen uns erfüllt«, umschreibt der Dichter das Gefühl, am Ende einer jeden Expedition doch nur mit der beängstigenden Leere seiner eigenen Existenz konfrontiert zu sein.
Wie kann mir all das bei der Klärung der Frage helfen, ob ich in Grönland gewesen bin? Bayard stellt in seinem Essay verschiedene Reisende von Weltrang vor, die deutlich weniger weit gekommen sind, als ihre Werke vorgeben. Einer davon ist Marco Polo. Der Venezianer lebte von 1274 bis 1324 und gilt bis heute als derjenige, der unsere Kenntnis über das mittelalterliche Asien geprägt hat. Allerdings gilt heute als sicher, dass er nie weiter als bis Konstantinopel reiste und seine Bücher auf Erzählungen anderer Handelsreisender basieren.
Der 2011 verstorbene Edouard Glissant schrieb sein Buch »Das magnetische Land« über die Osterinseln. Allerdings ohne seine Wohnung in Paris zu verlassen. Sein gesundheitlicher Zustand erlaubte eine solch aufwendige Reise nicht mehr. Also schickte er seine Frau Sylvie Séma als Stellvertreterin, die ihn mit täglichen Nachrichten und Tagebucheinträgen versorgte, während Glissant selbst sich dem Studium der bereits vorhandenen Literatur über die Osterinseln widmete.
Als weitere Beispiele dienen Bayard François-René de Chateaubriand, der in den erst Jahrzehnte nach den Reisen niedergeschriebenen Berichten über seine Nordamerika-Besuche gern Flussinseln an mehreren Orten auftauchen ließ, die Hunderte von Kilometern auseinander liegen. Oder der von Jules Verne geschaffene Phileas Fogg, der in 80 Tagen um die Welt hetzte und dabei die Schiffskabinen oder Zugabteile so selten wie möglich verließ, um sich durch die Realität nicht von seiner Aufgabe – dem Gewinnen seiner Wette – ablenken zu lassen. Auch mit Karl May argumentiert der Autor. Der bekannteste deutsche Western-Romancier bereiste die USA erst im fortgeschrittenen Alter, nachdem er das Bild der Indianer durch seine Werke grundlegend revidiert hatte. Die Ureinwohner Amerikas waren durch die Arbeit von May nicht mehr gleichzusetzen mit den blutrünstigen Bestien, die sie in Hollywoodfilmen noch Jahrzehnte lang spielen mussten. Stattdessen gab es mit Winnetou einen edlen Humanisten im Genre.
Hat es vielleicht sogar Vorteile, Länder, über die man redet, nicht zu bereisen? Bayard empfiehlt das den Autoren ausdrücklich. Ihre vornehmste Aufgabe bestehe darin, es Lewis Carols Alice gleichzutun und durch den Spiegel zu gehen, auf dessen anderer Seite die Zeit zirkuliert und auch die Räume nicht mehr so angeordnet sein müssen, wie sie es in der Realität sind. Bayard fordert Autoren wie auch Leser auf, sich gemeinsam in eine literarische Wahrheit zu begeben, die sich von der wissenschaftlichen Wahrheit unterscheidet und auf der Nichtbeachtung der traditionellen Kategorien von Raum und Zeit gründet. Wenn das kunstfertig gelingt, könnten Leser und Autor sich gemeinsam in einem phantasmatischen Ort wie dem Nimmerland von Peter Pan wiederfinden, das einst J. M. Barrie erdachte.
Was zur Ausgangsfrage zurückführt: Bin ich in Grönland gewesen? Pierre Bayard würde das vermutlich bejahen. Ich wäre vorsichtiger. Jedenfalls ein bisschen. Wahrscheinlich bin ich mehr in Grönland gewesen, als wenn ich zum Umsteigen für zwei Stunden auf Grönlands Luftkreuzflughafen in Nuuk zwischengelandet wäre. Gelohnt hat es sich auf jeden Fall. Auch wenn Peter Pan gerade eine andere Flugroute bevorzugte.

Pierre Bayard: Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist. Verlag Antje Kunstmann, München 2013. 224 Seiten, 18,95 Euro