Zur Geschichte der Schwulenbewegung

Kämpfe von Gewicht

Jan Feddersen wirft einen anderen Blick auf die Geschichte der Schwulenbewegung.

Dass in der Gegenwart die bürgerrechtlichen Politiken von Homosexuellen wahrgenommen werden und in der Debatte, etwa zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Homo-Ehe, die queere Szene keine Rolle spielt, findet seine Begründung in der langen, in die frühen Jahre der Bundesrepublik reichende Geschichte. Skizzenhaft stellt diese sich so dar: Die Homophilen oder Homosexuellen, die in den fünfziger und sech­ziger Jahren für die Verbesserung der Situation von schwulen Männern warben, taten dies überwiegend im öffentlich Verborgenen; laut werden durften Interessenvertreter von Homosexuellen nicht, sie wären sonst als Schwule, als »warme Brüder« oder als »Hundertfünfundsiebziger« stigmatisiert worden und hätten damit jede Anschlussfähigkeit an die bürgerliche, öffentlich strikt heterosexuelle Welt eingebüßt. Diskursangebote wurden publizistisch und akademisch gemacht, vor allem zur grundsätzlichen Strafbarkeit von Homosexualität. Man wollte Rechte als Minderheit der Homosexuellen, man forderte den Verzicht auf das Verbot gleichgeschlechtlicher Sexualität überhaupt.
Ein Gemeinsames im politischen, gesellschaft­lichen Sinne gab es lediglich in dieser Weise. Es ging nicht um die Erweiterung von Rechten, sondern zunächst um die Tilgung von Sonderrechtsbestimmungen, also die Streichung von Paragraphen, um ein bürgerliches Leben als Homosexueller erst möglich zu machen. »Bürgerlich« als Wort meint zwar zunächst stets den Status einer Person – als Citoyen, als Bürger eines Staates, ausgestattet mit Rechten, die für diesen wie für für alle anderen Bürger auch gelten. In Abgrenzung dazu avancierte das Wort »bürgerlich« in den Siebzigern nicht nur in der Schwulenbewegung, sondern in der alternativen Szene der Nachachtundsechziger generell zum Kampfbegriff der alles zu umfassen beanspruchte, was lebensweltlich auf ein Verhaftetsein im Bestehenden verwies. Ob sich der Hass auf das Bürgerliche aus den Lebensreformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, aus den in den Jahren vor dem Nationalsozialismus kultivierten antibürgerlichen Allüren oder aus dem Geist der linken, marxistisch orientierten Bewegung speiste: Bürgerlich zu sein, war ein problematischer, ja zu kritisierender Zustand. Bürgerlich, so gesehen, hatte von den frühen siebziger Jahren an einen Klang, der seiner demokratietheoretischen Färbung entkleidet war und den (im Vergleich mit feudalen Gesellschaftsverhältnissen) historischen Zugewinn, den das Bürgertum bedeutete, unterschlug.
Queer in einem weit verstandenen Sinne waren jedoch die Gesellungsformen von Homosexuellen, von Menschen, die jedenfalls nicht der damals noch hartleibig geltenden heterosexuellen Norm genügten. Wer sich die Literatur zu Schwulen und Lesben der Nachkriegszeit anschaut, entdeckt eine Fülle von fotografischen Belegen, die vor allem auf dies hinweisen: Das Spiel mit Geschlechterrollen war nicht erst mit der Tunte, der Ikone der Schwulenbewegung der siebziger Jahre, erfunden worden, sondern existierte in den Gefilden schwuler und auch lesbischer Subkulturen und war vollständig integriert. Aufschlussreich ist etwa das Kompen­dium »Tuntenstreit« (1975), in dem es um den queeren Gehalt des Marxismus ging, um Haupt- und Nebenwidersprüche, um die Frage, ob die sogenannte Schwulenfrage erst im Sozialismus auf der Tagesordnung stehen könnte bzw. sie mit diesem erledigt sei; implizit ist die Figur der Tunte als Beispiel anderer Männlichkeit stets mitgedacht worden.
