Über den Zustand der AKP

Sommer der ­Freiheit

Warum der Türkei kein »Frühling« bevorsteht.

Die türkischen Bürgerinnen und Bürger, die in den vergangenen Wochen auf die Straße gegangen sind, hatten nicht die Absicht, fast eine Mil­lion Sicherheitskräfte und loyale AKP-Unterstützer militärisch zu besiegen und damit einen demokratisch gewählten, aber undemokratisch agierenden Ministerpräsidenten zu stürzen. Die Protestierenden wünschten sich, dass die Regierung aufhört, die Menschen einzuschüchtern, und sie lehnen die von ihr propagierten konservativen und religiösen Werte ab. Diese jungen Menschen kämpfen – oder, um es präziser zu formulieren – setzen sich mit der Polizeigewalt auseinander, nicht, um einen Rücktritt von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan zu erzwingen, sondern mit der Forderung nach mehr Freiheiten, vor allem der Freiheit von der Religion. Umfragen, die unter den Demonstrierenden durchgeführt worden sind, etwa durch das Konda-Institut, zeigen, dass diese Proteste sich nicht gegen »den Islam« richten, sondern Ausdruck einer weit verbreiteten Stimmung gegen Erdoğans Islamismus sind. Erdoğan hatte erklärt, sein Ziel sei es, »fromme Generationen (von Muslimen) heranwachsen zu lassen«, er ließ den Konsum und Verkauf von Alkohol einschränken und beschrieb jeden, der öfter als »ein- oder zweimal im Jahr« trinkt, als einen »Alkoholiker«. Das Alkohol-Gesetz war für viele Leute der ausschlaggebende Grund, gegen den Autoritarismus des Ministerpräsidenten auf die Straße zu gehen.
Unter den Protestierenden sind Frauen, die Kopftücher tragen, frühere AKP-Wähler, eine religiöse, aber linke Gruppe namens »antikapitalistische Muslime«, die Seite an Seite mit Atheisten und Nichtmuslimen demonstrieren. Das ist eine bunte Mischung verschiedener Ideologien, bei denen die säkulare vorherrschend ist. Dem Konda-Institut zufolge haben 41 Prozent der Protestierenden bei den Parlamentswahlen 2011 die säkulare Oppositionspartei CHP gewählt. Die meisten gehören aber zu keiner politischen Organisation und fast ein Drittel von ihnen weiß nicht, für wen sie stimmen würden, wenn heute Wahlen wären.
Wenn die Protestbewegung stärker wird, könnte dies der CHP womöglich eher schaden als nutzen, denn eine stärkere Bewegung würde Sorgen vieler türkischer Wählerinnen und Wähler vor dem Erstarken des Säkularismus auslösen. Es ist derzeit also fraglich, ob der »türkische Sommer der Freiheit« die Ergebnisse der Kommunal- und Präsidentschaftswahlen 2014 sowie der Parlamentswahlen 2015 beeinflussen wird.
Interessanterweise achten die Protestierenden bislang penibel darauf, sich von jeglicher orga­nisierter Opposition, inklusive der CHP, fernzuhalten. Auch gab es bisher keine Andeutung, eine neue politische Partei oder Organisation zu gründen. Die Protestierenden waren vor der brutalen Räumung des Gezi-Parks am Wochenende nicht einmal genügend organisiert, um zu entscheiden, ob man den Park verlassen und wie es weitergehen soll. Einig ist man sich jedoch darüber, dass der Protest weitergehen soll, bis Erdoğan versteht, dass er nicht alle in fromme Muslime verwandeln kann. Unter ihnen sind Schwule, Lesben, Nationalisten, Kemalisten, Umweltaktivisten, Kurden, Alewiten und Gewerkschafter, die in unterschiedlichster Weise die kemalistische Idee vertreten. Aber die Mehrheit vertritt eine reformierte Version des Kemalismus: säkular, aber nicht säkularistisch.
Die AKP wurde geschüttelt, aber nicht gerührt. Interner Dissens ist extrem selten, und die wenigen kritischen Abgeordneten werden bei den nächsten Wahlen mit Sicherheit nicht auf der Kandidatenliste stehen. Erdoğan bleibt noch der unbestrittene Machthaber, obwohl er zum ersten Mal seit seiner Machtübernahme Zeichen der Nervosität zeigt. Nicht nur das: Sein Plan, die Verfassung so zu ändern, dass er zum neuen exekutiven Staatspräsidenten gewählt werden kann, ist entscheidend gestört worden. Er wird politisch überleben, aber gegen seinen islamistischen Kampf hat sich eine neue Front eröffnet.

Der Autor ist Kolumnist der »Hürriyet Daily News«.
Aus dem Englischen von Federica Matteoni