Queer zu leben, also die alltagspraktischen Versuche, im Widerspruch zu den traditionellen Bildern und Praktiken von Männlichkeit wie Weiblichkeit, sexuellen Einschreibungen und Performanzen, zu leben, war in den Welten von Homosexuellen stets üblich, wenn auch nicht in öffentlicher und für die Mehrheitsgesellschaft sichtbaren Weise. Diese Praktiken fanden ihre »Aquarien« im Underground, in Kellerbars, in vor allem bohemistisch inspirierten Kneipen, wie sie etwa Hubert Fichte in den sechziger Jahren beschrieben hat. Lange Zeit bevor eine organisierte Leder- und Fetischszene in der Bundesrepublik existieren konnte, waren Lederkerle in schwulen Öffentlichkeiten zu sehen, allerdings damals nur einen Barhocker entfernt von einem weiblich aufgefummelten Mann oder einem an die Normen der westdeutschen Angestelltenwelt angepassten Mann. Homo­sexuelle sortierten sich nach ihren persönlichen Labels erst lange Zeit, nachdem der Naziparagraph 175 abgeschafft war. Salopp formuliert ließe sich sagen: Die schwule Minderheit verfügte, ihrer Verfolgungssituation angemessen, über eine noch schwache Infrastruktur. Wer Kellerkneipen besuchte, konnte stilistisch kaum wählerisch sein. Queere Bewusstseinsformen mussten dominant bleiben: Der Schwule, die Lesbe – identitär, sich von anderen abschließend, waren sie in gewisser Weise noch work in progress. In welchen Textilitäten man einander begegnete, musste einerlei sein. Begegnete man sich an einschlägigen Orten, war ohnehin alles klar.
Ob aus all diesen Oberflächen, den historischen, den aktuellen, ein politisch-analytischer Gewinn gezogen werden kann, ist fraglich. Denn was einem Schwulen geziemt, wie er zu sein hat, leben könnte, ob angepasst oder radikal abgehoben von der Mehrheit anderer Bürger, ist eine Frage, die, so lässt sich historisch belegen, die Minderheit der nichtheterosexuellen Erwachsenen beschäftigt, seit Homosexu­elle mit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Bühne der bürgerlichen Aufmerksamkeit betreten haben. Die wichtigste Aussage zu allen Debatten um das, was Homosexuelle sind, hat Martin Dannecker, der wohl wichtigste deutsche Homosexualitätsforscher der Zeit nach 1969, im Jahre 1978 formuliert: »Es kann gegenwärtig um nichts anderes gehen als darum, gesellschaftliche Bedingungen herzustellen, die es mehr Homosexuellen ermöglichen, das zu werden, was die Homosexualität selbst nicht verhindert.« Was also Schwule und Lesben sind, hängt stets von den Umständen ab, in denen sie leben und die sie mitprägen – ein Objektives existiert nicht. Jede positive Bestimmung dessen, was zur sexual otherness zählt, führt also prinzipiell in die Irre. Was normal ist, um diese fragwürdige Vokabel zu verwenden, ist umkämpft – und das, was da umstritten ist, seinen Inhalt nach auch.
Danneckers Befund jedoch blamierte alle Mühen nachfolgender queerer Generationen, eine Homonormativität zu begründen: sei es als angepasster Homosexueller oder als »queere« Figur, die äußerlich im Vagen lässt, ob sie ein Mann oder eine Frau ist oder sein könnte. Die Schwulenbewegung, deren Tradition Dannecker Ende der sechziger Jahre mitbegründete, postulierte auch einen Anspruch auf »warmes Leben« – ein gewöhnlicher Homosexueller zu sein, sollte nicht reichen. Warm zu leben war das Konzept schlechthin, das als politisches galt. Nicht: gleiche Rechte für gleiche Bürger zu erobern. Allein: Die allermeisten Schwulen wollten nach der Aufhebung der aus dem Nationalsozialismus stammenden Fassung des Paragraphen 175 nichts anderes, als ohne Strafandrohung im Grundsätzlichen ein Leben als homosexuell Begehrende zu führen.
Mehr noch: Das, was die Schwulenbewegung forderte, ging möglicherweise vollständig an den Gefühlen und Interessen der Mehrheit der Homosexuellen selbst vorbei. Die durch Rosa von Praunheims Film »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt« gestiftete Schwulenbewegung kam zwar einer ungeheuren Provokation gleich – sie wollte offen sprechen über alles, was bis dahin zu beschweigen war. Jene, die sie verschreckte, trugen an privaten Umständen, in denen öffentliche Sichtbarkeit – sich auch in ihren Familien, im Arbeitsumfeld, im Freizeitbereich außerhalb der schwulen Szene als Homosexuelle zu »outen« – fast absurd wirken musste. Die Schwulenbewegung, die sich auch so nannte, also nicht »gay«, »homophil« oder »gleichgeschlechtlich«, war in der überwiegend ängstlich sich versteckenden Community hochumstritten: Man dürfe nicht das Wort benutzen, das gegen Homosexuelle schmähend verwendet werde. Gerade in der Umcodierung der herabsetzenden Chiffre liege jedoch – so die Vertreter der Schwulenbewegung – ihre politische Kraft: Schwule sollten nicht mehr so tun, als seien sie etwas anderes als das, was man von ihnen behauptet: Arschficker, Hinterlader, Verkehrte. Durch die Provokation, so das Kalkül von Praunheim und Dannecker, erreiche man ein stärkeres Maß an Souveränität – eine Sprache, die auf die Beschönigung dessen setzt, was vom Schwulen weithin gedacht werde, lähme die konfrontative Auseinandersetzung.
Daraus ergibt sich eine Frages, die der näheren Erforschung harrt: Enstammten die Protagonisten und Interpreten der bundesdeutschen Schwulenbewegung nicht in erster Linie dem studentischen Milieu, konnten sie in ihren universitären Zusammenhängen ausprobieren, was ihnen zu realisieren jenseits dieser geschützten Reservate nicht möglich war? Konnten diese Schwulenbewegten – klassisch über die bildungsbürgerlichen, in jener Zeit stark bohemistisch affizierten Schichten oder über die Familien, die von den Bildungsreformen der sechziger Jahre profitierten, rekrutiert – pro­vokant agieren, weil sie es in relativ geschützten Räumen anstellten?
Auffällig ist jedenfalls, dass die veröffentlichte Meinung zur Schwulenbewegung vor allem jene studentisch geprägten Strömungen rezipierten – und die in den späten siebziger Jahren sichtbar werdenden Keime einer sogenannten Bürgerrechtspolitik weitgehend ignorierten. Buchstäblich alle berufsständischen Interessensgruppen von schwulen Männern wurden schon in diesen Jahren gegründet, etwa die Lehrergruppen innerhalb der Gewerkschaft GEW und die Initiativen in der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherung, auch die spätere in der Gewerkschaft Verdi gebündelten Projekte nahmen ihren Ausgangspunkt in diesen Jahren. 1977 setzte sich die Gruppe »Homosexuelle und Kirche« durch ihr Engagement auf dem Evangelischen Kirchentag in Berlin selbst auf die Tagesordnung dieses Events. Damals wirkte die bloße Präsenz provokant.
Am deutlichsten sichtbar wurden Homosexuelle durch die Verfilmung des Romans »Die Konsequenz« von Alexander Ziegler durch Wolfgang Petersen – 1977 ein ARD-Fernsehereignis sondergleichen, bei dem sich der Bayerische Rundfunk ausschaltete: Ein, ironisch verstanden, nützlicher Skandal für die Schwulenbewegung, denn es zeigten sich (heterosexuelle) Intellektuelle erstmals bei einer kulturellen Gelegenheit mit den Kritikern dieser bajuwarischen Zensur, also faktisch mit Schwulem schlechthin, solidarisch. Auch hier, bei diesem aus heutiger Sicht eher ehrpusselig-schüchternen Film, ging es nicht um das ganz andere schwule Leben. Für den heterosexuellen Mainstream war Schwules das Andere, Fremde schlechthin, das allenfalls zu tolerieren war. Kurzum: Der Diskurs handelte weniger von Aktivitäten mancher Gruppen in Sachen »Tuntenstreit«, vom queer acting oder von der grundsätzlichen Distanz zur bürgerlichen Welt, sondern von der fundamentalen Aussichtslosigkeit, in dieser überhaupt mitzumischen.
Durchaus in Abgrenzung zur autonomen Homosexuellenbewegung gründeten sich schwullesbische Gruppen in den neu entstehenden grünalternativen Wahlbündnissen. Die erste kommunalpolitische Performance von Homo­sexuellen fand im Gefolge der Gründung der Bunten Liste/Wehrt Euch (später: Bündnis 90/Die Grünen) 1978 statt – mit einem eigenen Programmteil für diese linksalternative Formation zu den Hamburger Bürgerschaftswahlen (zum Landesparlament). Die Zäsur in jenen Jahren der Bewegung war jedoch 1980 die sogenannte Bonner Beethovenhallenveranstaltung. In diese größte Halle der damaligen Bundeshauptstadt hatten Mitglieder von Schwulengruppen aus Hamburg, Berlin und Köln Vertreter von Parteien eingeladen, auf dass diese sich zu politischen Anliegen Homosexueller äußern – ablehnend oder zustimmend. Nicht ging es um schwule Lebensentwürfe jenseits aller bürgerlichen Welten, sondern um die Bündnisfähigkeit in politischen Organisationen, mit dem Soziologen Niklas Luhmann ­gesprochen, um Anschlussfähigkeit über das eigene Soziotop hinaus. Das Ziel: dass Rechte Homosexueller ein Forum und eine reale Chance auf Durchsetzung erhalten; Gehör finden und die Legitimität der eigenen Ansprüche anmelden. Was sie einte, war der Anspruch, in ihren politischen und gesellschaftlichen Formationen präsent zu sein – und darauf hinzuwirken, dass die politischen Interessen Homosexueller in der Politik dieser Parteien Geltung bekommen. Informelle schwule Kreise innerhalb der FDP gab es bereits Ende der sechziger Jahre. Die erste parteipolitische Gründung eines offen schwulen Bereichs gab es bei den Grünen (zunächst: Alternativen und Bunten Listen) Ende der siebziger Jahre. Die Arbeit der Schwusos (schwule Sozialdemokraten) begann 1979, im gleichen Jahr wie die der Schwulen der DKP (Demokratische Schwuleninitiave, Desi, später Demokratische Schwulen- und Lesbeninitiative). Homosexuelle in der CDU und CSU begannen erst in den neunziger Jahren mit zunächst losen Formen der innerparteilichen Selbstorganisation – in privaten Zirkeln trafen sie sich freilich schon in den frühen Siebzigern.
Um 1980 fand ein Abschied statt von reiner Selbstbezüglichkeit und Phantasien, man könne sich außerhalb der wirklichen Welt ein eigenes warmes Nest bauen. Das, was Schwule öffentlich taten, fand bis zu diesem Zeitpunkt meist so gut wie keine Resonanz in den Diskursen der (heterosexuellen) Mehrheit – Schwule machten ihr Ding, die anderen interessierten sich nicht. Jenseits des Politischen jedoch entwickelten sich aus parteifernen, ja gelegentlich parteifeindlichen Teilen der Bewegung Projekte, etwa schwule Buchläden und Cafés.
Einen erheblichen Schub – einen kaum krasser denkbaren Realitätsschocks – erhielt die Schwulenbewegung schließlich Mitte der achtziger Jahre durch die Aids-Epidemie. Schwules war plötzlich das gesellschaftliche Thema überhaupt – als Gefahr, der sich die heterosexuelle Mehrheit erwehren müsse, vor allem aber als gigantische Selbsthilfebewegung (überwiegend) von Schwulen selbst. Aids avancierte zur Chiffre des Erfolgs der Schwulenbewegten schlechthin – und man hatte endlich einen auch öffentlich identifizierbaren Feind: Peter Gauweiler von der CSU, auch Medien wie der Spiegel.
Die ersten Demonstrationen Homosexueller im bewussten Anschluss an die US-amerikanische Homosexuellenbewegung fanden zwar bereits 1980 statt (Bremen, Berlin), aber Ende der achtziger Jahre wurden es wesentlich mehr. Als Erfolg muss unbedingt notiert werden, dass sich inzwischen keine Stadt mehr erlauben kann, einer solchen Parade nicht durch ihre politischen Repräsentanten ihren Respekt zu erweisen. Diese massenmobilisierenden Paraden – in Deutschland weithin bekannt unter dem Kürzel CSD – wurden zu politischen Catwalks für Homosexuelle, die dort erstmals ihr Going-public probierten. Interessant ist die Frage, ob die Aids-Bewegung mit dazu beigetragen hat, die Schwulenbewegung von ihren studentisch-akademischen Beschränkungen im Sinne bohemistischer Ekstasen zu befreien: Auf den CSD-Paraden (Berlin, Köln, später Hamburg, Frankfurt am Main, München und viele andere Städte bis in die heutigen Tage) wurde von Jahr zu Jahr mehr der Durchschnitt homosexueller Klassenlagen repräsentiert.
Vielleicht hatte dieser Erfolg der Aids-Bewegung in der Bundesrepublik, der seitens der in ihr Tätigen vor allem einer schwuler Aufmerksamkeit war, auch mit einem Wechsel der Generationen zu tun. Waren es möglicherweise nun vor allem schwule Männer, deren Eltern in der Nachkriegszeit geboren wurden und die nicht mehr so heftig homophob geprägt waren? Anders gefragt: War demgegenüber die Schwulenbewegung, die durch Rosa von Praunheims Film »Nicht der Homosexuelle ist pervers...« ins Leben gerufen wurde, noch eine von Aktivisten, die den bis 1969 geltenden Naziparagraphen noch in der Haut trugen und entsprechend lautstark performen mussten – quasi in der hysterischen Tonlage der performativ ge­feierten Selbstbefreiung?
War, erweitert gefragt, die Homosexuellenbewegung, die schließlich Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger begann, sich auf Einflussnahmen zu verlegen, die innerhalb wie außerhalb von Parteien gemeinsam wirken sollen, eine, deren Protagonisten gerade mit den Performanzen des Queeren, gerade jenen aus den frühen Siebzigern, persönlich nichts anfangen konnten? Was ist, wenn das queer acting, anders als Judith Butler meint, keinen Konsens innerhalb der Bewegung aller nicht heterosexuellen Begehrensformen stiftet? Wenn also der Erfolg aller politischen Mühen seit der Tilgung des Paragraphen 175 von seinem nationalsozialistischen Gehalt darauf fußte, dass alle, die an diesen Mühen beteiligt waren, gerade darauf verzichteten, ihre über das Anderssexuelle hinausgehenden Programmatiken zu betonen? Denn meiner Meinung nach kann nicht ernsthaft bestritten werden, dass das gewöhnliche Leben von Nichtheterosexuellen erheblich besser geworden ist – also die von Dannecker so genannten »gesellschaftlichen Bedingungen« wesentlich lockerer geworden sind. Die auch durch Schwule und Lesben beförderte Liberalisierung der bürgerlichen Gesellschaft hat dazu geführt, dass sexuelle Minderheiten in Ländern wie der Bundesrepublik ein vergleichsweise unbehelligtes Leben führen können.
Der Topos vom »gewöhnlichen Homosexuellen«, wie er von Martin Dannecker und Reimut Reiche (1974) so spektakulär wie identitätsstiftend ins Wahrnehmungsfeld gerückt wurde, suggeriert bis heute einen Verrat am kollektiven Ideal des offenen Schwulen. In Wahrheit beabsichtigten beide Wissenschaftler, eine Empirie vom Homosexuellen und seinem Leben auszubreiten, die darauf verzichtet, den Homosexuellen zu beschreiben, wie er sein könnte, sondern ihn beschreibt, wie er ist. Fast ebenso eindrücklich liest sich die Untersuchung von Hans-Peter Buba und László Vaskovics, »Benachteiligung gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare«, die 1997 im Auftrag der schwarz-gelben Regierung unter Helmut Kohl zu ergründen suchte, was Homosexuelle eigentlich wollen. Resultat: das Gleiche wie Heterosexuelle auch – ein zufriedenes, ungestörtes Leben, so die Befragten. Darüber hinaus fanden die Autoren dieser aufwendig empirisch erhobenen Studie heraus, dass sämtliche Annahmen der schwulen Szene, Homosexuelle lehnten die Ehe ab, seien sexuell überdurchschnittlich promisk, nichts mit der Realität zu tun hatten. Die Werte, die die Befragten vertraten, unterschieden sich kaum von denen Heterosexueller: In Partnerschaften und Ehen komme es auf Treue und Verlässlichkeit an – und sie wird angestrebt von fast 100 Prozent der Befragten. Bezeichnenderweise ist diese Studie in den queeren Zirkeln der schwulen und lesbischen Communities nie ausführlich rezipiert worden.
Eine queer politic, der das nicht genug ist, die also ihre Bewegungsvorstellung an die Transzendenz der bürgerlichen Gesellschaft schlechthin knüpft, verkennt offensichtlich, dass sich die Vorstellungen von dem, was bürgerlich ist und was nicht, bis weit in konservative Milieus der Bundesrepublik (wie überhaupt der westlichen Welt) erweitert haben. Mit einem heterosexuellen Beispiel illustriert: Ein Bundespräsident wie Joachim Gauck wäre vor zwei Genera­tionen noch undenkbar gewesen – zusammenlebend mit einer Frau, aber ohne Trauschein.
Und bei der Mehrheit der Homosexuellen verfingen diese Phantasien vom ganz und gar anderen schwulen Leben schon deshalb nicht, weil sie anstrengend schienen – und weil der Grad an sexueller Promiskuität unter schwulen Männern so antibürgerlich verbreitet scheint, dass man dafür nun kein besonderes Konzept brauchte. Das queere Leben ist eine Privatsache und spielte für die Politik jener Engagierten, die mehr als Performativität wollten, sondern vielmehr Anschlussfähigkeit an den (heterosexuellen) Mainstream, keine tragende Rolle. Es ist möglicherweise sogar ein Privileg von lockeren bürgerlichen Verhältnissen, dass die meisten leben können, wie sie wollen, jedenfalls unter schwulen, lesbischen oder sonstwie nichtheterosexuellen Verhältnissen.
Anders als die Szene in den frühen Siebzigern dachte, ist das Drama des Homosexuellen nicht mehr so grell ausgeleuchtet: Du bist schwul? So what?
Vorstellungen, wie sie in queerpolitischen Milieus gehegt werden, denen zufolge die Weiterungen des bürgerlichen Mainstreams seit den siebziger Jahren lediglich den weißen, erfolgreichen, faktisch neoliberalen Männern zugute gekommen seien, entsprechen möglicherweise einem Narrativ, typischerweise beheimatet in theoretisch linken Zusammenhängen, das nie von Fortschritten erzählt, sondern stets das Unzulängliche betont. Tatsächlich scheint nichts mehr aus dem libertären Konsens des »Du darfst« wirklich herauszufallen – mit einer Einschränkung, dem Verbot, auch nur phantasmatisch von pädosexuellem Begehren zu berichten. Alles sonst kann sein: Fetische jedweder Provenienz können in entsprechenden Nischen gelebt werden – Nischen müssen sie deshalb genannt werden, weil etwa sado­masochistische Praktiken nicht besonders populär sind und auf die überlokale Organisa­tion in Clubs und Kellern angewiesen sind.
Queere Praktiken, die sich auf Performances im textilen Bereich verlegen, sind längst in den Reklamewelten angekommen: Mary, die Travestiekünstlerin, unverdächtig, eine besondere Politik zu verfolgen, konnte gar schon für Marmelade Werbung machen. Männer, die wie Frauen aussehen, sind im Fernsehen weithin akzeptierte Figuren – etwa Lilo Wanders oder auch Olivia Jones, zwei Travestiekünstlerinnen, die allerdings auch das Bild vom Homosexuellen aufzuladen halfen. Homosexuelle Männer seien, so das gängige Klischee, besonders sensibel, ja, flamboyant und flippig. Das sind natürlich Medienbilder, es sind Einschreibungen, die wiederum zunächst einmal die Eingeschriebenen selbst in Rollen treiben, ja, sie unter Zwang setzen, sich von ihnen zu distanzieren oder sich ihnen zu ergeben.
Wenn »queer« allerdings als politische Formel verstanden wird, die ein Agieren (acting) daran knüpft, im Anderssexuellen das ganz Andere zum Bürgerlichen zu erkennen und das Homosexuelle lediglich als Moment des Dissidenten zu nehmen, heißt das – nähme er oder sie dieses Identitätsangebot auch politisch ernst –, auch auf allen anderen Feldern politischer Kritik oppositionell zu leben: also globalisierungskritisch zu sein, gegen Rassismus aufzutreten, gegen die Geschlechterdichotomie zu sein und ohnehin gegen jede Form von Diskriminierung und Benachteiligung. Das hieße, Homosexuelle würden sich nicht mehr als Homosexuelle engagieren, sondern als Menschen gegen das Schlechte an und für sich.
Ins Auge sticht vor allem ein Detail in dieser Strategie. Sie brächte das spezifisch Homosexuelle, die nicht tilgbare Differenz zum gewöhnlichen Verständnis von Heterosexualität, zum Verschwinden: dass Schwule und Lesben nun einmal – auch, nicht nur! – anders sind; dass ihr Begehren andere Voraussetzungen hat. Das wäre jedoch eine Auslöschung der politischen Subjektivität Homosexueller. Das politische Engagement von schwulen Männern oder lesbischen Frauen (in feministischen Zusammenhängen) nur dann für legitim zu halten, wenn diese ihre bürgerrechtlichen Forderungen im anderssexuellen Bereich in einen erweiterten Kanon politischer Wunschkataloge einbringen, verfehlt den Fortschritt der Schwulenbewegung überhaupt. Linke, ob realsozialistischer Provenienz oder linksradikaler Prägung, schoben die Forderung der Homosexuellenbewegung stets in den Bereich der Nebenwidersprüche; Rechte (Konservative, christliche Gruppen) wiesen Forderungen im Sinne ihrer fixen Idee der Konstitution heterosexueller Dauernaturhaftigkeit als widernatürlich zurück. Sie alle sind durch die Fülle an Bewegungen zugunsten nichtheterosexueller Sichtbar- und Rechtlichkeiten dementiert worden.
Das, was vor allem die Protagonisten der Schwulenbewegung der frühen Siebziger programmatisch verkörperten – Mach dein Schwulsein öffentlich!, Lebe wärmer!, Bring’ die kapi­talistischen Verhältnisse zum Tanzen – ist in gewisser Hinsicht tatsächlich queer in Erfüllung gegangen. Das Spiel mit Geschlechterrollen scheint weniger illegitim als vor einem halben Jahrhundert. Der Kapitalismus hat von der Aufweichung der soldatisch-männlichen Verhältnisse stark profitiert. Aber: Dass schwul zu sein ein nach wie vor beschämend zu beschweigender Zustand ist, legen die häufiger aufflammenden Debatten um das sogenannte Outing nahe. Jemanden als schwul zu bezeichnen, wird immer noch als abwegig behandelt – als ob die Benennung einer Person als homosexuell begehrend einem moralischen Delikt gleichkommt. Das wärmere Leben hin­gegen ist eine Möglichkeit geworden – wer will, könnte es probieren. Aber es als politisches Instrument, ja, als Haltung im Politischen zu verkaufen, geht fehl.
Hinter diesem Anspruch verbirgt sich am Ende lediglich die Phantasie, es im Persönlichen mit einem geschützten Reservat zu probieren. Doch alle politisch messbaren Erfolge der gewöhnlichen »Queeren« sind gegen die Protagonisten der Schwulenbewegung von einst errungen worden – etwa durch Organisationen wie den LSVD, der gegen beinah jede linke, akademische Homoszene seit Beginn der frühen neunziger Jahre die Debatte um Familie und Ehe ausgeweitet und tatsächlich zum Tanzen gebracht hat. Mit anderen Worten: Die Schritt für Schritt begonnene rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung von »sexuell Anderen« ist von Gruppen und Organisationen bewirkt worden, die sich ausdrücklich nicht auf queere oder radikale Ideen bezogen.
Queer Acting als politische Strategie der barrikadenhaften Dissidenz ist im Sinne seiner Theorie insofern erfolglos geblieben. Wohl aber war sie als Strategie des Bürgerrechtlichen erfolgreich: sich auf allen Ebenen dafür zu verwenden, das Anderssexuelle nicht mehr aus dem öffentlichen Bewusstsein treiben zu lassen. Queer ist möglicherweise eine allzu weiche Kategorie, um politisch etwas erreichen zu können. Sie hat zu gewissen Zeiten aus jeder »Tunte« eine Guerillera gegen die traditionelle Enge von Lebensverhältnissen gemacht – und ihr Dasein als Mann, der weibliche Textilien trägt, war die Waffe nötiger Irritationen.
Aber ist nicht vor allem jeder und jede queer, der im Privatesten sein Schwulsein, ihr Lesbischsein nicht als Teil von Beschämung lebt – sondern als unverzichtbaren Teil der eigenen Person und als solche in allen persönlichen Netzen, in denen er oder sie sich bewegen möchte?

Die komplette Fassung des Textes erscheint in dem Ende Juli erscheinenden Buch »queer.macht.politik«, herausgegeben von Barbara Höll, Klaus Lederer und Bodo Niendel, im Verlag Männerschwarm.